Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Und nun lief alles wieder seinen gewohnten Gang. Sixta stand nach fünf Tagen auf; das schwache Kindchen schien eifriger die Brust zu nehmen. Markus schaffte wortkarg und düster in Haus und Stall. Er ging nicht in die Kirche. Sixta fragte ihn aus, er sagte aber nur: »Ich habe Gott verloren und glaube an nichts mehr.«
Da weinte sie heimlich. Oft betastete der Bauer seine Flinten, aber er nahm sie nicht in den Wald. Oft litt er Schmerzen am Bein, namentlich wenn das Wetter wechselte, und war dann zutunlicher, während Sixta ihm Kirschwasserumschläge auf die Narbe legte. Er erzählte dabei manches aus dem Feldzug; die Kinder horchten mit aufgerissenen Augen zu, verstanden kaum etwas; nur daß der Vater sprach, war ihnen erstaunlich, ein Wunder. Andreas, der Dreijährige, durfte ihm zuweilen aufs Knie. Er war ein aufgeschossener, magerer Bub, mit großen, brennenden Augen. Sprechen konnte er noch nicht.
Sixta setzte Hoffnungen auf ihren Vater; der vermochte gewiß den Trübsinn ihres Mannes zu heilen, hinwegzubesprechen 36 und sein unnatürliches Altern von ihm zu nehmen. In der Tat sah Markus stark gealtert aus, mit durchgrabener Stirn, hohlen Augen und tiefen Rinnen neben den Nasenflügeln. Nachts fuhr er laut schreiend aus wirren Träumen empor.
»Er ist krank am Gemüt«, meinte der Pfarrer, dem Sixta die Not anvertraut hatte. Vor anderen hielt sie das geheim. Wenn sie das Bild der Agathe in der Stube ansah, das Lukas Kirner gemalt hatte, so geriet sie in Angst; denn an Schwermut war die Mutter des Bauern gestorben. Indessen half nicht der Uhrenwendel dem schwerblütigen Markus aus der dumpfen Befangenheit des Gemütes, sondern der alte Schneider Josua Albiez, der in diesen Tagen auf die Stör in den Michelshof kam.
Es war inzwischen Januar geworden, und aus den Zeitungen las man, daß der Krieg ein Ende habe. Vier Bauernsöhne aus dem Schiltebach waren gefallen, andere, jedoch wenige, schmachteten in Gefangenschaft, sonst standen bis jetzt alle noch heil im Heere. Am 18. Januar fand der große Schlußakt der deutschen Verbrüderung in Versailles statt, von dessen Bericht die Bauern nur eines verstanden: daß es jetzt ein großes Deutsches Reich gab, zu dem Preußen gehörte, und daß Preußens König nun Kaiser war über allem. Man besprach diese Ereignisse heftig in den Wirtschaften; denn die Preußenfeindschaft zünselte noch fröhlich in den Bauernköpfen. Es war eine ehrliche Feindschaft, die vielfach aus der Verschiedenheit des Wesens von Nord und Süd sprang, auch waren die schmählichen Auftritte der achtundvierziger Jahre noch unvergessen. Freilich, der Bismarck, sagten die meisten, könnte aus dem Schwarzwald geboren sein; denn sein Kopf sei hart genug, sein Wort zäh und klar wie Fichtenharz. Um Bismarcks willen, dessen Bildnis als Öldruck bereits von Händlern über den Wald getragen und verschleißt wurde, um dieses Eisenkopfes willen gewöhnte man sich an Preußen. Diese unerwartet neuen politischen Ereignisse gaben viel Stoff zu beliebten Gesprächen, zu witzigen und heißen und nadelscharfen; denn der Schwarzwälder ist in der Politik ein rascher, begabter Kämpfer und Denker, so eindringlich und hingebend, wie er in religiösen Fragen ein besessener Grübler und glühender Sektengründer zu sein vermag.
Zu letzteren gehörte nun vor allem dieser Josua Albiez, ein 37 schier Sechzigjähriger mit dem Kopf eines Dreißigjährigen und den feurigen, lebhaften Augen eines Jünglings. Er war ein Schwärmer, ein gescheiter, aber unbesonnener Mensch und einer, der in jedem Brei rühren und in jedes Feuer blasen mußte, auch wenn er daran sein loses Maul verbrannte. Er war ein Kobold, kein Verlaß war auf ihn in ernsten Dingen; denn er tat das, wozu ihn seine Augenblicksgelüste trieben, und die trieben meistens dahin, wo etwas faul stand im Staate Dänemark. Er war nicht der Geist, der das Gute will und das Böse schafft, obschon er Mephisto nicht unähnlich schien. Der Augenblick gebot ihm, und die augenblickliche Seelenhaltung eines Menschen bestimmte sein Tun und Lassen. Er wurde sehr oft zum Gelächter der ganzen Gegend, aber dieses Gelächter trug trotz allen Hohnes einen Schwung Achtung in sich; denn immer hatten die Taten des närrischen Schneiders zwei Seiten, eine lustige und eine tiefernste sozusagen, man verlachte ihn und dachte nachher doch: Wenn man die Sache recht anschaut, so hat der Albiez eigentlich den Nagel auf den Kopf getroffen.
Mit dem Vater des Michelshofers freilich hatte Albiez einen schweren Stand gehabt. Der Stoffel machte schnell Schluß mit allem, was ihm gegen den Strich ging, und Josua ging ihm einmal schärfer dagegen, als recht war, in jener Zeit, da der Bruderhof abbrannte, in den Stoffel Götz geheiratet hatte. Der Schneider deutete mit hämischen Worten einen schmachvollen Verdacht an, um dessentwillen man die Bäuerin Agathe vors Gericht nahm: sie solle das Haus angezündet haben. Markus' Mutter Agathe litt damals unter der Einsamkeit des Einödhofes und verlor darin ihr fröhliches Gemüt. Der Verdacht schien böswillig ersonnen; denn Agathe kam völlig frei. Albiez besaß einen Spürsinn für die unausgesprochenen Regungen und Gedanken der Menschen, und er zupfte sie mit klugen und lüsternen Fingern ins Zwielicht. Er riet das Richtige und beriet, ob recht oder unrecht, sei dahingestellt, die Irrenden. Aber wenn seine Saat schlechte Früchte zeugte, erntete er sie nicht mit, sondern verzog sich feige. Albiez schillerte in allen Farben, seine Umwelt formte sich stets neu und beweglich. Das konnte Stoffel, der starre Bauer, in den Tod nicht ausstehen, auch war ihm das geschwinde Auge des Schneiders zuwider, das jedem strammen Blick behende auswich; drum wies er ihm die Tür. 38
Später dann, als mancher Abgrund sich eingeebnet und manche Wunde vernarbt war, auch die Jahre viel dazu geholfen hatten, Rauhes zu glätten, kam Stoffel nach dem mißglückten Vogtsamt durch einen lächerlichen Zufall dazu, den närrischen Schneider Albiez wieder ins Haus zu holen. Seither hockte Albiez Jahr um Jahr wieder auf dem Schneidertisch im Michelshof, nähte Mannsgewand und Weiberröcke mit großer Geschicklichkeit, plätzte Hosen und machte aus Altem Neues für die Kinder. Immer noch fuhrwerkte sein Mund gern, wenn auch nicht mehr so unbesonnen wie früher. Und seinen lebhaften Augen entging nichts.
Wie er den Bauern Markus Götz so grillig umhergehen sah mit saurer Miene und einem Mund, den man wohl mit einem Meißel aufbrechen mußte, damit er sprach, wachte sogleich die Leidenschaft des Schneiders auf, fremde Seelenrätsel zu erraten. Er brauchte die Augen nicht, um zu sehen; seine Ohren, scharf wie Luchsohren, vermittelten ihm genug, und was in der Luft lag, tastete er mit den Fingerspitzen zu sich her. Er sog magnetisch das Geheimnis seiner Mitmenschen aus der Verborgenheit. Diesmal saß Albiez so glühend und ehrgeizig auf der Lauer, daß er es nicht versuchte, von der Bäuerin Sixta auf die Fährte gelenkt zu werden. Er sagte nur, als sie einmal durch die Stube ging, bedeutsam: »Euer Bauer gefällt mir nicht, der ist noch nicht ganz aus dem Krieg daheim.«
»Das nicht, aber . . .« meinte Sixta kurz und verließ die Stube.
Nicht lange darnach, es war kurz vor Feierabend, trat der Bauer ein, mürrisch, verschwitzt, hinkend, hockte sich auf die Ofenbank und starrte durch die Fenster in den sinkenden Tag. Albiez nadelte still weiter. Die Kinder lärmten draußen. Das Vieh muhte wohlig im Stalle vor den vollen Raufen und Kübeln. Da meinte Albiez, lächelnd aufschauend, als lausche er dem Kinderlärm draußen: »Hört, Bauer, das ist ein Leben, so viel Lebendiges hat der Uhrenmichelshof wohl nie gesehen. Seid ein gesegneter Mann.«
»Wenn auch ein Hinkemann«, knurrte Markus, erhob sich und schritt, seinen ungleichen Tritt trotzig betonend, ein paarmal die Dielen auf und nieder. 39
»Ein Stelzfuß wäre schlimmer«, lachte Albiez, »noch schlimmer wär' der Tod.«
»Meint Ihr?« Der Bauer blieb vor dem Tisch des Schneiders stehen: »Ich – hab' ihn nicht gemieden.«
»Ihr redet bös, Bauer, wer so lästert, verdirbt's mit dem Himmel.«
»Da kommt Ihr auf das Richtige, Mensch. Mit Eurem himmelblauen Himmel ist einer fertig, der erlebt hat, was für Teufel die Menschen sind. Die sind nicht so erschaffen worden, wie man gelehrt bekommt, freilich eine Hand voll Dreck, das stimmt, aber alles andere . . . Glaub's, wer es will. Der Gott, den Ihr berichtet, ist falsch, der Mensch, den Ihr predigt, ist falsch. Ich glaube an nichts mehr als daran, daß alles geht, wie es muß. Einmal ist das Geschöpfte göttlich gewesen, der, aus dessen Geist es kam, hat es in ewige Ordnung geteilt, gestoßen, bewegt, sei es, wie es will. Aber er hat dies alles verlassen, er ist nicht mehr da, er kümmert sich nicht mehr drum, ich glaub' es nicht. Hundertmal auf dem Krankenbett habe ich darüber nachgedacht und bin am Ende dazu gekommen: Wir sind verlassen.«
»Und Christus, Bauer? Der für die Sünden der Welt starb?«
»Christ?«
Markus trat erregt an ein Fenster, starrte hinaus. Schweigen rann durch die Stube. Plötzlich hob Markus die Faust und schlug in die Scheibe, daß sie zerklirrte: »Er starb umsonst. Ist denn Friede unter den Menschen? Auch er war verlassen.«
Da sprang Albiez vom Tisch, stürzte sich auf den jungen Bauern, hieb auf ihn ein und schrie dazu wie besessen: »Ketzer, Ketzer!«
Sixta kam entsetzt und trennte die Männer. Markus hatte kein Glied gerührt, er lächelte bloß; denn der alte, schmale Schneider besaß zu wenig Kraft, ihm weh zu tun. Albiez sank schließlich keuchend und erschöpft auf die Ofenbank.
»Das Kainsmal brennt ihm auf der Stirn, Bäuerin«, sagte er mühsam.
»Richtig, Albiez; denn Kain war ein Bauer, der erste rechte Bauer, und so stamme ich aus seinem Geschlecht, ihn verließ Gott, weiß jemand, warum? Er opferte Feldfrüchte und ward 40 verworfen. Abel tötete sein Lieblingslamm und ließ das Blut über den Altar rinnen und mit seinem Gebet den Todesschrei des Tieres an des Ewigen Ohr dringen und wurde erhört. Warum? Gott war es nicht, der so entschied; auch wenn Opfer Opfer ist. Dort schon hatte Gott seine Schöpfung verlassen.«
Sixta hielt sich die Ohren zu, trat aber nahe zu Markus hin, faßte ihn am Arm: »Komm, du bist ja krank, Bauer.«
Albiez hatte sich indessen gefaßt: »Der Bauer soll vielleicht eher dableiben«, sagte er, »und alles herauslassen, was in ihm wühlt; das Gift, das man ausspeit, schadet dem Leib nicht mehr.«
Da verließ Sixta abermals die Stube und speiste Gesinde und Kinder in dem hinteren Gemach ab, das sonst nur für die Bauersleute und Ehrengäste war. Was noch geredet wurde zwischen den Männern, erfuhr sie nie, aber daß ihr Mann von diesem Abend an wieder heller und zugänglicher wurde, das rechnete sie dem Albiez in ewiger Dankbarkeit zu.
Der tiefste Grund der Erlösung des Bauern lag jedoch in ihm selber. Er hatte sich aus den Greueln des Krieges und den Qualen des Heimwehs in diese Grübeleien hineingerannt wie in einen Rausch und fand darnach nicht mehr zurück in sein Seelenheil. Er hinkte heim, das Herz voll von bitteren Erlebnissen und ungelösten Fragen, die alle um die große, unerbittliche Grausamkeit des Krieges kreisten. Wer führte in diese Qual, was half es den Menschen, einander auf diese elende Art zu morden, feig, hinterhältig, listig? Warum gab ihm keiner ein gutes Wort, sahen sie ihn scheel an, furchtsam? Weil ihn lange keine Kugel traf. Er hatte gebetet, aber keinen Frieden verspürt. Er fand nicht mehr aus dem schlimmen Bauwerk seines Irrglaubens heraus. Und suchte den Weg. Er schämte sich, daß er ihn verloren hatte und suchen mußte, was jedes Kind gläubig verehrte. Er schämte sich aber auch, einen Führer zu suchen, der ihm heraushelfen sollte. Er kehrte heim und säte wieder, aber die Ernte verkam unterm Hagelwetter. Also kein Segen in der säenden Hand. Im Stall lauter kleines Unglück. Strafte ihn Gott, führte doch einer die Dinge ihre Wege? Er wankte in seinem Groll. Er beobachtete düster den Ablauf der Dinge. Der Andreas lernte kaum sprechen, er schien sogar manchmal nicht normal zu denken, aufzufassen, er blieb stumm 41 und dumpf gegen so vieles im Alltag. Das jüngste Mädchen hatte immer noch ein Greisengesicht, grau und runzlig, und die Zwillinge waren unbändig wild und laut, wie wenig Kinder. Mißtrauisch beobachtete Markus alles. Nur Sixta schien unabänderlich gut, heiter und immer bereit zu hegen und zu helfen. Sie besaß jetzt ein geduldiges Herz. Von ihr allein lernte Andreas die Wörter ab, ihr lächelte das Greisengesicht zu, daß es jung aussah; ihr gehorchten die wilden Zwillinge und hielten im Toben und Schreien inne. Morgens und abends hörte Markus sie beten in demütiger Inbrunst und immer nur Dankgebete. »Man braucht den Allwissenden nicht zu bitten«, sagte sie, »er weiß, was uns fehlt, so wie die Mutter weiß, was ihrem Kinde fehlt.«
Wenn sie geahnt hätte, daß Markus nur ein großes Kind war, das sich verlaufen hatte, vielleicht wäre er schon lange durch ihre Muttergüte gerettet worden. So aber erkannte sie ihn nicht, weil er als Mann so hoch über sie gestellt war und sie nichts anderes wollte, als zu ihm aufschauen und ihm untertan sein.