Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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15
Opfer

Kurze Zeit darauf erfuhr man, Asch sei in Sonnenkirch halbtot geschlagen worden wegen aufrührerischer Reden und dann nach Freiburg ins Gefängnis gekommen. 120

»Aha!« sagte Urban laut vor sich hin; doch war es gut, daß er alle Hände voll zu tun hatte, sonst wäre er ins Grübeln geraten. Es trieb ihn sowieso umher, wenn er auch nur ein paar stille Atemzüge tun wollte. Vom Hartmannsweilerkopf herüber dröhnte es dumpf. Da ging etwas vor. Martin war dabei und der Erlenmooser. Urban dachte daran, Magdalen das Korn mit seiner Maschine zu dreschen. Man mußte halt Ochsen vorspannen. Die Pferde hatten sie abgeben müssen. Übermütige junge Dragoner waren dagewesen, sie zu holen. Urban bewirtete sie mit Heidelbeerwein und Speck. Sie schleckten gehörig, die Bürschle, die noch nicht lange den Gaulsrücken gewohnt waren. Dem einen fiel das Reiten mit wundem Steißbein so schwer, daß er auf dem Herweg schon streckenweise neben dem Roß her getrabt war. Aber er ließ sich foppen und machte sich über sein Übel selber lustig. Urban blieb nach dem Abzug der Dragoner, die seine beiden Füchse mitgenommen, schweren Herzens zurück. Er gab sich Mühe, die Pferde, die einer bösen Zeit entgegentrabten, zu vergessen, aber es drückte ihn im Halse, wenn er ihre leeren Boxen im Stalle sah. Die Blanke stand noch da mit breitem Leib. Es gab bald ein Füllen. Er strich der Stute die schwere Strähne aus der Stirn.

Als er vor die Stalltür trat, es war Abend, und Flur hatte mit den alten Knechten fertig gefüttert und gemolken, da stürmte Magdalen den Pfad vom Erlenmoos her, lief übers Stoppelfeld. Sie schien ganz aufgelöst vor Angst. Der Geschützdonner erklang unaufhörlich; vom Windkapf aus, dachte Urban dumpf, müßt man mit dem Fernrohr doch was sehen können. Magdalen betrat den Hof, lief auf Flur zu und drückte sie an sich.

»Was ist denn?« riefen Flur und Urban zugleich.

»Ach wir armen Frauen, wir armen Frauen, jeder Schuß, den wir hören, kann unsere Bauern getroffen haben.«

Also war nichts Bestimmtes geschehen. Es zeigte sich jetzt nur, daß die sonst so starke, kluge Magdalen ganz und gar außer Fassung geriet, wo es galt, den Kopf zu stellen, und daß sie in ihrer Angst Hof und Herd verließ, ihre Kinder vor allem, um vor Kummer toben zu können.

Flur schob sie sanft von sich ab, sie lächelte fremd und meinte, ein spöttischer Ton schwang mit: »Jetzt aber, man könnt 121 meinen, es stünden nur unsere Mannen drüben. Das sind Tausende.«

Magdalen hörte gar nicht hin, sie schüttelte jetzt Urban, der ratlos dastand, am Ärmel und klagte ihm ihre Not. Er wußte sie nicht anders zu trösten, als indem er sagte: »Horch, ich komm dir mit unserer Dreschmaschine; denn es ist doch Mangel an Dreschern, überhaupt, wenn du sonst was brauchst, ich bin da.«

»Wenn dem Erlenmooser was geschieht, für mich braucht dann auch niemand mehr da zu sein, ich stirb ihm nach.«

»Herrje, und deine Kinder?« schrie Flur sie an.

Magdalen sank in sich zusammen. Urban sagte: »Komm in die Stube. Es wird dir wieder besser werden, so aufregen hat ja keinen Wert. Der Sebald tät elend schelten, wenn er dich so klein müßt sehen.«

»Ach, ob er noch lebt, ist eine Frage.« Sie weinte haltlos. In der Stube ging sie auf und nieder. Als der Bruder mit Lammsgeduld ihr zusprach, beruhigte sie sich langsam. Flur kam herein, trug das Nachtessen auf. Sie schenkte der Schwägerin keinen Blick. Beim Essen bemerkte aber Urban auch, daß sie, vielleicht von der Furcht Magdalenens angesteckt, bei jedem starken Donner von drüben, bei dem die Scheiben leise klirrten, mit den Augen zuckte.

Dumpfe Unruhe befiel alle Hausbewohner, selbst die Hüterbuben saßen scheu am Ofen und horchten hinaus, schweigend, mit fiebrig aufgerissenen Augen.

Magdalen begehrte endlich heim. Urban ging mit ihr. Jetzt schwieg das Gewitter im Wasgau. »Gottlob!« stöhnte die Bäuerin.

Urban dachte: »Gottlob? Du Einfalt, nun wird es erst recht gefährlich hergehen drüben.«

Magdalen sagte, als Urban ihr Gutnacht wünschte: »Mein Herz zittert so komisch, es hört nicht auf.«

Am nächsten Morgen fand man sie tot im Bett. Die Kinder kamen in den Michelshof gesprungen und schrien. Flur, tief erblaßt, aber ruhig, gebot ihnen, die sich vor der kalten Mutter fürchteten, im Michelshof zu bleiben. Die Buben sollten Fabian helfen, die Mädchen mit hinaus auf die Matten, das Öhmd verzetteln. »Beim Schaffen vergißt man alles«, tröstete sie. Die Kinder blickten sie groß und furchtsam an und gehorchten. 122

Urban blieb drei Tage im Erlenmoos, die Tote zu rüsten, nach dem Rechten zu sehen und den Bauern zu erwarten. Ob sie ihn losließen mitten aus dem Krieg?

Sebald stand am Abend, nachdem sie Magdalen begraben hatten, auf einmal in der Stube. Er war über und über mit Schmutz bedeckt, sein Gesicht war bärtig und gefleckt von Unreinlichkeit, im Haar mußte seit Wochen kein Kamm gewesen sein. Den linken Arm trug er in einer schneeweißen Binde. Er warf Kappe und Mantel auf die Ofenbank, kam zu Urban, der erstarrt am Tisch sitzengeblieben war, und sah ihn steif an, sagte endlich mit völlig fremder Stimme: »So, so, sie ist tot; das sind ja schöne Geschichten!«

Darauf machte er einen Rundgang durch das ganze Anwesen, Urban schritt hinterdrein, in furchtbarem Mitleid verkrampft, die Hände geballt in den Kitteltaschen. Sebald sah alles so seltsam lang und genau an, daß es Urban grauste. Wo Sebald hinkam, wurde es totenstill, keine Magd flüsterte oder lärmte mit Gelten oder Eimern, das Vieh hielt im Fressen inne, starrte ihn an. Ein Schweigen war im ganzen Hofwesen. Auf der Heubühne warf Sebald plötzlich horchend den Kopf in den Nacken.

»So still«, flüsterte er, er sah Urban nicht, »so still«, sagte Sebald lauter, und seine Stimme erstickte im aufgespeicherten Heu. Dann brüllte er: »So still – warum so still! – Schreit doch, alles soll schreien, schreien!« Er bäumte sich in irrsinniger Qual, verstummte jäh und sank auf den Boden wie entseelt.

Urban erschrak furchtbar. Das Gesinde kam über die Einfahrt gelaufen, er winkte ab. Schluchzend gehorchten die Mägde. Urban lauschte. Der Atem hob des Unglücklichen Brust; ach, jetzt schlief er, tiefe, regelmäßige Züge verrieten es. Das war gut für ihn. Tags darauf schaute er alles viel gelassener an. Urban schob ihm einen Heubausch unter den Kopf, löste ihm das Koppel mit dem Seitengewehr ab, öffnete den Kragen des Rockes und knüpfte die Halsbinde los. Sebald erwachte nicht. Dennoch blieb Urban die ganze Nacht neben ihm, dämmerte zuweilen ein, doch leise nur wie ein wachsames Tier. Sebald schlief. Die Morgengeräusche weckten ihn nicht. Urban ließ ihn den ganzen Morgen allein, am Mittag schlief Sebald noch. Sie rüttelten ihn, wuschen ihm Stirn und Schläfen mit Essig. 123 Er erwachte nicht. Schließlich trugen ihn Urban und der alte Knecht in die Schlafkammer.

Da schlief Sebald noch eine Nacht bis zum Morgen. Dann stand er auf. Ging an sein gewohntes Tagewerk, bei dem ihn sein nur leicht verwundeter Arm nicht zu hindern schien. Er fragte nicht nach Magdalenens Tod. Ihren Namen nannte er nicht. Er beachtete seine Kinder freundlich. Er war nicht einmal auffallend schweigsam. Aber er berührte nicht den Krieg und seine Erlebnisse, er lebte und dachte nur an den Tag und die Arbeiten, die ihn gerade umgaben. Alles, was vorher war, hatte er vielleicht vergessen. Urban versuchte nicht, ihn durch Fragen zu erwecken. Er verbot auch allen Erlenmoosersleuten samt den Kindern, den Bauern etwas zu fragen, was Krieg und vor allem auch die tote Bäuerin betraf. Langsam mußte sich der Leidvolle schon wieder zurechtfinden.

*

Noch schallte dumpf der Kriegslärm von den Vogesen herüber an den Schwarzwald, noch kostete es jeden Tag zahllose Soldaten. Und Schreckensbotschaften erschütterten jeden Ort. Michael Blessing kam einbeinig heim. Albin Hebenstreit fiel vor Arras. Martin schrieb selten, aber immer hieß es: »Wer weiß, ob ich wieder heimkomme, aber ich denke heim. Ich bin in den Argonnen; hier sind Wälder, sie sehen anders aus als unsere.«

Einmal hieß es: »Ich glaube nicht, daß ich heimkomme. Wir trinken deshalb viel Schnaps. Um uns ist die Hölle. In Ruhe hinter der Front denkt man daran, daß man hingemordet hat. Sonst tun wir ja nichts als schießen, brüllen, fressen und saufen. Wo ist unser Herrgott? Ich spüre ihn nirgends mehr.«

Es schien, als habe er die einzelnen Personen in der Heimat vergessen; wenn er schrieb, so galt dies allen. Die Anschrift lautete stets nur: »Uhrenmichelshof, Schiltebachtal, Post Buchenbronn, Baden.« Flur paßte den Briefboten ab und hoffte auf eine Nachricht für sich allein. Sie hatte doch dem Mann geschrieben, daß sie ein Kind erwarte. Ganz ohne Jammer und ohne Liebeswort hatte sie das hingeschrieben, auch nicht dazugefügt, ob sie sich freue. Aber sie freute sich doch, das neue Kind würde so in Ehren kommen, daß nichts sie bedrückte und ihre Mutterschaft trübte. Das würde die verheimlichte 124 Schande um Fabian auslöschen, sie klammerte sich förmlich an diesen wohltuenden Gedanken.

Fabian bekam wenig freundliche Worte von der Mutter; er war ihr so fremd, schloß sich so Urban an. Er war ein frühreifer Knabe, tüchtiger Schüler, namentlich im Rechnen und Zeichnen, und in Mußestunden ein Bastler, der alles um sich her über irgendeiner vermeintlichen Erfindung vergaß. Namentlich verstand er mit den Maschinen umzugehen. Er kannte ihre Geheimnisse bis ins kleinste, er pflegte und besserte sie aus, aber er schaffte nicht gern daran, sein Wunsch ging darnach, ständig ihrer Arbeit zuzuschauen, ihre Bewegungen und Kräfte zu erforschen.

Dumpfer und leidenschaftlicher hatten sich die Wälder noch nie über die Feldarbeit hergemacht als in dieser Zeit. Die Frauen und jungen Burschen mußten der Männer Dienst an der Scholle verrichten, Frauen pflügten und eggten, säten und mähten. Viele dachten, warum ist Unserer draußen vor dem Feind, und der Großbauer Urban Götz noch daheim? Sie sahen scheel auf Urban, sie wurden weiß vor Neid, wenn sie ihm auf dem Kirchweg begegneten. Der schmierte wohl bei den Ämtern, er lieferte Stammholz nach Freiburg, er trieb Ochsen fort, er lud Mehl auf den Wagen und sonst noch manches. Andere Bauern lieferten zwar auch ab; aber es sah bei Urban, mochte er es machen, wie er wollte, immer besonders aus, eben verdächtig.

Alle paar Wochen mußte Urban sich stellen. Der Briefbote brachte die Gestellungsbefehle, gab sie Flur in die Hand und merkte, daß sie zitterte und hastig zugriff. Es sah aus, als wären sie sich spinnenfeind, Urban und Flur. Manche schlauen Bäuerinnen glaubten nicht daran. Die taten nur so, in Wirklichkeit – – ach, wer traute dieser Hergeloffenen. Man brauchte nur an die Zigeunergeschichte zu denken.

Flur zitterte, weil sie jedesmal, wenn die schmalen, gefalteten Briefbefehle eingingen, dachte: »Nun werden sie ihn behalten.« Er sollte nicht dabei sein, wann an sie die schwere Stunde kam, sie wollte ihn nicht mehr sehen. Sie haßte ihn zwar nicht mehr, eher hatte sie Mitleid mit ihm, weil er so einsam und unruhig war, aber er störte sie. Sie konnte ja nicht entrinnen, obschon 125 er sich nicht im geringsten um sie bekümmerte, kaum das Wort an sie wandte. Auch sie sprach nichts als das Nötigste.

Martin rückte immer tiefer in die Ferne. Er schrieb ihr nicht. Er richtete noch seine kurzen Nachrichten an alle. Sie klangen fast immer gleich, schwermütig und klagend, wie der Schrei eines Waldtieres. Urban empfand es und ergrimmte heimlich darüber, es war aber der Grimm eines, der nicht mehr über seine innere Stimme Meister wurde. Er ließ also nicht die Geschehnisse an sich vorüberrollen wie kurze Gewitter. Die gruben sich ein, krallten sich in seine Gedanken und Träume. Urban sagte sich: »Draußen ist Krieg, es kostet viel Mannsvolk, und es mangelt an Mutigen. Ich sollte nicht über die friedlichen Felder gehen und unter geduldigem Vieh leben, draußen sollt ich stehen vor dem Feinde. Aber –«

Urban nannte sich feig und erbärmlich. Er nahm sich vor, bei der nächsten Gestellung sich freiwillig zu melden. Aber an dem Tag tat er es dann doch nicht. Er klagte vor dem Stabsarzt über Reißen und Herzklopfen. Er erregte sich so stark, daß man ihn zurückstellte. Dann unterwegs wurden Urbans Füße schwer wie Blei und sein Gewissen eine glühende Kugel im Schädel. Wenn er dann seine erste eigene Erde betrat, sprang etwas in ihm auf wie inbrünstige Liebe, er hätte am liebsten eine Handvoll Erde in den Mund genommen.

*

Es wurde Frühling. Immer noch hörte man Geschützdonner aus dem Elsaß. Die Bauern konnten früh mit der Feldbestellung beginnen. Sie erhielten von den Bezirksämtern den Auftrag, viel Brotfrucht und Kartoffeln zu pflanzen. Urban rodete und schaffte neues Land. In dieser Beziehung sollte es an ihm nicht fehlen.

Flur sah ihrer Niederkunft entgegen. Seit einigen Wochen erst wußte Urban, wie es um sie stand. Das nagte in ihm, er dachte immer jetzt an Flur und ihre Last. Er forschte bei sich ihr Wesen aus. Ob sie an Martin in Liebe hing? Man kam nicht ins reine mit ihr. Verschlossenere als sie gab es keine mehr; denn von sich sagte sie die ganzen Jahre her kein Wort. Man kannte sie nicht. Wähnte nicht die rumplige Magd damals, 126 Flur sei wahrscheinlich ein Muhrseefräulein ohne Seele und Blut?

Eines Abends fragte Urban, warum sie so blaß sei und verzerrt im Gesicht. Sie stand nach dem Essen unschlüssig am Tisch, das fiel ihm auf, eine warme Welle ging über sein Herz. Sie blickte zur Seite, erschauerte über die Schultern und antwortete leise: »Ich habe Angst, und es friert mich.« Da ahnte Urban, was sie von ihm wollte, da sie zögernd am Tisch stehengeblieben. Sie begehrte seine Hilfe in banger Stunde.

Er sagte: »Geh nur in die Kammer, ich spann ein und hole die Weißerslies.«

Sie ging in die Kammer.

Draußen befahl Urban der Magd: »Mach die Ziegelstein warm und bring sie der Bäuerin ins Bett, sie friert.«

Die Magd schlug die Hände zusammen und stotterte vor Aufregung, rannte in die Küche, dem Bauern zu gehorchen. Als Urban vom Hofe prasselte, hörte er Flurs lautes Stöhnen.

Flur brachte ein totes Mädchen zur Welt. Die Weißerslies hatte zwar noch gesehen, daß das Gesichtchen zuckte und schnell das Wesen auf den Namen Marie getauft, aber es blieb dabei, das Kind war tot. Sie legte es ruhig in die Wiege am Fußende des Bettes, in dem Flur tränenlos lag. Sie wollten es wie ein wirklich vom Leben zum Tod gewandeltes Menschenkind mit allen Ehren begraben. Flur ließ man am folgenden Morgen, nachdem sie versorgt war, allein im Haus. Sie selber wehrte sich gegen eine Wache. Am nächsten Tag war Sonntag, da sollte nach dem Gottesdienst gleich die Beerdigung sein. Alle verließen jetzt das Haus, um auf den Äckern zu schaffen. Die Saat mußte unter den Boden, die Wiesengräben mußten frisch gezogen werden, die Weidenzäune neu gefügt.

Flur lauschte, auf einmal aus ihrer teilnahmslosen Stille erwacht, gespannt ins Haus. Alle waren fort. Sie richtete sich auf im Bett, langte nach der Milch, die man ihr hingestellt hatte, und trank sie gierig hinunter, dann kleidete sie sich an in fliegender Hast, ohne Schwäche, sie merkte nichts, sie war keine Wöchnerin mehr, nur eine verzweifelte Mutter mit einem einzigen Gedanken: »Ich muß das Kind, das die Weißerslies versäumt hat, durch einen Klaps auf den Rücken zum Schreien zu bringen, ich muß das Unerweckte retten.« 127

Zu Reichenbach wohnte ja der Wunderdoktor, der durch Sympathie alles zu heilen vermochte, ihm wollte sie das Kind bringen. Sie nahm das Bündelchen, das keine Ähnlichkeit mit einem Lebewesen mehr hatte, in ein großes Umschlagtuch und eilte aus dem Hof, schleichend, spähend, solange sie gesehen werden konnte. Dann langsamer; hier war ein Randstein! Da verweilte sie sich, um besser dem Anstieg auf die Hochebene Siehdichfür gewachsen zu sein. Gottlob hatten sie dort schon gestern die Äcker fertiggemacht.

Sie wurde um so ruhiger, je weiter sie vom Michelshof weg war. An anderer Bauern Äcker ging sie ohne Hast vorbei. Sie dachte so klar, wußte genau, was sie wollte. Der Weg kam ihr nicht einmal weit vor, obschon es gut zwei Stunden waren. Sie rastete dann und wann, wickelte das Kindchen wärmer ein, obwohl die Sonne es auch ganz gut meinte. Sie rührte das kleine runzlige Stirnchen des Neugeborenen an und hoffte leidenschaftlich, es könne auf einmal warm sein. Mit einer Inbrunst, die sie schier zersprengte, wünschte sie Leben in das winzige Wesen, das sie liebte, solange sie es in sich trug, auf das sie alle ihre guten Gedanken wandte, auch Gelöbnisse. Sie hatte ihm Liedchen gesungen, ihm leise Geschichten ersonnen, nur ihm gelebt. Und daran gedacht: »Es gehört Martin, ist sein Kind und wird die Schuld um Fabian auflösen.«

Auch jetzt unterwegs, nun doch zuweilen von dumpfen Schmerzen und rieselnden Schwächen überfallen, sang sie das Kleine an. Endlich kann sie es dem Doktor auf die Knie legen. Der war eigentlich Schmied, hatte einen Fellschurz an über blauem Leinenzeug, hatte klobige Hände mit seltsam zugespitzten Fingern, schwere Beine und ein aufgedunsenes Gesicht.

Flur klammerte sich an ihre Hoffnung auf den Wundermann, dem man von allen Seiten zulief. Er hockte auf winzigem Dreibeinschemel, der nicht brach unter der Last des Vierschrötigen, und hatte das leblose Bündel auf den Knien. Er schaute es an, prüfte den Puls, lupfte das Augenlidchen, mit den merkwürdig spitzen Fingern, die gar nicht zu seinen anderen Formen stimmten, strich ein paarmal über die Schläfen und sagte darauf zu Flur: »Das Kind ist und bleibt tot.«

Flur schrie hinaus, stand auf, entriß ihm ihr Kleinod und eilte davon. Der Schmied sah sie nicht mehr, als er sich von 128 seiner Verblüffung erholte und unter das Schmiedetor trat, ihr nachzuspähen.

Flur sah und spürte nichts von dem Weg, den sie ging. Ob es der Heimweg war oder ein Irrweg, das fragte sie sich nicht. Alles war tot. Der Wald auch. Kein Vogel sang oder flatterte, der Tag schien nur dumpf herein, obschon die Sonne jetzt am höchsten stehen mußte um die Mittagszeit. Flur lief gut eine Stunde lang ohne Besinnung. Als sie auf die Ebene kam und vom düsteren Waldweg in die breite Straße einbog, überrieselte sie die Wärme der Sonne so stark, daß sie stehenblieb und mit einem tiefen Seufzer Atem schöpfte. Ach, die Sonne tat gut. Als ob sie jemand lind in den Arm nähme, war Flur zumut. Ihre Gedanken, aufgetaut aus der Starre, begannen zu kreisen. Aber sie hielten nichts fest. Auf einmal begann die Straße unter Flurs Füßen zu zittern, es ging ihr hinauf bis in den Rücken. Die Erschöpfte merkte nicht, daß sie es war, die bebte. Schossen sie etwa drüben in den Vogesen wieder so fest? Sie lauschte. Erst hörte sie gar nichts, auch das schon gewohnte Grollen des Geschützdonners nicht, dann begann es zu sausen in ihren Ohren. Die Straße bog sich unter ihren Füßen. Flur fühlte sich emporgeschleudert und verlor das Bewußtsein.

Sie lag wohl unbestimmte Zeit so auf der unbegangenen Straße, da erwachte sie wieder. Sie sah den Himmel noch taghell über sich, blau und mit Wolkenflocken betupft. Ihr Kopf dünkte sie leicht wie eine Feder und weich beweglich. Ach Gott, nun lag sie eben hier und wußte nicht wo, und doch war es gar nicht beängstigend und eigentlich auch gleichgültig, wo sie sich zum Sterben einrichtete. Sie konnte sogar lächeln. Würde sie heut oder morgen erst das Leben vergessen, einschlafen, ohne wieder zu erwachen? Auch das galt ihr gleich. Die Zeit kannte sie ja gar nicht. Ob es Morgen oder Abend war, ob sie seit gestern schon dalag, das wußte sie doch nicht.

Es huschte etwas vorbei. Ein Hase. Es summte über ihr, eine Hummel. Quiwitt, quiwitt, witt, witt, witt – ein Vogel. Diese kleinen Unruhen störten Flurs Stille leise. Sie bewegte den Kopf, hob ihn ein wenig, schaute nach der Seite und sah ein dunkles Bündel daliegen. Was war das, oh, was war nur das? Ein rasender Schmerz schoß durch Flur, sie schrie, schrie 129 – es mußte alles überquellen –, der Wald muß einstürzen, die Straße muß sich bäumen, der Himmel muß herabfallen.

Da dröhnte es, da rollte es her und stampfte. Flur schrie und lauschte zugleich. Über ihr Gesicht beugte sich auf einmal ein anderes, ein großäugiges, entsetztes Antlitz. Der Tod, der Tod – Flur schreit und bäumt sich vor Angst. Dann ist alles vorbei.

Urban hatte Flur gefunden. Sie lag stöhnend auf der Landstraße, neben ihr die Kindesleiche. Sie hatte nicht geschrien. Es war nichts um sie her geschehen, wie sie es wähnte, nur das Antlitz war da, und das gehörte Urban. Dem Leben, nicht dem Tod.

Wenn nicht der Postbote Urban auf dem Feld gesucht hätte, weil er ein Feldpostpäckchen an Martin zurückbrachte, mit dem Vermerk »Gefallen auf dem Felde der Ehre«, dann wäre vor dem Nachmittag niemand auf die Flucht der Kranken gekommen. So legte Urban, als er die grausame Aufschrift des Päckchens gelesen hatte, die Arbeit nieder und ging über einen Umweg, auf dem er sich besann, wie Flur vorzubereiten war, in den Hof zurück. Er fand sie nirgends. Die Wiege leer. Lähmender Schrecken schwächte ihn erst, dann besann er sich. Er durchschritt alle Räume des Hauses in der Erwartung, sie tot zu finden. Aber sie war nirgends.

Er rief: »Flore, Flur!« Keine Antwort! Er spannte wie in dumpfem Traum schließlich die Fuchsstute ein und fuhr die Straße zum Siehdichfür hinauf. Ein Wegwart sagte ihm, er habe die Frau am Morgen mit einem Kind im Arm gegen Reichenbach laufen sehen. Nun ahnte Urban, wohin es sie getrieben hatte.

»Herrschaft, das Weibervolk, kommt gestern nieder und rennt heut stundenweit. Das kann nicht gut ausgehen.« Urban schwitzte vor Aufregung, er meisterte kaum den Gaul. Er schlug ihn mit der Geißel, daß er scheu wurde und davonraste. Oft stand der Wagen nur noch auf zwei Rädern, sprang wie eine leere Streichholzschachtel hinter dem starken Tier her.

Da, überm Weg! Urban riß am Zügel, aber das zu Tod erschrockene Tier blieb von selber jäh stehen mit schlagenden Flanken.

Da lag sie ja, Flur, o du großer Gott, da lag sie, und war vielleicht tot. Nein, stöhnte sie nicht? 130

Urban drehte ihren Kopf zu sich her, behutsam. Sie hatte die Augen offen, blickte ihn an in grauenhafter Starre. Sie fürchtete sich.

»Flur!« Urban rief es über ihr, er wußte das nicht, er mußte rufen: »Flur, Flur«, und er lachte.

Er hob sie auf, er lachte, er legte sie sorgsam nieder auf den Boden des Pritschenwagens, legte seine Weste unter ihren Kopf, seinen Kittel über ihren Leib. Er lachte und wußte es nicht, aber sie lebte ja, Flur, und war nicht tot.

Nun wollte er versuchen, ruhig den Wagen zu wenden, jede gewaltsame Erschütterung mußte der Frau doch weh tun. Er schmeichelte drum der Stute, die es so dankbar aufnahm. Das Tier schnaubte zärtlich und rieb den Kopf an Urbans Achsel.

»Es langt, es langt, blanke Lies, komm jetzt, folg! So recht! Langsam, stät, Lies! So – – –!«

Oh, da lag noch das Kind. Das Elendskind. Urban ergriff es bei den Schalzipfeln, ihn grauste vor dem blaugelben Wesen. Er legte es behutsam zu Flurs Füßen nieder und schlug den losen Zipfel über das Gestältchen, daß er nichts mehr davon sah. Langsam kam die Fuhre vom Fleck. Urban schritt nebenher in tiefen Gedanken. Martin war tot, das hatte er vergessen über der Sorge um Flur. Wie würde sie das tragen, ohne zu zerbrechen, die über dem Tod des leblosen Kindes schon fast zerbrach.

Martin! Wo war der Bruder jetzt? Sah er irgendwo hernieder, lebte seine Seele? Traf sie das Totgeborene aus seinem Blut? Und wenn die Seele um die geliebten Menschen schwebte, sah sie in ihr Herz? Las sie stumme Wünsche? Konnte sie gram sein oder leiden?

Urbans Schultern fielen nach vorne. Er trug eine unsichtbare Last, die des unsicheren Gewissens. Er lachte vorhin, als er Flur lebend fand. Er war glücklich und wußte doch, daß Martin, sein Bruder, tot war und Flur sich noch nicht von ihm getrennt hatte, sie ahnte ja nichts. Urban fühlte, daß er wider die Sitte gelebt diese letzte Stunde, wider seines Bruders Geist und wider Flur . . . Er dachte dumpf darüber nach, wollte Klarheit erzwingen, fühlte sich belastet und hatte doch kein Verbrechen begangen.

Endlich, endlich im Michelshof! Es dämmerte schon. Alle 131 waren daheim, kamen scheu aus Haustür und Stall, ahnten Unheil. Urban hob Flur aus dem Wagen, Fabian sollte das Kind im Schal nehmen. Fabian wurde aber kreidebleich und weigerte sich. Urban zwang ihn nicht. Er trug Flur in die Kammer, legte sie auf das Bett. Die Magd brachte stumm, verstört das Bündel. Der kleine Sarg stand in der Kammer, quer über der Wiege. Sie legten das Kind hinein, und Urban schraubte sogleich den Sarg zu und ließ ihn in die Ehrenstube bringen. Dann spannte er frisch ein und sandte Fabian zum Arzt. Der Knabe gehorchte zitternd.

Urban saß nun neben Flurs Lager, noch nicht frei von seinen kreisenden Gedanken. Aber er sagte von Zeit zu Zeit leise über Flur hin: »Schlaf, schlaf, schlaf lang und gut, dann kommt eine andere Zeit.«

Er meinte, der Schlaf erlöse vom Grauen und vom herbsten Schmerz. Das meinte auch der Arzt, der bald eintraf und alle Unglücksbotschaften vernommen hatte.

Vor dem Uhrenmichelshof erhob sich am Abend ein Geraun, eine dunkle Woge von Menschenstimmen. Bauern und Frauen, Knechte und Mägde, Schulkinder standen vor dem Haus und besprachen gedämpft den Heldentod Martins, das Sterben des Kindes und den grausigen Verzweiflungsgang der Mutter. Überm Michelshof, das wollten nun alle spüren, krümmte sich wieder die Faust des Fluches wie früher. Und so, als wäre er der Geist des Unheils, tauchte plötzlich ein gekrümmter, bärtiger Mann durch die Menge. Murmelte: »Gott der Gerechte, was hält da Maulaffen feil?«

Es war Veitel Asch, der mit einer Krätze voll Handelswaren und einem jungen Hammel im Michelshof einkehrte, um sein gewohntes Obdach zu erbitten.

 


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