Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Aus dem Schooße der Nacht entsproßten der Tag und der Aether.

Hesiod.

Die Sonne des Mai's schien heiter über die friedliche Vorstadt H***. Auf den Straßen herrschte bewegtes Leben. Es war Mittag – die Stunde wo der Handel belebt, die Straßen voll sind. Der alte Gewerbsmann, der sich zur Ruhe gesetzt, aufmerksam den dahinrollenden, oft inne haltenden Omnibus betrachtend, athmete die frische, würzige Luft in der breitesten und belebtesten Straße, wo man in der Ferne die Thurmspitzen der Hauptstadt sich erheben sah. Der aus der Schule entlassene Knabe eilte heim zum Essen, seine Tasche aus dem Rücken; die Balladensängerin ließ ihr unmelodisches Gestöhne durch die obskureren Gassen ertönen, wo der Bäckerjunge mit Puddings auf seinem Speisebrett, und die geputzte Dienstmagd, die nach Porter ausgeschickt war, lauschend stehen blieben. Und um die Läden herum, wo wohlfeile Shawls und Kattune das weibliche Auge lockten, hielt manches verzögerliche Mädchen ihre ungeduldige Mutter hin, und äugelte nach den Preiszetteln, und berechnete ihre mit saurer Mühe gewonnenen Ersparnisse für den Sonntagsstaat. Und in den Straßenecken dampften die wandernden Küchen der Pastetenbäcker, und erhob sich der gellende Ruf: »Ganz heiß! ganz heiß!« vor dem Ohre hungriger und zerlumpter Kinder. Und durch Alle rollte dahin die bequeme Kutsche eines alten Kaufmanns oder einer verwelkten Jungfer, die Nichts von irgend einem andern Leben wußten, als das durch ihre trägen und verknöcherten Adern kroch. Und vor dem Hause, wo Katharine gestorben, schlenderten viele müßige Leute herum, das Klatschpublikum des Fleckens, Abonnenten des anstoßenden Lesekabinets, sich verwundernd, und Vermuthungen und schlaue Gedanken vorbringend über das lustige Läuten der Hochzeitglocken, das von der Kirche hinten erschallte.

Endlich sah man auf der breiten Straße von der Hauptstadt her rasch drei Wagen daherfahren, in ihrer ganzen Erscheinung sehr verschieden von den in der Vorstadt üblichen. Sie näherten sich; rasch bogen sie um die Ecke nach der Kirche; die Hufe der stattlichen Rasse ertönten lustig auf dem Pflaster, die weißen Bänder der Diener glänzten in der Sonne. Glücklich die Braut, auf welche die Sonne scheint! Und als die Wagen so verschwunden waren, floßen die zerstreuten Gruppen in Einen Haufen zusammen und Alle eilten nach der Kirche. Sie standen müßig außen auf dem Begräbnißplatz; Viele von ihnen um das Gitter, welches Catharinens einsames Grab vor ihren Fußtritten schützte. Alles in der Natur war froh, erheiternd, und doch mild; eine freundliche Frische wehte durch die laue Luft; nicht ein Wölkchen war am lächelnden Azur zu sehen; selbst die alten dunkeln Eibenbäume schienen glücklich in ihrem ewigen Grün.

Die Glocke hörte auf, und jetzt wurde auch die Menge still; kein Laut ward vernommen auf dem geweihten Platz, in dessen Bereich Geburt, Hochzeit und Tod gleicherweise fallen.

Endlich kam aus der Kirchenthüre hervor die stattliche Gestalt eines rosenfarbnen Küsters. Als er sich den Gruppen näherte, flüsterte er den Bessergekleideten und herrschte er den Zerlumpten zu, machte den Alten Vorstellungen, und hob seinen Stock gegen die Jungen auf; und das Ergebniß von Allem war, daß der Kirchhof, nicht ohne Gemurr und Widerreden, geräumt ward, und die Menge auf den Platz hinter dem Haupteingang zurückwich, wo sie umherschlenderten, und gafften und plauderten um die Wagen her, welche die Hochzeitleute fortführen sollten.

In der Kirche selbst führte, als jetzt die Ceremonie vorüber war, Philipp Beaufort seines Bruders Gattin an der Hand das Schiff entlang.

Auf seinen Stock gestützt; sein kaltes Hohnlächeln um die dünne Lippe, hinkte Lord Lilburne gleichen Schrittes mit dem Paar daher, obwohl etwas von ihnen entfernt, und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf Philipp Beauforts Antlitz, wo er einen Schmerz zu lesen gehofft, den er nun nicht darin entdeckte. Lord Lilburne hatte bis zu diesem Tage sorgfältig jede Zusammenkunft mit Philipp vermieden, und er kam jetzt nur zur Trauung, wie ein Arzt in ein Hospital geht, um eine Krankheit zu beobachten, die man ihm als schwer und bedeutend geschildert; er täuschte sich aber.

Dicht hinter ihnen folgte Sidney, strahlend in Freude, Jugendblüthe und Schönheit; und sein wohlwollender Pflegevater, dem die Thränen aus den Augen stürzten, murmelte Segenswünsche, indem er ihn ansah. Mrs. Beaufort hatte abgelehnt, Zeugin der Ceremonie zu seyn – ihre Nerven seyen zu schwach – aber hinter den Genanntem in größerer Entfernung, kam Robert Beaufort, nüchtern, anständig, gefaßt wie immer dem äußern Anschein nach; aber ein scharfer Beobachter hätte bemerken können, daß sein Auge seinen gewohnten, selbstgefälligen, schlauen Ausdruck verloren hatte, daß sein Schritt schwerfälliger, seine Verbeugung freudloser war. Sein ganzes Wesen hatte etwas Kleinlautes, Gedemüthigtes. Das Bewußtseyn seiner Hufen Landes war aus seinem stattlichen Auftreten gewichen; er war nicht mehr ein Besitzer, sondern ein Pensionär. Der reiche Mann, der nach Lust und Neigung über das Glück Andrer entschieden hatte, war eine Null; er hatte kein Interesse mehr an irgend Etwas. Was war ihm die Heirath seiner Tochter jetzt? Ihre Kinder wurden ja nicht Erben von Beaufort.

Als Camilla sich freundlich umwandte, und unter seligen Thränen sein Herankommen erwartete, um seine Hand zu drücken, zwang er sich zu einem Lächeln, aber es war trüb und jämmerlich. Es verlangte ihn fortzugehen und allein zu seyn.

»Mein Vater!« sagte Camilla mit ihrer süßen, leisen Stimme; und sie riß sich von Philipp los und warf sich an ihres Vaters Brust.

»Sie ist ein gutes Kind,« sagte Robert Beaufort gedankenlos; und sein trockenes Auge auf die Gruppe heftend, half er sich instinktmäßig mit seinen gewohnten Gemeinplätzen: »Und ein gutes Kind, Mr. Sidney, gibt eine gute Gattin!«

Der Geistliche verbeugte sich, als wäre das Compliment an ihn gerichtet; er war der Einzige unter den Anwesenden, den Robert Beaufort noch täuschen konnte.

»Meine Schwester,« sagte Philipp Beaufort, als sie sich wieder auf seinen Arm stützte, und sie vor der Kirchthüre stehen blieben, »möge Sidney Euch lieben und hochhalten wie – wie ich gethan haben würde; und glaubt mir Beide, ich habe keinen Schmerz mehr, keine Erinnerung, die mich verwundet.«

Er ließ ihre Hand los, und winkte ihrem Vater, sie an den Wagen zu führen. Dann seinen Arm in den Sidneys legend, sagte er:

»Wartet, bis sie weg sind, ich habe noch ein Wort zu sprechen; geht zu, Ihr Herren!«

Der Geistliche verbeugte sich und schritt über den Kirchhof. Lilburne aber blieb stehen – warf auf Philipp Beaufort einen prüfenden Blick, und sagte zu ihm, in flüsterndem Tone:

»Und so gehts mit dem Gefühl – der Narrheit! so mit der Großmuth – der Selbsttäuschung! Glücklicher Mann!«

» Ich bin vollkommen glücklich, Lord Lilburne.«

»Seyd Ihr? – Dann war es weder Gefühl noch Großmuth; und wir wurden hintergangen. Guten Tag!«

Damit hinkte er langsam dem Thore zu.

Philipp antwortete nicht einmal mit einer Miene auf den Sarkasmus. Denn in diesem Augenblick erhob der Pöbel draußen ein lautes Jubelgeschrei; – sie waren der Braut ansichtig geworden.

»Kommt, Sidney, hieher; ich darf Euch nicht lang aufhalten.«

Arm in Arm schritten sie aus der Kirche, und wandten sich nach dem ganz nahen Platz, wo ihnen von dem Stein auf ihrer Mutter Grab Blumen entgegenlächelten.

Die alte Inschrift war ausgelöscht, und der Name: Katharine Beaufort, auf den Stein gesetzt worden.

»Bruder,« sagte Philipp, »vergiß dies Grab nicht – in Jahren nicht, wenn Kinder um Deinen eignen Herd spielen. Bemerke, der Name Katharine Beaufort ist frischer auf dem Stein, als das Datum der Geburt und des Todes – erst heute ward dieser Name hier eingegraben – an Deinem Hochzeittage! Bruder;, durch dies Grab sind wir jetzt wirklich vereint!«

»Oh, Philipp;« rief Sidney in tiefer Rührung, die ihm dargebotene Hand ergreifend und drückend; »ich fühle, ich fühle, wie edel, wie groß Du bist – daß Du Mehr geopfert, als ich im Traume geahnt –«

»Still!« sagte Philipp mit einem Lächeln. »Kein Wort hiervon. Ich bin glücklicher als Ihr glaubt. Geh zu, sie erwartet Dich!«

»Und Du? – Dich verlassen? – allein!«

»Nicht allein!« sagte Philipp, auf das Grab deutend.

Kaum hatte er dies gesagt, als man vom Thore her die gellende, klare Stimme Lord Lilburnes horte:

»Wir warten auf Mr. Sidney Beaufort!«

Sidney fuhr mit der Hand über die Augen, preßte noch einmal seines Bruders Hand, und war in einem Augenblick an Camillas Seite.

Noch einmal ertönte der Jubelruf, die Räder knarrten. die Hufe stampften – ein fernes Gemurmel und Gesumme – und Alles war still. Der Küster kam zurück, um die Kirche zu schließen – er bemerkte nicht, wo Philipp stand im Schatten der Mauer – und ging nach Hause, um von der fröhlichen Vermählung zu schwatzen, und sich zu erkundigen, um welche Stunde am folgenden Tage das Begräbniß einer jungen Frau, seiner nächsten Nachbarin, stattfinden solle.

Es mochte eine Viertelstunde seyn, seit Philipp so allein geblieben – und er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, als er sich leise am Ermel gezogen spürte. Er wandte sich und sah das ernste Antlitz Fannys vor sich!

»So wolltet Ihr also nicht zu der Trauung kommen?« sagte er.

»Nein. Aber ich dachte mir, Ihr würdet hier allein seyn – und traurig.«

»Und Ihr wollt nicht einmal den Anzug tragen, den ich Euch schenkte?«

»Ein ander Mal. Sagt mir, seyd Ihr unglücklich?«

»Unglücklich, Fanny! Nein, sieh umher! den Begräbnißplatz selbst umschwebt ein Lächeln. Sieh den Laburnum, der über die Mauern wuchert, lausche den Vögeln auf den Eibenbäumen droben, und sieh dort! der Schmetterling selbst hat sich auf ein Grab gesetzt! – Ich bin nicht unglücklich.«

Wie er so sprach, schaute er sie ernst an, und dann ihre beiden Hände in die seinigen nehmend, zog er sie sanft an sich, und fuhr fort:

»Fanny, erinnerst Du Dich noch, wie ich einst, auf dies Thor gelehnt, Dir von dem Glück der Ehe sprach, wenn zwei Herzen vereinigt sind. Nein, Fanny, nein, ich muß fortfahren. Hier auf diesem Platz, hier sah ich Dich zuerst nach meiner Rückkehr nach England. Ich kam, um die Todte zu besuchen, und ich habe seither gedacht, es sey meiner Mutter Schutzgeist gewesen, der mich hieher zog, Dich zu finden – die Lebende! Und oft nachher, Fanny, kamst Du mit mir hieher, wenn ich, blind und stumpf wie ich war, hier in finstrer Trauer brütete, nicht achtend der Schätze, die damals schon in meinem Bereich waren. Aber es war so am besten. Die Prüfung, die ich durchgemacht, hat mich um so dankbarer gemacht für den Preis, den ich jetzt zu hoffen wage. Auf diesem Grab hat Deine Hand täglich die Blumen erneut. Bei diesem Grabe, dem Band zwischen der Zeit und der Ewigkeit, bei diesem Grab, dessen Lehren wir mit einander gelesen, willst Du hier einwilligen, unsere Gelübde auszutauschen? Fanny, Liebste! Holdeste! Zärtlichste! ich liebe Dich, und endlich so, wie Du allein geliebt werden mußt! – ich werbe um Dich zur Gattin! Sey mein – nicht für eine kurze Zeit, sondern für immer – für immer, selbst wenn diese Gräber sich aufthun, und die Welt zusammengerollt wird wie ein Pergament. Verstehst Du mich? – hörst Du mich? – oder habe ich geträumt, daß – daß –«

Er hielt inne – Bestürzung erfaßte ihn bei ihrem Schweigen. Hatte er sich geirrt in seinem göttlichen Glauben? – seine Furcht dauerte nur einen Augenblick; denn Fanny, die zurückgetreten war, als er redete, trat jetzt, die Hände an die Schläfe drückend, ihn anstarrend, athemlos, mit offenem Munde, als ob wirklich ihr bescheidenes Gemüth nur mit großer Anstrengung und Kampf die Möglichkeit des auf sie einstürmenden Glückes begriffe, schüchtern, ihr Antlitz mit Purpur übergossen, auf ihn zu; und ihm ins Auge sehend, als wollte sie in seiner innersten Seele lesen, sagte sie in einem Tone, dessen Innigkeit zeigte, daß ihr ganzes Schicksal an seiner Antwort hing:

»Aber ist dies nicht Mitleid? Man hat Euch gesagt, daß ich – kurz, Ihr seyd großmüthig – Ihr – Ihr – Oh! täuscht mich nicht! Liebt Ihr sie noch? – Könnt Ihr – liebt Ihr die niedrige, närrische Fanny?«

»So wahr Gott mich richten wird, Holde, ich bin aufrichtig! Ich habe eine Leidenschaft überlebt, die nie so süß, so zärtlich, so völlig war wie die, die ich jetzt für Dich fühle! Und oh! Fanny, höre dies wahre Geständniß! Du warest es – Du, zu der mein Herz sich wandte, eh' ich Camilla sah! – Gegen diese Neigung kämpfte ich in der Blindheit eines hochmüthigen Irrthums.«

Fanny stieß einen leisen, unterdrückten Schrei der Freude und des Entzückens aus. Philipp fuhr mit Leidenschaft fort:

»Fanny, mache das Leben glücklich und selig, das Du gerettet hast. Das Schicksal bestimmt uns für einander. Das Schicksal hat für mich Dein holdes Gemüth gezeitigt. Das Schicksal hat für Dich diesen meinen rauhen Geist gesänftigt. Wir haben vielleicht noch viel zu tragen und viel zu lernen. Wir wollen einander trösten und lehren!«

Er zog sie, indem er so sprach, an seine Brust – die Zitternde, Erröthende, Verwirrte, die sich aber nicht mehr sträubte; und hier, bei dem Grabe, das ein so denkwürdiger Platz gewesen in der Geschichte Beider, wurden jene Gelübde geflüstert, in welchen Alles, was diese Welt von menschlichem Glück enthält, enthalten und beschlossen ist – Liebe, die dem Leid den Stachel nimmt, und Treue, die der Liebe Ewigkeit verleiht. Alles war still, aber Alles heiter um sie! Droben der Himmel, – zu ihren Füßen das Grab: für die Liebe das Grab! für die Treue der Himmel!



 << zurück weiter >>