Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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Markus im Wald

Wenn auch Markus nun von dem finsteren, launenhaften Wesen abließ, so war er doch noch nicht so weit, der frühere, helle, wenn auch ernste Mensch zu sein. Er schaffte sein Bauerntagwerk hurtig und ohne Unterlaß, aber man spürte nicht heraus, daß viel Freude und Stolz dabei waren. Er hätte planen, Neues beginnen, manches ändern müssen. Sixta riet, in einem lichten, sonnenreichen Tälchen, das gegen Süden lag, ein paar Obstbäume zu pflanzen, es nur einmal zu versuchen. Zwar sollte das Gebiet neunhundert Meter überm Meeresspiegel liegen, doch die geschützte, anmutige Lage des muldig aufsteigenden Tälchens, das von zarter Wiese bedeckt war, reizte dazu. Der Erlenmooshof, welcher etwa zehn Minuten vom Michelshof entfernt der nächste Nachbar war, besaß auch eine kleine Baumpflanzung in ähnlichem Gebiet; Äpfel und Birnen gab es dort jedes Jahr in saftiger Fülle. 42

Doch Markus wehrte ab. Dieselbe Abwehr erfuhr Sixta, da sie vorschlug, ein Stück des übermäßig großen Ginsterhanges, der vor dem Wald stand, abzubranden und Weizen hinzupflanzen. Der Michelshof lag an der Straße nach Buchenbronn mit dem laubengeschmückten Giebel, mit seinem geranienleuchtenden Sommerantlitz. Also gegen Süden. Die lange Seite schaute über den Hof, das heitere Schiltebachtal hinauf, an dem Weiden und Erlen in ganzen Scharen wuchsen. Man sah weit in das Tal hinauf, bis der Blick an einen hohen Buckel stieß, den der Bach wohl in Verborgenheit umging, denn man entdeckte plötzlich seinen Weg nicht mehr vom Bänkchen vor der Haustür aus. Auf diesem Buckel, der keinen Wald trug, breitete sich die hohe Ebene des Siehdichfür aus, die sich in schmaler Bandform weit hinzog und eine schier schnurgerade, neue Fahrstraße trug. Der Rückgiebel des Michelshofes stand gegen den Schiltebach, nur ein kleiner Blumengarten trennte ihn davon. Die Mühle ruhte klein und wie schalkhaft geduckt im Grase, von einem mächtigen Holderbusch überwuchert. Am anderen Ufer des Baches stieg nun das Gelände erst sachte, dann steiler an. Soweit man gegen Buchenbronn sah, gehörte das Land und der Wald zum Michelshof und ein Stück weit noch hinauf, entgegengesetzt zum Siehdichfür hin. Der ganze wallartig emporgewölbte, auf dem Rücken mit Wald bestandene Hintergrund beschrieb einen weitgespannten Bogen. Der sachte Anstieg bot gute Wiese, dann kamen, Riemen an Riemen aufgetreppt, die Äcker, die Weizen-, Roggen-, Gersten- und Haferäcker, ein großes Stück Hanf- und Leinfeld, Kartoffel-, Klee- und Krautland. Dann Ginsterhalde, kurzgrasiger Boden mit würzigen Bergkräutern, dann Heide mit moorigen Stellen. Da gediehen Wacholder und Birken, Preißelbeer und Heidelbeerstauden. Nun kam die alte Handels- und Heerstraße, und dann begann der Wald mit Brombeer- und Himbeerrandgesträuch. Dieser eine Stunde weit sich hinziehende Wald mit seinen Buchensäumen, uralten Eichenwächtern und seinem tannendunklen, ehrwürdigen Körper war der größte Reichtum und Stolz Stoffels gewesen. Für Markus bedeutete er noch mehr. War er nicht das Mark seines Lebens? War er nicht die Heldengeschichte seiner Kindheit, der tiefe Traum aller Wünsche, die grauenvollste Furcht seiner Fieber und das geheimnisreichste Gefängnis seines Heimwehs? 43

Aber nun, seit er wieder daheim war, schickte er Knechte hinauf zum Holzen oder Taglöhner und ging selber nur selten durch, rasch und wie auf der Flucht.

Sixta, der dies am Anfang recht war – denn sie liebte seine Waldgängerei nicht, besonders wenn er die Flinte mitnahm –, ihr wurde es zum quälenden Rätsel, weshalb der Bauer nun den Wald mied.

*

Ein Winter ging darüber hin ohne viel Geschehnisse. Das heißt, Sixta gebar ihr fünftes Kind, wiederum ein Mädchen, welches sie Genoveva nannten. Sie trugen es zur Taufe nach Buchenbronn, und Paten standen wiederum der Schwenkengabriel und sein Weib. Lioba, die tüchtige, lustige Gotte des Markus, die eigentlich auf die Patenehre beim neuen Kinde gewartet hatte, war von einem Herzschlag dahingerafft und kurz, ehe das Eveli auf die Welt kam, in die ewige Stille gebettet worden.

Sixta stand auf sicheren Füßen, sie schlug ihrer heiteren, stets gefälligen und geschickten Mutter nach, nur kam bei ihr des Vaters kluges und tiefsinniges Wesen noch dazu. Freilich hängte sie dies an die Dinge des klaren Alltags, für Überspanntheiten hatte sie nichts übrig. So schaffte sie, gebar und herzte ihre Kinderschar, lehrte und züchtigte sie und wurde eine stattliche, hochhüftige, blonde Frau von geradezu sagenhafter Schönheit.

So scheel die Bauern auf eine ehemalige Magd schauen, die auf den Sitz der Großbäuerin kommt, bei Sixtas Anblick auf dem Kirchgang konnten sie kaum anders als sagen: »Es kann natürlich eine Ausnahme geben und auch einer das große Los ziehen mit solch einer Heirat.« Und sie meinten sogar, wenn ihr Wohlwollen besonders hoch stand, der Markus könnte fröhlicher dreinschauen neben seinem Weib und nicht wie ein dürrer Stecken nebenher laufen. Das stimmte ja.

Markus dachte manchmal über sich nach. Er begriff oft selber nicht, warum er am liebsten geflucht hätte, wenn sein Weib lachte, warum er Regen wünschte, wenn die Sonne schien, und allerlei Widerlichem lieber ins Gesicht sah als Angenehmem. Überall störte ihn sein Hinkebein, war das wohl schuld an allem Übel? Er verlangte viel von dem schwächeren Fuß, er 44 schonte ihn nie. Das mußte er natürlich mit Schmerzen büßen. Eines Tages eiterte es unter der Narbe zum Schrecken Sixtas. Sie beredete den Bauern so lange, zum Professor nach Freiburg zu gehen, bis Markus einwilligte und der Knecht ihn samt der Frau in die Münsterstadt fuhr. Er kam dem berühmten Professor Kußmaul unter die Hände, und im Verlauf von sechs Wochen heilte das Bein völlig aus; ohne merklich zu hinken, konnte Markus fürderhin über den Hof gehen.

Er machte ein anderes Gesicht. Nicht nur die ernsten, oft derben und groben, meistens jedoch tief beratenden Gespräche mit dem Arzte hatten teil daran, daß der Markus als hellerer Mensch heimkehrte, er war auch dahintergekommen, daß einzig und allein der verborgene Groll über sein Krüppelbein ihn auf Lebensüberdruß und Freudlosigkeit gebracht hatte. Auch mit seinem Herrgott söhnte er sich aus, das heißt, er dachte mit seltsamer Scham an seine lästerlichen Ausfälle gegen das göttliche Walten, dachte ungern daran; klar und gläubig wurde er nicht deshalb.

*

Eines Tages kam des Erlenmoosers Knecht gesprungen mit dem Bericht, Wildsauen seien in die Äcker gefallen und es sähe wüst aus, wo sie gehaust. Nun war ein schlimmer Januar im Lande gewesen mit niegekanntem Eisreichtum, so war es möglich, daß die Sauen hungrig und wild vor Lebensnot aus den Vogesen herübergehoppelt kamen, über den eisgefangenen Rhein in den Schwarzwald. Der Schnee schmolz seit Wochen schon bis auf kleine Schattenrainflecken hinweg, aprilfröhlich wechselte Sonnenschein mit Regen, mit starkem Föhnsturm und weicher Milde. Die Frucht speilte wie grüne Stichflammen aus der Krume. Und das liebestolle Wild aller Art kühlte sein Mütchen in der jungen Saat.

Da die Sauen unerhörten Schaden anrichteten seit Wochen schon und auch die Fuchsplage ins Unerträgliche ging, bot man alle Jagdberechtigten auf, dem Unheil zu steuern. Wie man hörte und beobachtete, trieb sich das Wild am tollsten im Michelshofwald herum, jedenfalls weil selten ein Mensch dort auftauchte und nie ein Schuß fiel. Also machte sich Markus halb widerwillig, halb aber doch in gespannter Erregung zur Jagd fertig und stieg in seinen Wald hinauf. 45

Es war Abend, mild und klar; denn zwei Tage hindurch hatte es vorher gerieselt. Die Tannenwälder standen blau wie mächtige Himmel im Rund, obschon die Sonne erst vor knapp einer Stunde hinuntergesunken war. Im Westen schimmerte das Dreieck des Zodiakallichtes noch geheimnisvoll, überhaupt stand dieser beginnende Abend in hohem Glanze. Die Glocke von Buchenbronn läutete, hin und wieder brüllte von irgendeinem Stalle her ein Rind. Die Luft trug weit. Markus achtete darauf, gegen den Luftzug seine Wanderung zu beginnen, damit das Wild ihn nicht zu schnell spüre. Er atmete tief und hastig, unter Herzklopfen wie ein Bub, der auf Unrechtem ertappt wird. Warum denn? In seinem eigenen Wald war er auf einmal ein Fremder! Zartes Dämmerlicht brach in den Saumweg ein. Markus verfolgte diesen ein Stück weit. Meister Lampe kam ihm nahe. Markus schonte ihn, er spürte überhaupt keine Lust zu schießen. Er spürte sich überhaupt nicht. Er schritt hin wie ein Träumender, ohne Wachsamkeit in Auge und Ohr. Aber er freute sich; wie lange vermochte er es doch nicht mehr sich so zu freuen! Er pfiff sogar leise Soldatenlieder vor sich hin.

Er prüfte seinen Gang. Welch ein Glück, daß das linke Bein kaum mehr lahmte! Er pfiff schon ganz herzhaft den Hohenfriedberger und hob die Füße wie beim Kommiß. Es paßte, daß er die Holzmütze trug. Er nahm sie sogar ab und wischte mit dem Ärmel den Messingrand der Kokarde glänzig. War doch gut, daß man das in Frankreich mitgemacht hatte, man bestand vor den Daheimgebliebenen auf besondere Art. Junge Männer, die den Acker in jener Zeit bestellt hatten, galten nicht halb so viel in ihren Reden und Meinungen, man wies sie mit vieldeutigen Blicken zurecht. Es hieß jetzt meistens, wenn drei beisammen saßen oder mehr: Ach was, wenn das einer erlebt hätte, was ich, damals in der Steingasse zu Straßburg, wo die »Franktireurs« aus Dachluken und Kellerläden schossen, oder vorher der Schlamassel am 4. August, Vormarsch im Regen. Regen, Regen, nichts als Regen. Die Gewehre scharf geladen, vor Kampflust zittern die Hände und klopft das Blut in den Schläfen. Macht nichts, daß das Wasser vom Gepäck, vom Helm in Bächen gießt. Man wird aber müde vom Stampfen im Dreck. Singt, singt, schnarrten die Offiziere, man schnauft 46 aus. Da hält einer eine kurze, scharfe Ansprache: Kameraden, Soldaten, Helden, Helden, hurra! Es braust ein Ruf . . .! Bis an die Waden im Dreck. Vorwärts, in die Räder, in die Räder! Die Fahrzeuge stecken bis an die Achsen im Morast. »Musketier sein's lustige Brüder . . .« Kamerad, Kamerad, einen Schluck aus deinem Beutel, für einen Schick aus meinem Sack. Herrjeh, wo bleibt der Feind? 'ran – 'ran! Es kommt die Kunde, daß die Bayern und Preußen bei Weißenburg gesiegt. Und wir Badener zittern in blutigem Neid. Aber es kommt noch, das Schlachten und Mutzeigen und Siegen und – Sterben. Die Sonne trocknet das Zeug, es regnet wieder, ein Sauwetter. Zahnweh und Reißmattheis gibt das gewiß. Das ist arg gewesen damals im Oktober, am 6. bei St. Die Nebel, daß man die Hand vor dem Auge nicht sieht, stinkiger, verfluchter Nebel. Langsam, langsam, spürend, sichernd wie Wild geht es ins Ungewisse. Plötzlich reißt's den Nebel auseinander, Sonne, Sonne! Eine arglistige Sonne; denn vor dem Regiment zum Greifen nahe der Feind. Der aber, genau so entsetzt wie wir, starrt uns an. Und jetzt grausig drauflos, Granaten, Mitrailleusen, Chassepots, Bajonett, Mann gegen Mann, Feuer, Blut und Geschrei!

Nompatelize, wer vergäße das je! Der Franzmann wie ein hungriger Wolf, mutig, gierig; wir löwenwild. Schwer schneidet der Tod seine Mahd durch Freund und Feind. Da liegen sie im Blute. Viel edle, schöne Leibgrenadiere.

So packte man seine Erlebnisse aus. An Kaisers Geburtstag trug man das Eiserne Kreuz und den »Karl Friedrich«. Die Schulbuben glotzten und tuschelten hinter einem her. Einer sagte gar, ein kleiner, weißköpfiger Bursch: »Jetz, was meinet ihr, wenn man so einen Bauer als Götte hätt!«

Markus dachte an seinen Andreas. Der war jetzt vierjährig, ein aufgeschossenes Gewächs, mit schmalem, braunblassem Gesicht und Augen wie ein leuchtender Frühlingshimmel, und er war anstellig, flink und fleißig jetzt schon, aber sprechen hatte er nicht gelernt. Er machte ein trauriges Gesicht, wenn der Vater ihn zwingen wollte, etwas nachzusagen, er zischte und ruttelte und klopfte mit der Zunge, wurde blau um die Nase und bekam kein Wort heraus. Nur wenn er allein war, unbeachtet unterm Vieh, dann sagte er Wörter ruhig und klar vor sich hin, sang sie leise, freudig. Aber es beschämte Markus doch, 47 solch ein Kind zu haben. Er meinte zwar immer wieder zum Trost Sixtas, weil Andreas so klug und tüchtig sich anstellte für sein Alter und ein sauberer Gesell sei, werde er einen festen Bauern geben und auch sein Weib bekommen, und fügte dazu: »Viel reden tun ja wir normalen Michelshofer auch nicht.«

»Hast recht, Markus«, lächelte Sixta in ihrem Kummer und strich dem Mann über den Ärmel, »weniger als du wird der Andreas kaum den Mund auftun. Deine Worte zähl' ich künftighin im Kalender.«

Da sagte Markus wiederum nur wenig drauf: »Liebe Frau!« und ging an seine Arbeit; aber Sixta kannte ihn und trug diese karge Antwort behutsam wie Kostbares durch den Tag.

Liebe Frau, dachte nun Markus im Gehen und strich unwillkürlich an dem Flintenlauf hinab, als wäre es der Arm seines Weibes.

 


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