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Eilftes Kapitel.

Ihr steht erstaunt? Um schaut Euch, Maximinian!
Schau das Entsetzen droh'nd ob Deinem Haupt.

Beaumont und Fletcher, Die Prophetin.

Philipp war seit fünf Wochen in seiner neuen Heimath; nach einer weiteren Woche sollte er förmlich als Lehrling eintreten. Mit einem finstern, unüberwindlichen Trübsinn hatte er die Obliegenheiten seines Noviziats angetreten. Er unterzog sich Allem, was man ihm auferlegte. Er schien auf immer den ungestümen, unbotmäßigen Eigensinn abgelegt zu haben, der ihn als Knabe ausgezeichnet, aber nie sah man ihn lächeln – kaum öffnete er je den Mund. Seine Seele selbst schien ihn mit ihren Fehlern verlassen zu haben; und er verrichtete alle Geschäfte seiner Stelle mit der ruhigen, gleichgültigen Regelmäßigkeit einer Maschine.

Nur wenn die Arbeit des Tages gethan und der Laden geschlossen war, pflegte er, statt sich dem Familienkreis im Wohnzimmer anzuschließen, in der Dämmerung des Abends außerhalb der Stadt herumzuschweifen, und nicht früher heimzukommen, als um die Stunde, wo die Familie sich zur Ruhe begab. Pünktlich in allem, was er that, überschritt er diese Stunde nie.

Er hatte wöchentlich einmal von seiner Mutter Nachricht erhalten; und nur an dem Morgen, wo er einen Brief erwartete, schien er unruhig und aufgeregt. Bis der Postbote in den Laden trat, war er blaß wie der Tod; seine Hände zitterten – seine Lippen waren zusammengepreßt. Wenn er den Brief las, wurde er gefaßt und ruhig: denn Katharine verheimlichte ihrem Sohn geflissentlich den Zustand ihrer Gesundheit; sie schrieb ihm getrost und heiter, bat ihn, mit der Lage in die er versetzt sey, zufrieden zu seyn, und sprach ihre Freude darüber aus, daß er in seinen Briefen eine solche Zufriedenheit an den Tag lege; denn des armen Jünglings Briefe waren nicht weniger rücksichtsvoll als die ihrigen.

Nach ihrer Rückkehr von ihrem Bruder hatte sie insoweit ihre Besorgnisse verschwiegen oder verhehlt, daß sie ihre Befriedigung aussprach über die neue Heimath, welche sie für Sidney aufgefunden; und sie ließ sogar Hoffnungen für die Zukunft blicken, wo sie abwechselnd bei ihren Söhnen ihren Aufenthalt nehmen könne, wenn deren Lehrzeit vorüber und ihre Unabhängigkeit gesichert sey. Diese Hoffnungen verdoppelten Philipps Eifer und Fleiß, und er ersparte jeden Schilling seines wöchentlichen Lohnes; und er seufzte bei dem Gedanken, daß in der nächsten Woche seine Lehrzeit anfangen, und der Lohn aufhören solle.

Mr. Plaskwith konnte im Ganzen nur zufrieden seyn mit dem Fleiß und der Emsigkeit seines Gehülfen; aber er war ärgerlich und gereizt über sein finsteres Wesen, und Mrs. Plaskwith, die arme Frau! die verabscheute geradezu und entschieden den schweigsamen und verstockten Jungen, der nie an den Späßen des Familienkreises Antheil nahm, nie mit den Kindern spielte, ihr nie Artigkeiten sagte, kurz gar Nichts zur Geselligkeit und Lust des Hauses beitrug.

Mr. Plimmins, der zuerst den Herablassenden zu spielen gesucht, versuchte nachmals den Trotzigen und Vornehmen zu spielen; aber die nervigte Gestalt und das wilde Auge Philipps flößten dem schmächtigen jungen Mann wider seinen Willen Respekt ein; und er gestand der Mrs. Plaskwith, daß er dem »Zigeuner« nicht gerne allein in einer finstern Nacht begegnen würde; worauf Mrs. Plaskwith wie gewöhnlich erwiederte: ›Mr. Plimmins habe eben doch immer die besten Einfälle auf der Welt!‹

 

Eines Morgens war Philipp einige Meilen weit weg geschickt worden, um bei der Katalogisirung von Büchern in der Bibliothek des Sir Thomas Champerdown zu helfen, da dieser Gentleman, ein Gelehrter, verlangt hatte, daß man ihm Jemand schicke, der das Griechische lesen könne, und Philipp allein im Laden diese gelehrte Kenntniß besaß.

Es wurde Abend bis er zurückkam. Mr, und Mrs. Plaskwith waren Beide im Laden als er eintrat – in der That hatten sie sich so eben von ihm unterhalten.

»Ich kann ihn nicht ausstehen!« schrie Mrs. Plaskwith. »Wenn Ihr ihn für gut annehmen wollt, so werde ich keine ruhige Stunde haben. Ich bin gewiß, der Lehrling, der seinem Meister den Hals abgeschnitten hat, in Chatham letzte Woche, war just sowie er.«

»Pah! Mrs. Plaskwith!« sagte der Buchhändler, wie gewöhnlich eine gewaltige Prise Schnupftabak aus seiner Westentasche nehmend. »Ich war auch zurückhaltend als ich jung war Im Original: » when I was young«. – Die Vorlage hat hier: »als jung«, offensichtlich ein Setzfehler. – Anm.d.Hrsg. –; alle nachdenklichen Leute sind es. Ich kann beiläufig auch die Bemerkung machen, daß es ebenso der Fall war bei Napoleon Bonaparte; indeß muß ich doch selbst gestehen, er ist ein unangenehmer Junge, obgleich er sein Geschäft gut besorgt.«

»Und wie er auf sein Geld hinein ist!« bemerkte Mrs. Plaskwith; »er wollte sich kein Paar neue Schuhe kaufen! – ganz schmählich! Und saht Ihr, was er Plimmins für einen Blick zuwarf, als dieser über seine Gleichgültigkeit gegen seine Sohle Im Englischen ein Wortspiel mit soul (Seele). [ Anm.d.Übers.] scherzte? Plimmins hat immer so gute Einfälle!«

»Er kommt schäbig einher,« sagte der Buchhändler, »das ist wahr; aber der Werth eines Buchs hängt nicht immer vom Einband ab.«

»Ehrlich ist er hoffentlich!« bemerkte Mrs. Plaskwith; und, hier trat Philipp ein.

»Hm,« sagte Mr. Plaskwith; »Ihr habt ein langes Tagewerk gehabt; aber ich denke es wird eine Woche erfordern, bis Alles fertig ist.«

»Ich soll morgen früh wieder kommen, Sir, in zwei weiteren Tagen wird das Geschäft beendigt seyn.«

»Da ist ein Brief für Euch!« rief Mrs. Plaskwith. »Ihr seyd mir die Auslage schuldig!«

»Ein Brief!« Es waren nicht seiner Mutter Schriftzüge – es war eine fremde Hand – er rang nach Athem, indem er das Siegel erbrach. Es war der Brief des Arztes.

Seine Mutter war denn krank – sterbend – vielleicht der nothwendigsten Bedürfnisse entbehrend. Sie hätte ihm gern ihre Krankheit und Armuth verheimlicht. Seine Unruhe und Angst steigerte die letztere bis zur wirklichen Noth; – er stieß einen Schrei aus, der durch den Laden gellte und stürzte auf Mr. Plaskwith zu.

»Sir! Sir! meine Mutter ist sterbend; sie ist arm, arm – vielleicht verhungernd! Geld! Geld! – leiht mir Geld! – zehn Pfund! – fünf! – Ich will Euch mein Leben lang umsonst arbeiten, aber leiht mir das Geld!«

»Lirum, larum!« sagte Mrs. Plaskwith, ihren Gatten anstoßend. »Ich hab' Euch gesagt, was herauskommen werde. Das nächstemal wird es heißen: das Geld oder das Leben!«

Philipp hörte oder beachtete diese Rede nicht, sondern blieb dicht vor dem Buchhändler stehen, die Hände gefaltet, wilde Ungeduld in seinem Auge. Mr. Plaskwith, etwas verdutzt, blieb stumm.

»Hört Ihr mich? Seyd Ihr ein Mensch?« schrie Philipp, und seine Gemüthsbewegung offenbarte auf einmal alles Feuer seines Charakters. »Ich sage Euch, meine Mutter stirbt; ich muß zu ihr! Soll ich mit leeren Händen kommen? Gebt mir Geld!«

Mr. Plaskwith hatte kein böses Herz; aber er war ein förmlicher und ein reizbarer Mann. Der Ton, den sein Ladenjunge (denn als solchen betrachtete er Philipp,) gegen ihn annahm, und dazu noch vor seiner eigenen Frau, (Beispiele sind gefährlich!) erbitterte ihn mehr, als daß er gerührt worden wäre.

»Das ist nicht die Art, mit Eurem Herrn zu reden; Ihr vergeßt Euch, junger Mann!«

»Vergessen! – Aber, Sir, wenn es ihr am Nöthigsten fehlt – wenn sie Hungers stirbt?«

»Geschwätz!« sagte Mr. Plaskwith. »Mr. Morton schreibt mir, er habe für Eure Mutter gesorgt. Nicht so, Hannah?«.

»Recht nicht gescheit von ihm, gewiß, bei einer so schönen eigenen Familie. Seht mich nicht so an, junger Mann ich leide das nicht, ich leide es nicht. Ich erkläre, mein Blut gerinnt mir, wenn ich Euch ansehe!«

»Wollt Ihr mir Geld leihen? – fünf Pfund – nur fünf Pfund, Mr. Plaskwith?«

»Nicht fünf Schilling! Mit mir in solchem Tone reden! Bin dazu nicht der Mann, Sir! Kommt, schließt den Laden, und faßt Euch; und vielleicht, wenn Sir Thomas Bibliothek in Ordnung, lass ich Euch in die Stadt. Morgen könnt Ihr nicht gehen. Alles Lug und Trug vielleicht; he, Hannah?«

»Sehr möglich. Fragt Plimmins darüber. Kommt jetzt lieber fort, Mr. Plaskwith. Er schaut drein wie ein junger Tiger.«

Mrs. Plaskwith ging aus dem Laden in das Wohnzimmer. Ihr Gatte, die Hände auf den Rücken gelegt und den Kopf zurückwerfend, war im Begriff ihr zu folgen. Philipp, der die letzte Minute stumm und bleich wie Marmor dagestanden, wandte sich plötzlich um; und in seinem Jammer mehr den Ton der Wuth als des Flehens annehmend, stürzte er auf seinen Herrn zu und sagte, ihm die Hand auf die Schulter legend:

»Ich verlasse Euch – macht nicht, daß ich es mit einem Fluch thue. Ich beschwöre Euch, habt Erbarmen mit mir!«

Mr. Plaskwith blieb stehen; und hätte nur Philipp einen milderen Ton angenommen, so hätte noch Alles gut werden können. Aber von Kind an gewöhnt zu befehlen, jetzt alle seine wilden Leidenschaften in ihm entfesselt – voll Verachtung gegen den Mann, den er anflehete, richtete der Knabe seine Sache selbst zu Grunde.

Entrüstet über das Schweigen des Mr. Plaskwith, und durch seine Gemüthsbewegung zu verblendet um zu sehen, daß in diesem Schweigen schon einige Nachgiebigkeit sich verkündete, schüttelte er plötzlich den kleinen Mann mit einer Heftigkeit, daß er beinahe zu Boden stürzte, und rief:

»Ihr, der Ihr auf fünf Jahre meine Knochen und mein Blut – meine Seele und meinen Leib – der Ihr mich zum Sklaven haben wollt für Euern schnöden Kram – – Ihr verweigert mir Brod für einer Mutter Mund?«

Zitternd vor Zorn und vielleicht vor Furcht, riß sich Mr. Plaskwith ans Philipps Händen los, eilte aus dem Laden und sagte, indem er die Thüre zuwarf:

»Bittet mich noch heute Nacht Richtig: »heute abend«. – Anm.d.Hrsg. für dieses um Verzeihung, oder Ihr müßt morgen früh kurz und gut aus dem Hause! Blitz! Eine schöne Mode ist in der Welt aufgekommen! Ich glaube kein Wort von Eurer Mutter. Bah!«

Allein gelassen kämpfte Philipp einige Augenblicke mit seinem Zorn und seiner Todesangst. Dann ergriff er seinen Hut, den er beim Eintreten weggeworfen – drückte ihn sich in die Stirne und wandte sich, um den Laden zu verlassen, als sein Auge auf die Kasse fiel. Plaskwith hatte sie offen gelassen, und der Schimmer des Geldes zog seinen Blick an – dies tödtliche Lächeln des Erzfeindes und Versuchers. Besinnung Vernunft, Gewissen – Alles war in diesem Augenblick Chaos und Verwirrung. Er warf einen hastigen Blick um sich in dem einsamen, dunkelnden Raume – schob seine Hand in die Schieblade – faßte, er wußte nicht was – Silber oder Gold, was gerade obenlag – und brach in ein lautes, bitteres Gelächter aus. Dies Gelächter selbst erschreckte ihn – es klang nicht wie sein eigenes. Seine Wange wurde weiß und seine Kniee sanken zusammen – sein Haar sträubte sich – es war ihm, als hätte der böse Feind selbst jenen gellenden Freudenschrei über eine gefallene Seele ausgestoßen.

»Nein – nein – nein!« murmelte er; »nein, meine Mutter – nicht einmal um Deinetwillen!« Und das Geld auf den Boden werfend, floh er wie ein Wahnsinniger aus dem Hause.

 

An eben demselben Abend, zu einer spätern Stunde, kehrte Mr. Robert Beaufort von seinem Landsitz nach Berkeley-Square zurück. Er fand seine Gattin in einem sehr angegriffenen Zustand und großer Unruhe wegen des Ausbleibens ihres einzigen Sohnes. Er hatte gegen sieben Uhr seinen Reitknecht und die Pferde nach Hause geschickt, mit einem Zettel, mit Bleistift in aller Hast auf ein weißes Blatt geschrieben, das er aus seiner Brieftasche gerissen, der nur folgende Worte enthielt:

»Wartet mit dem Essen nicht auf mich – ich komme vielleicht noch einige Stunden nicht nach Hause. Es ist mir ein trauriges Abenteuer aufgestoßen. Ihr werdet billigen, was ich gethan, wenn wir uns sehen.«

Dies Billet machte den Mr. Beaufort etwas verdutzt; aber da er sehr hungrig war, blieb sein Ohr taub gegen die Vermuthungen seiner Frau wie gegen seine eigenen Ahnungen, bis er sich erst erquickt hatte; dann ließ er den Reitknecht kommen, und erfuhr, daß nach dem Unfall mit dem blinden Mann, Mr. Arthur im Haus eines Strumpfhändlers in H*** geblieben sey. Dies schien ihm äußerst geheimnißvoll; und da Stunde um Stunde verstrich, und Arthur immer nicht kam, begann er angesteckt zu werden von seiner Frau Besorgnissen, die sich fast bis zu Krämpfen steigerten: und es war gerade Mitternacht, als er seinen Wagen bestellte, und den Reitknecht als Führer mitnehmend, nach der Vorstadt fahren hieß.

Mrs. Beaufort hatte ihn begleiten wollen; aber als der Gemahl bemerkte, daß junge Männer eben junge Männer seyen, und daß denn doch möglicherweise eine Dame im Spiel seyn könnte, ergab sich Mrs. Beaufort nach einigem Besinnen darein, daß, Alles wohl erwogen, es wohl besser sey, wenn sie zu Hause bleibe. Keine Dame von strengem Anstandsgefühl läuft gern Gefahr, sich in eine falsche Stellung versetzt zu sehen. Daher fuhr denn Mr. Beaufort allein weg.

Bequem und leicht war der Wagen – rasch die Pferde und herrlich flog der reiche Mann dahin. Keine Ahnung des wahren Grundes von Arthurs Ausbleiben stieg in ihm auf; aber er dachte an die Schlingen Londons – an schlaue Weiber in bedrängten Umständen; ein »trauriges Abenteuer« hat in der Regel den Sinn, daß Abenteuer – Liebe, und traurig – Geld bedeutet; und Arthur war jung – großmüthig – und sein Herz und seine Tasche gleich offen für Betrug. Solche Verlegenheiten erschrecken jedoch einen Vater, wenn er ein Mann der Welt ist, nicht so sehr wie eine ängstliche Mutter; und mit mehr Neugier als Unruhe fand sich Mr. Beaufort nach einem kurzen Schläfchen vor dem bezeichneten Laden angelangt.

Trotz der späten Stunde, war die Thüre des Nebeneingangs nur angelehnt – ein Umstand, welcher dem Mr. Beaufort sehr verdächtig schien. Er stieß sie mit Vorsicht und Scheue auf – eine auf einen Stuhl in dem schmalen Gang gestellte Kerze warf ein mattes Licht auf die Treppenflucht, bis es der tiefe Schatten verschlang, der von der scharfen Ecke einer Wendung derselben herabfiel. Robert Beaufort stand einen Augenblick im Zweifel, ob er rufen, pochen, zurück oder vorwärts gehen solle, als auf der Treppe oben ein Schritt sich hören ließ – er kam näher und näher – eine Gestalt trat aus dem Schatten des letzten Abschnitte hervor, und Mr. Beaufort erkannte zu seiner großen Freude seinen Sohn.

Arthur jedoch schien seinen Vater nicht zu bemerken, und war im Begriff an ihm vorbeizugehen, als Mr. Beaufort ihm die Hand auf den Arm legte.

»Was bedeutet dies Alles? An welchem Ort bist Du! Wie hast Du uns in Unruhe versetzt!«

Arthur warf einen Blick der Trauer und des Vorwurfs auf seinen Vater.

»Vater,« sagte er in einem Ton der ernst – beinahe gebietend – klang: »Ich will Euch zeigen, wo ich gewesen; folgt mir – ja, ich sage, folgt mir!«

Er wandte sich um und stieg ohne ein weiteres Wort wieder die Treppen hinauf; und Mr. Beaufort, aus Ueberraschung und Scheue ihm mechanisch gehorchend, that wie sein Sohn verlangte. Da wo die Treppe in den zweiten Stock mündete, ergoß wieder eine vernachläßigte, geisterhafte Kerze mit langem Docht ihre freudlosen Strahlen. Sie flimmerte durch die offene Thüre eines kleinen Schlafzimmers links, durch welche Beaufort zwei weibliche Gestalten wahrnahm. Die eine – es war das gutherzige Dienstmädchen – saß auf einem Stuhl und weinte bitterlich; die Andre, eine gemiethete Wärterin, am ersten und letzten Tag ihres Dienstes, steckte ihren schmutzigen Shawl los, ehe sie sich hinlegte, ein Nickerchen zu thun. Sie wandte ihr leeres, gleichgültiges Gesicht nach den beiden Männern, nahm ein schmerzliches Lächeln an, und schloß, wie schicklich, war, die Thüre.

»Wo sind wir, Arthur, sage ich?« wiederholte Mr. Beaufort.

Arthur nahm seines Vaters Hand – zog ihn in ein Zimmer rechts – nahm die Kerze, stellte sie auf einen kleinen Tisch neben einem Bett, und sagte: »Hier, Sir – in der Gegenwart des Todes!«

Mr. Beaufort warf einen hastigen und scheuen Blick auf das stille, abgefallene, friedliche Antlitz vor seinen Augen, und erkannte auf diesen Blick die Züge der verlassenen und versäumten, der einst angebeteten Katharine.

»Ja – sie, die Euer Bruder so liebte – die Mutter seiner Kinder – starb in diesem schmutzigen Zimmer, und fern von ihren Söhnen, in Armuth, in Kummer – starb am gebrochenen Herzen! War das recht, Vater? Habt Ihr hier Nichts zu bereuen?«

Voll Entsetzen und Gewissensangst sank der weltliche Mann auf einen Stuhl neben dem Bett, und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

»Ja,« fuhr Arthur beinah bitter fort – »ja, wir, seine nächsten Verwandten – wir, die wir seine Güter und sein Geld geerbt, wir sind so gleichgültig gewesen gegen das große Vermächtniß, das Euer Bruder uns hinterlassen – gegen die ihm theuersten Wesen – gegen die Frau, die er liebte – die Kinder, die sein Tod namenlos und gebrandmarkt in die Welt hinaus warf. Ja, weint, Vater; und unterm Weinen denkt an die Zukunft, an Vergütung. Ich habe diesem Leichnam geschworen, ihren Söhnen ein Freund zu seyn; schließt Ihr, der Ihr alle Macht habt, das Versprechen zu erfüllen, Euch dem Gelübde an! und möge der Himmel an uns Beiden nicht die Leiden dieses Sterbebettes heimsuchen!«

»Ich wußte nicht – ich – ich –« stotterte Mr. Beaufort.

»Aber wir hätten es wissen sollen!« unterbrach ihn Arthur kummervoll. »Ach, mein lieber Vater, verhärtet Euer Herz nicht durch falsche Entschuldigungen. Die Todte spricht noch zu Euch und empfiehlt ihre Kinder Eurer Sorge. Meine Aufgabe hier ist zu Ende; die Eurige, Sir, oh! die wird kommen. Ich lasse Euch allein mit der Todten!«

Mit diesen Worten wandte sich der junge Mann, den das Tragische dieser Scene zu einer Leidenschaft und Würde erhoben, die seinem Charakter sonst ganz fremd waren, und der sich nicht getraute, seiner Bewegung noch weiter Worte zu gehen, plötzlich aus dem Zimmer, eilte hastig die Treppen hinunter und verließ das Haus. Als sein Auge auf den Wagen und die Livreen seines Vaters fiel, stöhnte er, denn diese Zeugnisse von Behagen und Reichthum schienen ein Hohn gegen die Verstorbene; er wandte sein Angesicht weg und schritt weiter.

Auch beachtete oder sah er nicht eine Gestalt, die in diesem Augenblick an ihm vorbeirannte – blaß, hohläugig, athemlos – auf das Haus zu, das er verlassen, und dessen Thüre er offen gelassen, wie er sie gefunden – offen, wie sie der Arzt gelassen, als er zehn Minuten vor Mr. Beauforts Ankunft von dem Ort wegeilte, wo seine Kunde Im Original: »skill«, d. h. sein ärztliches Können. – Anm.d.Hrsg. unmächtig war. In düstre Gedanken versunken, allein und zu Fuß – in dieser traurigen Stunde, in dieser entlegenen Vorstadt – so suchte der Erbe der Beauforts seine prächtige Heimath. Aengstlich, fürchtend, hoffend flog der heimathlose Waise an das Todtenbett seiner Mutter!

Mr Beaufort, welcher Arthurs Abschiedsworte nicht deutlich vernommen, bemerkte anfangs, verwirrt und betäubt durch das Seltsame seiner Lage, nicht, daß er allein zurückblieb. Ueberrascht und schaudern gemacht durch die plötzliche Stille in dem Gemach, stand er auf, zog seine Hände vom Gesicht weg, und schaute wieder das so stumme und feierliche Antlitz. Er ließ seinen Blick in dem elenden Gemach umherschweifen, Arthur suchend, er rief seinen Namen – keine Antwort kam; ein abergläubisches Zittern kam über ihn, seine Glieder bebten; er sank wieder auf seinen Stuhl und schloß die Augen, und murmelte, zum erstenmal vielleicht seit seiner Kindheit, Worte der Reue und des Gebets.

Er ward aufgeschreckt aus dieser bittern Selbstvertiefung durch ein bitteres Stöhnen. Es schien von dem Bett zu kommen. Täuschte ihn sein Ohr? hatte die Todte eine Stimme gefunden? Er fuhr auf in tödtlicher Angst, und sah sich gegenüber das gelbfahle Gesicht Philipp Mortons; der Sohn der Leiche war an die Stelle des Sohns des Lebenden getreten! das trübe, einsame Licht fiel auf dies Angesicht. Hier schien alle der Jugend eigenthümliche Blüthe und Frische zerstört! Auf diesen verzerrten Zügen spielte all die Macht und der stiere Ausdruck vorzeitiger Leidenschaften – Wuth, Jammer, Haß, Verzweiflung. Schrecklich ist es, auf dem Gesicht eines Knaben den Sturm und das Gewitter zu sehen, die nur das starke Herz des Mannes heimsuchen sollten!

»Sie ist todt – todt! und in Eurer Gegenwart!« brüllte Philipp, seine Augen wild auf den zusammensinkenden Oheim heftend; »todt vor Sorge, vielleicht vor Hunger! Und Ihr seyd gekommen, um Euer Werk zu betrachten!«

»Wahrlich,« sagte Beaufort bittend, »ich bin eben erst gekommen; ich wußte nicht, daß sie krank gewesen, oder in Dürftigkeit, auf meine Ehre. Es ist Alles ein – ein – Mißverständniß; ich – ich – kam und suchte den – den – einen Andern –«

»So kamt Ihr also nicht, um ihr Hülfe zu bringen?« sagte Philipp sehr ruhig. »Ihr hattet nicht gehört von ihrem Leiden und ihrer Bedrängniß und floget dann hieher in der Hoffnung, daß es noch Zeit sey, sie zu retten? – das thatet Ihr nicht? – wie konnte ich auch das glauben?«

»Hat Jemand gerufen, Gentlemen?« sagte eine weinerliche Stimme an der Thüre, und die Wärterin streckte den Kopf herein.

»Ja – ja – Ihr könnt hereinkommen,« sagte Beaufort, in namenloser, feiger Angst sich schüttelnd; aber Philipp war an die Thüre geeilt, und sagte nach einem Blick auf die Wärterin:

»Sie ist eine Fremde! seht, eine Fremde! Der Sohn hat jetzt seinen Posten eingenommen. Fort, Weib!« Und er drängte sie weg und schob den Riegel der Thüre vor.

Und dann sah ihn, wie es zuvor seinen Gesellschafter wider Willen angeblickt hatte, an, ruhig und heilig das Antlitz des friedlichen Leichnams. Er brach in Thränen aus und fiel auf die Kniee so nahe bei Beaufort, daß er ihn berührte; er hob die schwere Hand empor und bedeckte sie mit brennenden Küssen.

»Mutter! Mutter! verlaß mich nicht! wach' auf! lächle noch einmal Deinem Sohn zu! Ich hätte Dir gern Geld gebracht, aber dann hätte ich Dich nicht um Deinen Segen bitten können, jetzt bitte ich Dich um ihn!«

»Wenn ich nur gewußt hätte – wenn Ihr mir nur geschrieben hättet, mein lieber junger Gentleman – aber meine Anerbietungen wurden abgelehnt, und –«

»Anerbietungen einer Miethlingspension ihr, ihr, für welche mein Vater sein Herzblut hätte in Gold ausmünzen lassen! – Meines Vaters Weibe! – seinem Weibe! – Anerbietungen!«

Er stand plötzlich auf, kreuzte seine Arme, und Beaufort mit wilder, entschlossener Miene gegenüber tretend, sagte er:

»Hört mich an. Ihr habt den Reichthum, den ich von meiner Wiege an als mein Erbe zu betrachten gewöhnt wurde. Ich habe mit diesen meinen Händen ums Brod gearbeitet, und nie geklagt, außer in meinem Herzen und meiner Seele. Ich habe Euch nie gehaßt, Euch nie geflucht – so sehr Ihr ein Räuber seyd – ja, ein Räuber! Denn selbst wenn es keine Heirath gewesen wäre außer vor Gott, so war doch weder meines Vaters, noch der Natur, noch des Himmels Meinung und Wille, daß Ihr Alles an Euch raffen solltet, und daß den Ansprüchen der zärtlichen Liebe und des Blutes Nichts gebühre. Er war nicht weniger mein Vater, wenn auch die Kirche sich nicht für mich aussprach. Plünderer der Waisen und Verächter menschlicher Liebe, Ihr seyd nicht weniger ein Räuber, wenn auch das Gesetz Euch schützt, und die Menschen Euch ehrlich nennen! Aber ich haßte Euch darum nicht. Jetzt, im Angesicht meiner todten Mutter – gestorben fern von ihren beiden Söhnen – jetzt verabscheue und verfluche ich Euch, Ihr mögt Euch sicher dünken, wenn Ihr dies Zimmer verlaßt – sicher: und vor meinem Haß – mögt Ihr es seyn; aber täuscht Euch nicht! Der Fluch der Wittwe und des Waisen wird Euch verfolgen – wird sich an Euch und die Eurigen klammern – wird an Eurem Herzen nagen mitten in seinem Glanz – wird an dem Erbe Eures Sohns kleben! Es wird noch ein Sterbebett kommen, an welchem Ihr das Gespenst von ihr, die jetzt so friedlich daliegt, werdet auferstehen sehen aus dem Grabe, Vergeltung fordernd! Diese Worte – nein, Ihr sollt sie nie vergessen – nach Jahren sollen sie Euch noch im Ohre tönen und das Mark Eurer Knochen erkälten! Und jetzt fort, Bruder meines Vaters – fort von meiner Mutter Leichnam in Euer üppiges Haus!«

Er öffnete die Thüre und deutete nach der Treppe. Beaufort, ohne ein Wort zu sagen, wandte sich aus dem Zimmer und ging. Er hörte, wie er hinabstieg, die Thüre schließen und riegeln; aber er hörte nicht das tiefe Aechzen und das gewaltsame Schluchzen, womit der trostlose verwaiste Sohn dem Jammer Luft machte, welcher auf den unheiligeren Ausbruch von Rachsucht und Wuth folgte.



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