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Sechstes Kapitel.

Gewitter oben, unten eis'ge Welt.
       *            *         *           *
       *            *         *           Der Oelzweig
Verwelkt, gemeinem Winde preisgegeben;
Die Erde eine Arche ohne Taube.

Laman Blanchard.

Mr. Robert Beaufort galt im Allgemeinen in der Welt als ein sehr achtbarer Mann.

Er hatte nie Excesse begangen – nie gespielt und sich in Schulden gestürzt – war nie in die bei seinem Geschlecht gewöhnlichen Verirrungen eines heißen Blutes verfallen. Er war ein guter Gatte – ein sorgsamer Vater – ein angenehmer Nachbar – gegen die Armen ziemlich mildthätig. Er war rechtlich und ordentlich in seinem Thun und Treiben, und man wußte von ihm, daß er sich in verschiedenen Lebensverhältnissen gut benommen.

Mr. Robert Beaufort war auch in der That bestrebt immer zu thun was recht war – in den Augen der Welt. Er hatte keine andere Regel seines Handelns, als die ihm die Welt an die Hand gab; seine Religion war Anstand und Schicklichkeit – sein Ehrgefühl war Beachtung der Meinung Anderer. Sein Herz war eine Sonnenuhr, deren Sonne die Welt war; wenn das Auge des Publikums darauf fiel, entsprach es allen Anforderungen, die man an ein Herz machen kann; aber wenn dies Auge nicht sichtbar war, dann war die Sonnenuhr stumm – ein Stück Erz und Nichts weiter.

Die Gerechtigkeit gegen Robert Beaufort erheischt; dem Leser die Versicherung zu geben, daß er an die Geschichte seines Bruders von der heimlichen Trauung ganz und gar nicht glaubte. Er betrachtete diese Erzählung, als er sie zuerst hörte; als dies bloße (und dazu seichte) Erfindung eines Mannes, der den unklugen Schritt, den er zu thun im Begriff stand, so ehrenhaft als möglich erscheinen zu lassen wünschte. Der gleichgültige Ton seines Bruders, als er von der Sache sprach – sein Geständniß, daß von einer solchen Trauung keine klaren Beweise vorhanden sehen, außer einer Abschrift aus einem Kirchenbuch, (welche Robert nicht gefunden hatte,) machte seinen Unglauben sehr natürlich.

Er glaubte daher durchaus keine Zartheit oder Achtung einer Frau schuldig zu seyn, durch die er um ein Haar eine herrliche Erbschaft verloren hätte – einer Frau, die nicht einmal seines Bruders Namen getragen – einer Frau, die Niemand kannte. Wäre Mrs. Morton Mrs. Beaufort, und die natürlichen Söhne rechtmäßige Kinder gewesen, so hätte Robert Beaufort, vorausgesetzt die beiderseitige Lage in Beziehung auf Vermögen und Abhängigkeit wäre dieselbe gewesen, sich mit sorgfältiger und gewissenhafter Großmuth benommen. Die Welt würde gesagt haben: »Nichts konnte schöner seyn, als Mr. Robert Beauforts Benehmen!« Ja, wäre Mrs. Morton eine geschiedene Frau von Geburt und hoher Familie gewesen: er würde ganz andere Verfügungen zu ihren Gunsten gemacht haben; er hätte nicht zugegeben, daß die Verwandten ihn schäbig genannt hätten.

Aber so sah er ein, daß, alle Umstände erwogen, die Welt, wenn sie sich überhaupt aussprach, (was zu thun sie wohl kaum der Mühe werth finden mochte,) auf seiner Seite seyn werde. Ein schlaues Weib – von gemeiner Geburt und natürlich, auch von gemeiner Erziehung – welche den reichen und sorglosen Buhlen gern in die Ehe hineingeführt und geschwatzt hätte; – was konnte für die von dem Mann erwartet werden, den sie hatte in Schaden bringen wollen, von dem rechtmäßigen Erben? War es nicht sehr viel Güte von ihm, wenn er irgend Etwas für sie that, und wenn er für die Kinder sorgte im angemessenen Verhältniß zu dem ursprünglichen Stand der Mutter – genügte er da nicht auf's äußerste allen vernünftigen Erwartungen?

Gewiß, er dachte in seinem Gewissen, wie es nun einmal war, er habe recht gehandelt – nicht unbesonnen, nicht übertrieben und thöricht, – sondern recht. Er war gewiß, die Welt würde so entscheiden, wenn sie Alles wüßte; er war ja nicht verpflichtet, Etwas zu thun.

Daher war er nicht gefaßt auf Katharinens kurze, stolze, aber gemäßigte Antwort auf seinen Brief, eine Antwort, die eine entschiedene Ablehnung seiner Anerbietungen enthielt, – fest ihre rechtmäßige Ehe und die Ansprüche ihrer Kinder behauptete – auf gerichtliches Verfahren verwies, und unterzeichnet war mit Katharine Beaufort!

Mr. Beaufort legte den Brief in seinen Schreibtisch mit der Bezeichnung: »Unverschämte Antwort von Mrs. Morton, 14. September,« und war ganz zufrieden, das Daseyn der Schreiberin ganz vergessen zu können, bis sein Advokat, Mr. Blackwell, ihn benachrichtigte, daß von Katharina eine Klage eingeleitet sey.

Mr. Robert wurde blaß, aber Blackwell beruhigte ihn.

»Ja, Sir, Ihr habt nichts zu fürchten. Es ist nur ein Versuch, Geld zu erpressen; der Attorney ist ein Mann von schlechter Praxis, gewohnt schlechte Fälle aufzunehmen; sie können Nichts ausrichten.«

Dies verhielt sich wirklich so; was auch ihre Rechte seyn mochten, die arme Katharine hatte keine Beweise – kein Zeugniß – wodurch ein ehrenhafter Advokat gerechtfertigt werden konnte, wenn er ihr den Rath gab, einen Prozeß anzufangen. Sie nannte zwei Zeugen ihrer Trauung – der Eine war todt, der Andere war nirgends zu erkundigen. Sie gab als den Ort, wo die Ceremonie sollte verrichtet worden seyn, ein sehr entlegenes Dorf an, in welchem, wie es schien, das Kirchenregister vernichtet worden war. Keine beglaubigte Abschrift davon war zu finden, und Katharine war wie betäubt, als sie hörte, daß, selbst wenn sie gefunden würde, es zweifelhaft wäre, ob sie als wirklicher Beweis angenommen würde, außer um wirkliches, persönliches Zeugniß zu verstärken.

Es hatte sich gefügt, daß Philipp, als er vor vielen Jahren die Abschrift bekommen, sie Katharinen nicht gezeigt und ihr auch nicht den Namen Jones, als desjenigen, der die Abschrift gefertigt, genannt hatte. In der That war damals, als er erst drei Jahre mit Katharinen vermählt war, seine weltliche Vorsicht noch nicht durch ein auf Erfahrung gegründetes Vertrauen zu ihrem Edelmuth überwunden gewesen.

Was das bloß moralische Zeugniß betraf, welches auf der Veröffentlichung ihres Aufgebots in London beruhte, so hatte das gar keine Beweiskraft; auch erinnerten sich, als man in A*** Nachforschungen anstellte, die wälschen Dorfleute an Nichts weiter, als daß vor etwa fünfzehn Jahren ein schöner Gentleman den Mr. Price besucht habe, und Einer oder Zwei glaubten sich zu besinnen, daß Mr. Price ihn mit einer Dame von London getraut habe; – ein Zeugniß, das ganz und gar nicht aufkommen konnte gegen das tödtliche, verdammende Faktum, daß fünfzehn Jahre lang Katharine offen einen andern Namen getragen und mit Mr. Beaufort vor den Augen der Welt als seine Geliebte gelebt hatte. Ihre Großmuth hierin gab ihrer Sache den Todesstoß.

Demungeachtet fand sie einen elenden Advokaten, der ihr Geld nahm und ihre Sache vernachläßigte; so ward denn ihr Prozeß angehört und mit Verachtung abgewiesen, und fortan war denn Katharine wirklich in den Augen des Gesetzes und des Publikums eine unverschämte Abentheurerin, und ihre Söhne namenlose Verstoßene.

 

Und nun trat Mr. Beaufort, von aller Furcht befreit, in den vollen Genuß seines glänzenden Vermögens. Das Haus in Berkeley-Square ward neu eingerichtet. Große Diners und lustige Routs wurden im folgenden Frühjahr gegeben. Mr, und Mrs. Beaufort wurden Leute von ansehnlicher Bedeutung. Der reiche Mann war, schon als arm, ehrgeizig gewesen, jetzt concentrirte sich sein Ehrgeiz in seinem einzigen Sohn. Arthur hatte immer für einen vielversprechenden, talentvollen Knaben gegolten – wornach durfte er nicht jetzt streben! Die Frist seiner Vorbereitung durch den Lehrmeister wurde abgekürzt und Arthur Beaufort wurde sofort nach Oxford geschickt.

Ehe er nach der Universität abging, sprach Arthur während eines kurzen vorbereitenden Besuchs bei seinem Vater, mit diesem von den Mortons.

»Was ist aus ihnen geworden, Sir, und was habt Ihr für Sie gethan?«

»Für sie gethan!« sagte Mr. Beaufort und riß die Augen weit auf. »Was sollte ich thun für Leute, die mich so eben mit der gewissenlosesten Streitsucht belästigt und angegriffen haben? Mein Betragen gegen sie war zu großmüthig, ja wohl, wenn man Alles erwägt! Aber wenn Du in meinen Jahren bist, wirst Du finden, daß es in der Welt wenig Dankbarkeit gibt, Arthur.«

»Aber doch, Sir,« sagte Arthur mit der ihm eigenen Gutmüthigkeit, »aber doch, mein Oheim hatte eine große Liebe für sie; und die Knaben wenigstens sind unschuldig.«

»Wohl, wohl!« versetzte Mr. Beaufort etwas ungeduldig. »Ich glaube, es geht ihnen Nichts ab; ich denke sie sind bei den Verwandten der Mutter. Sobald sie sich in der gehörigen Weise an mich wenden, sollen sie mich nicht rachsüchtig noch hartherzig finden; aber weil wir einmal bei diesem Gegenstand sind,« fuhr der Vater fort, indem er seine Hemdkrause glättete mit einer Sorgsamkeit, welche sein Schicklichkeitsgefühl selbst in Kleinigkeiten bewährte, »ich hoffe Du merkst Dir die Folgen einer solchen Art Verbindung und nimmst Dir eine Warnung an Deines armen Oheims Beispiel, und jetzt laßt uns den Gegenstand des Gesprächs ändern, es ist kein sehr angenehmer, und je weniger in Deinem Alter die Gedanken mit solchen Sachen sich beschäftigen, desto besser!«

Arthur Beaufort glaubte mit der sorglosen Großmuth der Jugend, welche das Benehmen Andrer nach ihren eignen Gefühlen bemißt, sein Vater, der sich gegen ihn nie knickerig gezeigt, habe wirklich so gehandelt, wie seine Worte vermuthen ließen; und in Anspruch genommen von den Gedanken und Zerstreuungen der neuen, glänzenden Laufbahn, die sich ihm, zu Genuß und Studium, eröffnete, verlor er die Gegenstände jener Nachfrage aus dem Sinn.

 

Inzwischen hatte Mrs. Morton, denn mit diesem Namen müssen wir sie auch ferner nennen, sich mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung in einer bescheidenen Vorstadt, an der Landstraße zwischen Fernside und der Hauptstadt gelegen, eine Unterkunft verschafft. Sie behielt nach ihrem hoffnungslosen Prozeß und nach dem Verkauf ihrer Juwelen und Schmucksachen, eine Summe, die sie in Stand setzte, bei großer Sparsamkeit wenigstens ein paar Jahre anständig zu leben, während welcher Zeit sie ihre Plane für die Zukunft entwerfen konnte.

Sie zählte als auf eine sichere Hülfe, auf den Beistand ihrer Verwandten; aber sie entschloß sich dazu nur mit leicht begreiflicher Schaam und Widerstreben. Sie hatte mit ihrem Vater so lang er lebte einen Briefwechsel unterhalten. Nie offenbarte sie ihm das Geheimniß ihrer Verheirathung, obgleich sie ihm auch nicht schrieb wie eine Frau, die sich einer Verirrung bewußt ist. Vielleicht hatte sie, wie sie ihrem Sohn immer sagte, ihrem Gatten ein feierliches Versprechen gegeben, dies Geheimniß nie auszusagen oder auch nur darauf hinzudeuten, als bis er sie zur Veröffentlichung ermächtigen würde. Denn weder er noch Katharine dachten je an Trennung oder Tod. Ach! wie schlafen wir doch Alle, so lang wir glücklich sind, so sicher in den dunkeln Schatten, die uns warnen sollten vor den künftigen Sorgen!

Dennoch nahm Katharinens Vater, ein Mann von rohem Gemüth und wenig strengen Grundsätzen, dies Verhältniß, das er für ein unrechtmäßiges hielt, sich nicht sehr zu Herzen. Es war für sie gesorgt, das war einiger Trost; ohne Zweifel mußte doch Mr. Beaufort wie ein Gentleman handeln, vielleicht am Ende gar sie zu einer ehrbaren Frau und zur Lady machen! Inzwischen hatte sie ein schönes Haus, schöne Equipage und stattliche Dienerschaft; und weit entfernt ihn um Geld anzusprechen, schickte sie ihm vielmehr immer kleine Geschenke.

Aber Katharine sah in seiner Genehmigung des Briefwechsels nur zärtliche, verzeihende und vertrauensvolle Liebe, und sie liebte ihn zärtlich; als er starb, war das Band zerrissen, das sie an ihre Familie knüpfte. Ihr Bruder folgte ihm in dem Gewerbe; ein Mann von Ehre und Rechtlichkeit, aber etwas hart und unfreundlich. In dem einzigen Briefe, den sie je von ihm erhielt – in welchem er ihr den Tod des Vaters meldete – sagte er ihr gerade heraus und in sehr dürren Worten, daß er das Leben ,das sie führe, nicht billigen könne; daß er heranwachsende Kinder habe – daß aller Verkehr zwischen ihnen abgeschnitten sey, wenn sie nicht Mr. Beaufort verlasse; während er, wenn sie aufrichtig bereue, auch jetzt noch sich als ihren treuen Bruder bewähren wolle.

Obgleich Katharinen damals dieser Brief als gefühllos geschmerzt hatte, erkannte sie doch jetzt, gedemüthigt und von Kummer erfüllt, die Berechtigung der Grundsätze, denen er entflossen war. Es ging ihrem Bruder für seinen Stand ganz gut – sie wollte ihm ihre wahre Lage erklären – er würde ihre Erzählung glauben. Sie wollte ihm schreiben und ihn bitten, wenigstens ihren armen Kindern Hülfe angedeihen zu lassen.

Aber sie that diesen Schritt erst, als ein ansehnlicher Theil ihres kleinen Vermögens verzehrt, als beinah drei Vierteljahre seit Beauforts Tod verflossen waren – und nachdem verschiedene nicht leicht zu nehmende Anmahnungen sie die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen frühen Todes hatten voraussehen machen.

Seit ihrem sechszehnten Jahre, wo sie von Mr. Beaufort an die Spitze seines Haushalts gestellt worden, hatte sie sich nicht in ausschweifendem Wohlleben, aber in behaglichem Ueberfluß gewiegt, wobei sie keine sparsamen und ängstlichen Gewohnheiten angenommen. Sich konnte sie Alles versagen und abdarben – aber gegen ihre Kinder – seine Kinder, denen man jede Laune im Voraus zu erfüllen gewohnt gewesen, brachte sie es nicht übers Herz karg zu seyn. Sie hätte, wäre sie allein gewesen, in einer Dachkammer Hunger leiden können; aber sie konnte die Kinder keine Bequemlichkeiten entbehren sehen, so lange sie eine Guinee besaß.

Philipp, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zeigte eine Rücksichtlichkeit, die man bei seinem frühern, anmaßenden Leichtsinn nicht hätte erwarten sollen. Aber Sidney – Wer konnte Rücksichtlichkeit und Ueberlegung von einem solchen Kind erwarten? Was konnte er wissen von dem Wechsel der Verhältnisse, von dem Werth des Geldes? Erschien er niedergeschlagen, so stahl sich Katharine fort und verwendete das Einkommen einer Woche auf den Schoos voll Spielsachen, die sie ihm mit nach Haus brachte. Schien er nur um einen Grad blässer – beklagte er sich über das leiseste Leiden, so mußte nach einem Arzt geschickt werden.

Ach! ihre eignen Leiden, vernachläßigt und unbeachtet, wuchsen über den Bereich der Heilkunde hinaus! Aengstlich – fürchtend – von nagenden Erinnerungen an die Vergangenheit, von der Aussicht auf Hunger in der Zukunft gequält, verzehrte und rieb sie sich täglich mehr auf. Sie hatte ihren Geist ausgebildet während ihres zurückgezogenen Zusammenlebens mit Mr. Beaufort; aber sie hatte keine von den Künsten und Fertigkeiten gelernt, mit welchen herabgekommene Frauen von Stand den Wolf von der Thüre fern halten: keine kleine Feiertagstalente, welche in den Tagen der Noth zu einem nützlichen Gewerbe werden; keine Malerei mit Wasserfarben oder auf Sammt, keine Verfertigung hübscher Tändeleien und Siebensachen, keine Stickerei und feine Nadelarbeit. Sie war hülflos – gänzlich hülflos – nicht einmal kräftig genug zum Dienen; und selbst in dieser Eigenschaft – hätte sie sich ein günstiges Zeugniß und Kredit verschaffen können?

Um diese Zeit wurde an Philipp eine große Veränderung sichtbar. Wäre er damals in freundliche Hände gefallen und unter sorgfältig leitende Augen: seine Leidenschaften und Kräfte hätten zu seltenen Eigenschaften und großen Tugenden reifen können. Aber vielleicht gilt, was Göthe einmal sagt, daß Erfahrung doch die beste Lehrmeisterin ist. Er war beständig auf der Hut gegen sein heftiges Temperament – seinen gewaltthätigen Willen; er hätte um Alles in der Welt nicht seine Mutter betrüben mögen.

Aber, seltsam! (es ist dies ein großes Räthsel im Herzen des Weibes!) in dem Verhältniß als er liebenswürdiger wurde, schien ihn seine Mutter weniger zu lieben. Vielleicht erkannte sie bei dieser Veränderung nicht mehr so ganz den Liebling der frühern Zeit, vielleicht machten gerade die Schwächen und Belästigungen Sidneys, die stündlichen Opfer, welche ihr das Kind auferlegte, ihn ihr nur um so theurer vermöge des natürlichen Gefühls der Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit, welches das mächtige Band zwischen Mutter und Kind bildet; vielleicht auch, sofern Philipp eben sowohl Stolz als Zärtlichkeit hatte einflößen können, schwand der Stolz mit den Erwartungen, die ihn genährt hatten, und in seinem Verfall entführte er auch das von der Zärtlichkeit, die mit ihm verflochten war.

Wie dem nun sey: früher war Philipp als der vorgezogenere und begünstigtere unter den beiden Knaben erschienen, und jetzt war Sidney Alles und Alles. So keimte unter des jüngern Sohnes liebkosender Sanftheit eine gewisse Selbstsucht auf; sie war versteckt, sie hüllte sich in liebenswürdige Farben; sie hatte bei einem so holden Kind selbst eine gewisse Anmuth und einen Reiz, aber nichtsdesto weniger war es Selbstsucht; darin unterschied er sich von seinem Bruder. Philipp war eigenwillig, Sidney eigensüchtig. Eine gewisse Schüchternheit des Charakters, die ihn vielleicht einem ängstlichen Mutterherzen noch theurer machte, ließ voraussehen, daß dieser Fehler bei dem jüngern Knaben eher Wurzeln schlagen werde. Denn bei kühneren Naturen findet sich eine verschwenderische, unberechnende Rücksichtslosigkeit, welche unbewußt die Selbstsucht verschmäht; und was ist Furcht Anderes, als, physisch, die Sorge für die eigene, leibliche Person, und moralisch, die ängstliche Rücksichtnahme auf die eignen Interessen?

 

In einem kleinen Zimmer in einem Miethhaus in der Vorstadt H*** saß Mrs. Morton am Fenster, beklommen harrend auf das Pochen des Postboten, der ihres Bruders Antwort auf ihren Brief bringen sollte. Es war zwischen zehn und eilf Uhr – ein Morgen im heitern Monat Junius. Es war heiß und schwül – eine Seltenheit in einem englischen Junius. Ein Fliegenfänger, roth, weiß und gelb, hing an der Decke, umschwärmt von Fliegen: Fliegen waren an dem Getäfel, Fliegen summten an den Fenstern; der Sopha und die Stühle von Roßhaar schienen mit Fliegen gepolstert. Es war als lastete ein dumpfig schwüler Druck auf den dichten soliden Moorvorhängen, auf den bunten Papiertapeten, auf dem buntglänzenden Teppich, selbst auf dem Spiegel über dem Kaminstück, wo ein Stück Glas in einem mit gelber Musseline bedeckten Rahmen eingekerkert war.

Man spricht viel von der Unlustigkeit des Winters; und ohne Zweifel ist der Winter traurig. Aber was auf der Welt ist trauriger für ein Auge, gewohnt an das Grün und die Blüthe der Natur, – die Pracht der Haine und den Schmuck der Felder, – als ein enges Zimmer in einem Miethhaus der Vorstadt, wo die Sonne in jeden Winkel dringt, wo nichts Frisches, Kühles, Duftendes zu sehen, zu fühlen oder einzuathmen ist; wo Nichts ist als Staub, Glanz, Lärmen, und vielleicht die nächste Thüre ein Lichterzieherladen?

Sidney, mit einer Scheere bewaffnet, schnitt die Bilder aus einem Geschichtenbuch aus, das ihm seine Mutter am Tage zuvor gekauft hatte. Philipp, der in den letzten Zeiten sich viel in den Straßen umgetrieben hatte – vielleicht in der Hoffnung, auf Einen jener wohlwollenden, excentrischen, ältlichen Gentlemen zu stoßen, von denen er in alten Romanen gelesen, welche plötzlich der bedrängten Tugend als Retter zu Hülfe kommen, – oder, was wahrscheinlicher ist, vermöge der rastlosen Unruhe, die seinem abenteuerlichen Temperament eigen war, – Philipp hatte seit dem Frühstück das Haus verlassen.

»Ach! wie heiß dies garstige Zimmer ist!« rief Sidney plötzlich von seiner Beschäftigung aufschauend. »Gehen wir denn nicht wieder auf's Land, Mama?«

»Für jetzt nicht, mein Lieber.«

»Ich wollte, ich könnte mein Pferdchen haben; warum kann ich mein Pferdchen nicht haben, Mama?«

»Weil – weil – das Pferdchen verkauft ist, Sidney.«

»Wer hat es verkauft?«

»Dein Oheim.«

»Er ist ein recht garstiger Mann, mein Oheim; nicht wahr? Aber kann ich kein anderes Pferdchen haben? Es wäre so hübsch, bei diesem schönen Wetter.«

»Ach, mein Lieber, ich wollte, ich könnte Dir eins anschaffen; aber Du sollst diese Woche einmal reiten! Ja,« fuhr die Mutter fort, als wollte sie vor sich selbst den Aufwand entschuldigen; »es sieht nicht gut aus, das arme Kind! es muß Bewegung haben!«

»Reiten! oh! das ist ganz meine gute Mama!« rief Sidney in die Hände klatschend. »Nicht auf einem Esel, weißt Du! – auf einem Pferdchen. Der Mann dort unten in der Straße leiht Pferdchen aus. Ich muß das weiße Pferdchen haben mit dem langen Schweif. Aber, Mann, sage es doch dem Philipp nicht, bitte, thu' es nicht, er würde neidisch darauf!«

»Nein, nicht neidisch, mein liebes Kind; warum meinst Du denn das?«

»Weil er immer zornig wird, wenn ich Dich um Etwas bitte. Es ist gar nicht freundlich von ihm, denn mir ist es gleich, ob er auch ein Pferdchen bekommt – nur nicht das weiße.«

Hier machte das laute und plötzliche Pochen des Postboten Mrs. Morton von ihrem Sitz auffahren. Sie preßte ihre Hände fest an ihr Herz, als wollte sie dessen Pochen stillen, und ging mit aufgeregten Nerven nach der Thüre; von da an die Treppen horchend auf die schlurfenden Schritte der Dienerin in Schlappschuhen.

»Gib ihn her, Jane, gib ihn her.«

»Ein Schilling und acht Pence – doppelt chargirt – wenn's Euch beliebt, Madame, dank Euch.«

»Mama, darf ich der Jane sagen, daß sie das Pferdchen bestellt?«

»Jetzt nicht, mein Lieber; setze Dich nieder; sey still – ich – ich bin unwohl.«

Sidney, der zärtlich und folgsam war, schlich ganz still zum Fenster zurück, und nach einem kurzen, ungeduldigen Seufzer nahm er wieder seine Scheere und das Geschichtenbuch vor.

Ich entschuldige mich nicht gegen den Leser wegen der verschiedenen Briefe, die ich ihm vorzulegen genöthigt bin; denn der Charakter verräth sich oft mehr in Briefen als in der Rede.

Mr. Roger Mortons Antwort war in folgenden Ausdrücken abgefaßt:

»Liebe Katharine!

Ich habe Deinen Brief vom vierzehnten dieses erhalten und schreibe Dir mit umgehender Post. Es macht mich sehr betrübt, Deinen Jammer zu vernehmen; aber was Du auch sagst, ich kann nicht denken, daß der verstorbene Mr. Beaufort wie ein gewissenhafter Mann gehandelt hat, wenn er vergaß sein Testament zu machen und seine Kinder hülflos und mittellos zurückließ. Es lautet Alles recht schön, was man von seinen Absichten schwatzt; aber die Probe des Puddings ist das Essen! Und es fällt mir, der ich eine eigene große Familie habe, und mir meinen Lebensunterhalt durch Ehrlichkeit und Betriebsamkeit erworben habe, schwer, die Kinder eines reichen Gentleman erhalten zu sollen. Was Deine Geschichte von der geheimen Trauung betrifft, so mag das wahr seyn und auch nicht. Vielleicht wurdest Du von diesem unwürdigen Mann hinters Licht geführt, denn eine wirkliche Trauung konnte es nicht seyn, und, wie Du sagst, das Gesetz hat diesen Punkt entschieden; daher, je weniger Du über die Sache sprichst, desto besser. Es kommt Alles auf Eins hinaus. Die Leute sind nicht verpflichtet zu glauben, was nicht bewiesen werden kann, und selbst wenn, was Du angibst, wahr ist, bist Du mehr zu tadeln als zu bemitleiden, daß Du so viele Jahre den Mund hältst, und eine ehrbare Familie in Mißkredit bringst, wofür die unsrige immer gegolten hat. Ich bin gewiß, meine Frau hätte sich so Etwas nicht einfallen lassen, nicht dem schönsten und stattlichsten Gentleman zu liebe, der je Lederschuhe trug. Indeß, ich will Deinen Gefühlen nicht wehe thun und bin gewiß bereit, Alles, was recht und schicklich ist, zu thun. Du kannst nicht erwarten, daß ich Dich in mein Haus einlade. Mein Weib, weißt Du, ist eine sehr religiöse Frau – was man evangelisch nennt, aber das laß' ich auf sich beruhen; ich verkehre mit allen Arten Leuten, Kirchenmännern und Dissenters – selbst mit Juden – und zerbreche mir den Kopf nicht wegen Abweichungen in den Meinungen. Ich glaube beinahe, es gibt verschiedene Wege zum Himmel, – wie ich dieser Tage zu Mr. Thwaites, unserem Parlamentsmitglied sagte. Aber das kann ich nicht umhin zu sagen, mein Weib will Nichts davon hören, daß Du hieher kommst; und in der That, es könnte meinem Geschäft Eintrag thun, denn es sind verschiedene ältliche Jungfern von Stand hier, welche in meinem Laden Flanell für die Armen kaufen, und sie sind sehr besonder; wie sie freilich seyn müssen; denn die Moral ist sehr streng in dieser Grafschaft, und ganz vorzüglich in unserer Stadt, wo wir sicherlich sehr hohe Kirchensteuern bezahlen. Nicht daß ich murre; denn obgleich ich so liberal bin als Einer, bin ich doch für eine Staatskirche; wie ich seyn muß, da der Dekan mein bester Kunde ist.

Was Dich selbst betrifft, so schließe ich Dir zehn Pfund ein, und Du läßt mich wissen, wenn sie zu Ende sind: so will ich sehen, was ich weiter thun kann. Du schreibst Du seyest sehr arm, und das thut mir leid zu hören: aber Du mußt Deinen Muth aufraffen und Dich aufs Weißnähen legen; und ich meine wirklich, Du solltest Dich an Mr. Robert Beaufort wenden. Er hat einen sehr guten Ruf; und trotz Deiner Klage gegen ihn, die ich nicht billigen kann, würde er, glaube ich gewiß, Dir 40-50 Pfund jährlich bewilligen, wenn Du Dich in gehöriger Art an ihn wendest, was ihm ganz wohl anstände. So viel von Dir.

Was die Knaben betrifft – die armen, vaterlosen Geschöpfe! – so ist es sehr hart, daß sie so gestraft werden sollen für eine Schuld, die nicht die ihrige ist; und mein Weib, die, obgleich streng, doch eine gutherzige Frau ist, ist willig und bereit in Betreff derselben nach meinem Wunsche zu handeln. Du schreibst, der Aeltere sey bald sechzehn Jahre und in seinen Studien ziemlich weit gekommen. Ich kann ihm etwas recht Gutes auf ganz leichtem, glattem Wege verschaffen. Meines Weibs Bruder, Mr. Christopher Plaskwith, ist Buchhändler und Verleger, mit recht hübschem Vertrieb, in R***. Es ist ein gescheiter Mann und gibt eine Zeitung heraus, die er so gütig ist, mir jede Woche zu schicken; und obgleich es nicht meine Grafschaft ist, kommen doch manche recht vernünftige Ansichten darin vor, und sie wird oft von den Londoner Zeitungen angeführt als: »unsere Schwester in der Provinz.« Mr. Plaskwith ist mir einiges Geld schuldig, das ich ihm vorstreckte, als er die Zeitung gründete, und er hat mir einigemale höchst ehrenhaft angeboten, mich durch einen Antheil an der genannten Zeitung zu bezahlen. Aber da das Ding doch umschlagen könnte, und ich keine Händel liebe, wovon ich Nichts verstehe, habe ich seine sehr hübschen Vorschläge nicht benützt. Nun schrieb mir Plaskwith vor zwei Tagen, daß er einen feinen und gewandten Burschen bedürfe als Gehülfen und Lehrling, und erbot sich, meinen ältesten Knaben zu nehmen, aber wir können ihn nicht entbehren. Ich schreibe an Christopher mit der nächsten Post; und wenn Dein Junge oben auf der Kutsche hinfahren und nach Mr. Plaskwith fragen will – der Betrag für Fahrlohn ist eine Kleinigkeit – so zweifle ich nicht, daß er sogleich eintreten kann. Aber, wirst Du sagen, das Lehrgeld muß erwogen werden! Ganz und gar nicht, Kit wird das Lehrgeld von seiner Schuld an mich abrechnen; so hast Du gar Nichts zu zahlen. Es ist ein ganz artiges Geschäft; und die Erziehung des Jungen wird ihn vorwärts bringen; so könnt Ihr darüber ruhig seyn.

Was den kleinen Schelm betrifft, so will ich den gleich zu mir nehmen. Du schreibst, er sey ein hübscher Knabe, und ein hübscher Knabe ist immer eine Hülfe im Laden eines Leinwandhändlers. Er soll mit meinem eigenen jungen Volke gleich gehalten werden; und Mrs. Morton wird Sorge tragen für seine Reinlichkeit und Sittlichkeit. Ich vermuthe – (dies trägt mir Mrs. Morton auf zu schreiben,) daß er die Masern, Kuhpocken und den Keuchhusten gehabt hat, und bitte Dich mich dies wissen zu lassen. Wenn er sich gut hält, wozu man ihn in seinem Alter leicht anhalten kann, so ist er für sein Leben geborgen. So bist Du jetzt zweier Mäuler los, die Du füttern müssen, und hast nur noch für Dich selbst zu sorgen, was Dir ein großer Trost und Erleichterung seyn muß.

Vergiß nicht, an Mr. Beaufort zu schreiben; – und wenn er Nichts für Dich thut, so ist er nicht der Gentleman, für den ich ihn hielt, aber Du bist mein Fleisch und mein Blut, und sollst nicht verhungern; denn obgleich ich es für nicht recht halte von einem Geschäftsmann, wenn er unrechtes Thun unterstützt, so bin ich doch der Meinung, wenn es Jemand in der Welt übel geht, so ist eine Unze Hülfe besser als ein Pfund Predigt. Mein Weib denkt anders, und möchte Dir einige Traktätchen schicken; aber es kann nicht Jedermann so streng und pünktlich seyn, wie gewisse Leute. Indeß, wie ich oben gesagt, das lasse ich auf sich beruhen.

Laß mich wissen, wann Dein Junge hieher kommt, und auch von den Masern, Kuhpocken und Keuchhusten; auch ob mit Mr. Plaskwith Alles im Reinen ist. So hoffe ich jetzt, Du wirst Dich erleichtert und getröstet fühlen, und bleibe

Liebe Katharine,

Dein Dir verzeihender und Dich liebender Bruder

Roger Morton.

High Street. Nr. *** 13. Junius.

» Nachschrift. Mrs. Morton sagt, sie wolle Deinem kleinen Knaben eine Mutter seyn, und Du würdest wohl thun, all sein Weißzeug zu sticken, ehe Du ihn schickst.«

Als Katharine diese Epistel gelesen, erhob sie ihr Auge und sah Philipp vor sich. Er war geräuschlos ins Zimmer getreten und an die Wand sich lehnend, ganz still geblieben, und hatte das Gesicht seiner Mutter beobachtet, welches während des Lesens vor schmerzlicher Demüthigung sich hoch roth färbte.

Philipp war jetzt nicht mehr das zierliche, geputzte Bürschchen, wie er dem Leser zuerst vorgeführt wurde. Er hatte seinen verschossenen Traueranzug verwachsen; sein langes, verwildertes Haar hing struppig und platt über die Wangen herunter; seine dunkeln, glänzenden Augen hatten einen düstern Ausdruck. Nie verräth sich die Armuth stärker als in den Zügen und in der Gestalt des Stolzes. Es war sichtbar, daß sein Geist seinen heruntergekommenen Zustand mehr duldete, als sich demselben anbequemte und unterwarf; und trotz seiner befleckten und fadenscheinigen Kleidung, und einer Hohläugigkeit, welche zu den Jahren der heiteren Jugend schlecht paßt, zeigte doch seine ganze Person und Haltung eine wilde und unbändige Großartigkeit, die einen größern Eindruck machte, als sein früheres hochfahrendes und, anmaßendes Betragen.

»Nun, Mutter« sagte er mit einer sonderbaren Mischung von finstrem Ernst in seiner Miene, und von Mitleid in seiner Stimme: »Nun, Mutter, und was schreibt Dein Bruder?«

»Du hast früher für uns entschieden; entscheide jetzt wieder. Aber ich brauche Dich nicht zu fragen, Du würdest nie –«

»Ich weiß nicht,« unterbrach sie Philipp hastig; »laß mich sehen, worüber wir zu entscheiden haben.«

Mrs. Morton war von Natur eine Frau von hohem Geist und Muth; aber Krankheit und Kummer hatten beide herabgedrückt; und obgleich Philipp erst sechzehn Jahre alt war, es ist Etwas im Wesen des Weibes – zumal in Unruhe und Angst – was sie verlangend macht, sich an einen andern Willen als den eigenen anzulehnen. Sie gab Philipp den Brief und setzte sich dann still neben Sidney.

»Dein Bruder meint es gut,« sagte Philipp, als er den Brief gelesen.

»Ja, aber es läßt sich Nichts thun; ich kann – ich kann nicht den armen Sidney wegschicken zu – zu –« und Mrs. Morton schluchzte.

»Nein, meine liebe, liebe Mutter, nein: es wäre in der That schrecklich, Dich und ihn zu trennen. Aber dieser Buchhändler Plaskwith – vielleicht bin ich im Stande, Euch beide zu erhalten.«

»Ha, Du denkst doch nicht daran Philipp, ein Lehrling zu werden! – Du, der Du so auferzogen worden – der Du so stolz bist!«

»Mutter, ich würde die Straßengossen kehren, Dir zu lieb! Mutter, Dir zu lieb wollte ich zu meinem Oheim Beaufort gehen, mit dem Hut in der Hand, Halbpence zu erbetteln. Mutter, ich bin nicht stolz – ich möchte ehrlich seyn, wenn ich kann – aber wenn ich Dich hinsiechen und so verändert sehe, so fährt der Teufel in mich, und ich schaudre oft, ich möchte ein Verbrechen begehen – was, weiß ich selbst nicht!«

»Komm her, Philipp, mein lieber Philipp – mein Sohn, meine Hoffnung, mein Erstgeborner!« und das Mutterherz strömte über von der ganzen Zärtlichkeit früherer Tage. »Sprich nicht so fürchterlich! Du machst mir Angst!«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn tröstend und begütigend. Er legte seine brennenden Schläfe an ihre Brust und schmiegte sich fest an sie, wie er zu thun gewohnt gewesen nach stürmischen Paroxismen seiner leidenschaftlichen und eigensinnigen Kindheit. So blieben sie eine Zeitlang – ihre Lippen stumm; ihre Herzen mit einander redend – Jedes vom Andern wunderbare Hülfe und heilige Stärke borgend, – bis Philipp ruhig und mit einem Lächeln sich erhob: »Lebewohl, Mutter; ich will sogleich zu Mr. Plaskwith.«

»Aber Du hast kein Geld, den Fahrlohn zu bezahlen, da Philipp;« und sie händigte ihm ihre Börse ein, aus welcher er mit Widerstreben einige Schillinge nahm. »Und vergiß nicht, wenn der Mann rauh ist, und Du magst ihn nicht – merke Dir's, so mußt Du Dir keine Unarten und Kränkungen gefallen lassen.«

»Oh, es wird Alles gut gehen, sey ohne Furcht!« sagte Philipp getrost, und verließ das Haus.

 

Gegen Abend hatte er den Ort seiner Bestimmung erreicht. Der Laden hatte ein hübsches Aeußere, und einen besondern Eingang; über dem Laden stand angeschrieben: »Christopher Plaskwith, Buchhändler und Verleger;« auf der besondern Thüre war eine Metallplatte mit der Inschrift: »R*** und *** Merkurs Bureau, Mr. Plaskwith.«

Philipp trat durch die kleinere Thüre ein und ward von einer »Phillis mit saubern Händen« Im Original: »neat-handed Phillis«. Phyllis ist eine Figur aus Vergils »Eklogen«; Bulwers Zitat stammt aus dem Gedicht »L'Allegro« des bedeutenden englischen Dichters John Milton (1608-74). – Anm.d.Hrsg. in ein kleines Büreau gewiesen. Nach wenigen Minuten ging die Thüre auf und der Buchhändler trat ein.

Mr. Christopher Plaskwith war ein kurzer, stämmiger Mann, in dunkeln Hosen und eben solchen Kamaschen, schwarzem Rock und Weste, mit einer großen Uhrkette mit einem ungeheuern Gehänge von Petschaften, vermischt mit kleinen Schlüsseln und altmodischen Trauerringen, seine Gesichtsfarbe war blaß und schwammig, und sein Haar kurz, dunkel und glatt. Der Buchhändler that sich etwas zu gut auf eine Aehnlichkeit mit Napoleon, und affektirte ein kurzangebundenes, fahrendes, gebieterisches Wesen, worin er einen Hauptzug des kraftvollen und entschiedenen Charakters seines Prototyps fand.

»Also Ihr seyd der junge Mann, den Mr. Roger Morton empfiehlt?« Hier zog Mr. Plaskwith ein ungeheures Taschenbuch heraus, öffnete es langsam, und stierte Philipp scharf an mit einem, wie er meinte, durchdringenden und durchbohrenden Blick.

»Da ist der Brief – nein! das ist Sir Thomas Champerdown's Bestellung von fünfzig Exemplaren des letzten Merkurs, der seine Rede bei der Grafschaftsversammlung enthält. Euer Alter, junger Mann? – erst sechzehn! – seht älter aus; – Das ist er nicht – das ist er nicht – – und dieser ist es! – Setzt Euch! – Ja, Mr. Roger Morton empfiehlt Euch – ein Verwandter – unglückliche Verhältnisse – wohlerzogen – hm! Nun, junger Mann, was habt Ihr zu Euern Gunsten zu sagen?«

»Sir?«

»Könnt Ihr Rechnungen machen? Versteht Ihr die Buchführung?«

»Ich verstehe etwas Algebra, Sir.«

»Algebra! – ha, was sonst?«

»Französisch und Latein.«

»Hm! – kann nützlich seyn. Warum tragt Ihr Euer Haar so lang? Seht meines an. Wie ist Euer Name?«

»Philipp Morton.«

»Mr. Philipp Morton, Ihr habt ein intelligentes Gesicht. – Ich gebe viel auf Gesichter. Ihr kennt die Bedingungen? – sehr günstig für Euch! Kein Lehrgeld – ich bringe das mit Roger ins Reine. Ich gebe Euch Tisch und Bett – für Wäsche habt Ihr selbst zu sorgen. Ordentliche Aufführung – Lehrzeit nur fünf Jahre, wenn die vorüber, dürft Ihr Euch nicht am nämlichen Ort niederlassen. Ich will für den Lehrbrief sorgen. Wann könnt Ihr kommen?«

»Wann es Euch beliebt, Sir.«

»Uebermorgen mit der sechs Uhr Kutsche.«

»Aber, Sir,« sagte Philipp, »soll ich gar kein Salar haben? nur Etwas, wenn auch noch so Wenig, das ich meiner Mutter schicken könnte?«

»Salar, mit sechzehn Jahren! – freier Tisch und Bett – kein Lehrgeld! Salar! Wofür? Lehrlinge bekommen kein Salar! Ihr werdet jede Bequemlichkeit haben!«

»Gebt mir an Bequemlichkeiten Weniger, damit ich meiner Mutter Mehr geben kann; – ein wenig Geld, wenn auch noch so Wenig, und zieht es mir am Tisch ab; ich kann mich mit Einer Mahlzeit täglich begnügen, Sir!«

Der Buchhändler war gerührt; er nahm eine ungeheure Prise Tabak aus seiner Westentasche und besann sich einen Augenblick. Dann sagte er, indem er Philipp noch einmal prüfend maß

»Gut, junger Mann, so will ich Euch sagen, was wir thun wollen. Ihr sollt zuerst auf Probe hieher kommen; – wir sehen, ob wir einander behagen, ehe wir den Vertrag unterzeichnen; – setze ich Euch inzwischen wöchentlich fünf Schilling aus. Wenn Ihr Talent zeigt, will ich sehen, ob ich mit Roger mich über eine kleine Belohnung vereinigen kann. Das thut's, he?«

»Ich danke Euch, Sir, ja,« sagte Philipp dankbar.

»Also einverstanden. Folgt mir – will Euch der Mrs. Plaskwith vorstellen.«

Mit diesen Worten steckte Mr. Plaskwith den Brief wieder in die Brieftasche und diese in die Tasche; dann legte er die Arme hinter seine Rockschöße, zog das Kinn in die Höhe und schritt durch den Gang in ein kleines Wohnzimmer, das auf ein Gärtchen sah. Hier saßen um einen Tisch herum eine magere Dame, welche schielte, Mrs. Plaskwith, zwei kleine Mädchen, die Misses Plaskwith, auch schielend, mit Schürzen; ein junger Mann von drei- bis vierundzwanzig Jahren in weiten Nankinbeinkleidern, welche durch Waschen ein wenig abgenommen, und einer schwarzen Sammtjacke und Weste. Dieser junge Mann war sehr sommerfleckig; sein Haar, dunkel und straff, trug er auf der einen Seite hinaufgestrichen, auf der andern herabhängend; er hatte eine kurze, dicke Nase; volle Lippen, und wenn man ihm nahe kam, roch er nach Cigarren. So war Mr. Plimmins, Mr. Plaskwiths Faktotum, der Erste im Laden, Mitherausgeber des Merkur.

Mr. Plaskwith stellte den Ankömmling sehr förmlich Allen der Reihe nach vor; Mrs. Plaskwith nickte mit dem Kopf; die Misses Plaskwith stießen einander an und grinsten; Mr. Plimmins fuhr sich mit der Hand durch die Haare, warf einen Blick in den Spiegel und verbeugte sich sehr höflich.

»Jetzt, Mrs. Plaskwith, meine zweite Tasse, und gebt Mr. Morton seine Portion Thee. Müßt ermüdet seyn, Sir, heißer Tag. Jemima klingle – nein, geh an die Treppe und rufe um noch mehr Butterschnitten. Das ist das kürzere – Raschheit ist meine Regel im Leben, Mr. Morton. Ei – hm, hm – habt Ihr je, zufällig, schon die Biographie des großen Napoleon Bonaparte studirt?«

Mr. Plimmins schluckte seinen Thee hinunter und stieß Philipp unter dem Tisch mit dem Fuß an. Philipp sah den Buchhalter trotzig an und versetzte finster: »Nein, Sir.«

»Das ist Schade! Napoleon Bonaparte war ein sehr großer Mann – sehr! Ihr habt seine Büste doch schon gesehen? – dort steht sie auf dem Drehtisch! Betrachtet sie! – findet eine Aehnlichkeit, he?«

»Aehnlichkeit, Sir? Ich habe Napoleon Bonaparte nie gesehen.«

» Ihn nie gesehen! Nein! seht Euch nur einmal im Zimmer um. An Wen mahnt Euch diese Büste? Wer gleicht ihr?«

Hier stand Mr. Plaskwith auf und nahm eine Attitude an; die Hand in der Weste, das Gesicht nachdenklich gegen den Theetisch gerichtet. »Jetzt stellt Euch vor, ich wäre auf St. Helena; dieser Tisch der Ocean. Nun jetzt, Wem gleicht diese Büste, Mr. Philipp Morton?«

»Ich denke, Sir, sie gleicht Euch!«

»Ha, das ist's! fällt Jedermann auf! Nicht wahr, Mr. Plimmins, nicht wahr? Und wenn Ihr mich erst länger kennt, werdet Ihr eine moralische Aehnlichkeit finden – moralische, Sir! Geradaus – kurz – pünktlich – keck – entschieden!«

»Guter Gott, Mr. Plaskwith!« sagte Mrs. Plaskwith sehr unmuthig, »macht doch schnell mit Eurem Thee; der junge Gentleman, denke ich mir, wird heim wollen, und die Kutsche kommt in einer Viertelstunde vorbei.«

»Habt Ihr Kean Edmund Kean (1787-1833), gefeierter britischer Shakespeare-Schauspieler. – Anm.d.Hrsg. in Richard III. gesehen, Mr. Morton?« fragte Mr. Plimmins.

»Ich habe nie ein Theaterstück gesehen.«

»Nie ein Theaterstück gesehen. Wie wunderlich!«

»Gar nicht wunderlich, Mr. Plimmins,« sagte der Buchhändler. »Mr. Morton hat widerwärtige Schicksale gehabt, – so gebt ihm doch die heißen Schnitten.«

Schweigend und unmuthig, aber eher mit Verachtung als traurig hörte Philipp dem Geschwätz um ihn her zu und beobachtete die unliebenswürdigen Charaktere, mit welchen er zusammen leben sollte. Er kümmerte sich nicht darum, zu gefallen; (ach! das war nie eigentlich sein Bestreben gewesen!) es genügte ihm, wenn er für sein Geistesauge, hinter den Wänden dieses trübseligen Gemachs empor sich hebend, die weitgedehnten Aussichten auf ein günstigeres Geschick vor sich hatte. Mit sechzehn Jahren – welcher Kummer kann die Hoffnung erkälten, oder welche prophetische Furcht dem Ehrgeiz zuflüstern: du bist ein Thor? Er wollte die zu Hause gelassenen Lieben zu ruhigem und glücklichem Leben, wenn auch nicht zu Ueberfluß und Rang zurückführen. Von der Höhe von wöchentlichen fünf Schillingen schaute er hinein in das gelobte Land.

Endlich zog Mr. Plaskwith seine Uhr heraus und sagte: »Gerade die rechte Zeit, die Kutsche zu treffen; macht Euer Compliment und macht Euch auf den Weg – Rasch ist das Wort!«

Philipp stand auf, nahm seinen Hut, machte eine steife Verbeugung, welche der ganzen Gruppe galt und verschwand mit seinem Wirth.

Mrs. Plaskwith, athmete leichter auf, als er weg war.

»Ich sah nie einen kurioseren, trotzigern und so schlecht erzogen aussehenden jungen Mann! Ich erkläre, ich fürchte mich ganz vor ihm. Was er für ein Auge hat!«

»Ungewöhnlich dunkel; etwas Zigeunerhaftes, möchte ich sagen,« sagte Mr. Plimmins.

»Hi, hi! Ihr habt immer so gute Einfälle, Plimmins. Zigeunerhaft! hi! hi! Ja so ist er. Ich möchte nur wissen, ob er Glück wahrsagen kann.«

»Es scheint nicht, daß er mit Wahrheit von seinem eignen Glück sagen kann; ha! ha!« bemerkte Mr. Plimmins.

»Hi! hi! wie ganz gut gesagt! Ihr seyd so spaßhaft, Plimmins!«

Während noch diese Ausstellungen gegen seine äußere Erscheinung gemacht wurden, hatte Philipp schon das Dach der Kutsche erstiegen; und mit der Herablassung alter Zeiten die Hand gegen seinen künftigen Herrn schwenkend, ward er von dem Eilwagen in einem Wirbel von Staub dahingerissen.

»Ein sehr warmer Abend, Sir,« sagte ein Passagier zu seiner Rechten, und blies zu diesen Worten aus einer kurzen köllnischen Pfeife eine Rauchwolke Philipp ins Gesicht.

»Sehr warm. Seyd so gut und raucht dem Gentleman auf Eurer andern Seite ins Gesicht,« antwortete Philipp keck und trotzig.

»Ho, ho!« versetzte der Passagier mit lautem, gewaltigem Gelächter – dem Gelächter eines kräftigen Mannes. »Ihr seyd jetzt noch kein Freund von der Pfeife, Ihr werdet es schon werden, wenn Ihr die Sorgen und Nöthen habt kennen gelernt, wie ich sie durchgemacht habe. Eine Pfeife – oh das ist eine große und wohlthuende Trösterin! die blauen Teufel entfliehen vor ihrem ehrlichen Hauch! Er reift das Gehirn, er öffnet das Herz; und der Mann der da raucht, denkt wie ein Weiser und handelt wie ein Samariter!«

Aufgerüttelt aus seiner Träumerei durch diese zierliche und unerwartete Deklamation, wandte Philipp rasch sein Auge auf seinen Nachbar. Er erblickte einen Mann von gewaltiger Masse und ungeheurer Leibesstärke – breitschultrig – von hoher Brust – nicht beleibt, aber durch Knochen und Muskeln ebenso umfangreich, wie ein korpulenter Mann durch Fleisch. Er trug einen blauen Rock, mit Schnüren und Borten besetzt und bis an den Hals zugeknöpft. Ein breitkrempiger Strohhut, auf die eine Seite gerückt, gab ein etwas leichtfertiges Aussehen einem Gesicht, das, trotz der lachenden und gesunden Farbe und des lächelnden Mundes, im Zustand der Ruhe einen kühnen und entschiedenen Charakter hatte. Es war ein Gesicht, das wohl zu diesem Leib paßte, sofern es einen Geist verrieth, der fähig war, die brutale, physische Körperkraft zu bemeistern und zu zügeln. Lichte Augen von durchdringender Intelligenz; grobe, aber entschlossene und auffallende Züge, und Kiefern wie von Eisen. Nachdenken, Energie, Leidenschaft sprachen aus den buschigen Brauen, den tiefgefurchten Linien, den weiten Nüstern und dem rastlosen Spiel der Lippen. Philipp sah ihn ernst und starr an und der Mann erwiederte seinen Blick.

»Was denkt Ihr von mir, junger Gentleman?« fragte der Passagier, indem er die Pfeife wieder in den Mund steckte. »Ich bin ein wohlaussehender Mann, nicht wahr?«

»Ihr scheint ein seltsamer Mann.«

»Seltsam! – Ja, ich mache Euch verdutzt, wie es mir schon mit Vielen ergangen ist und noch gehen wird. Ihr könnt nicht so leicht lesen, Was ich bin, als ich Euch lesen kann. Kommt, soll ich Euern Charakter und Schicksal errathen? Ihr seyd ein Gentleman, oder so Etwas, von Geburt – das sagt mir der Ton Eurer Stimme. Ihr seyd arm, teufelmäßig arm – dessen versichert mich das Loch in Eurem Rock. Ihr seyd stolz, feurig, mißvernügt und unglücklich – das Alles sehe ich in Eurem Gesicht. Weil ich diese Zeichen bemerkte, sprach ich mit Euch. Ich suche freiwillig keine Bekanntschaft mit Glücklichen.«

»Das glaube ich gern; denn wenn Ihr alle Unglückliche kennt, so müßt Ihr schon eine hinlängliche Bekanntschaft haben,« versetzte Philipp.

»Euer Witz geht über Eure Jahre! Was ist Euer Beruf, wenn die Frage Euch nicht beleidigt?«

»Ich habe bis jetzt keinen,« sagte Philipp mit einem leichten Seufzer und heftigem Erröthen.

»Um so mehr Schade!« brummte der Raucher mit einem lang gedehnten, emphatischen, näselnden Tone. »Ich hätte geurtheilt, Ihr wäret ein frischer Rekrut im Lager des Feindes.«

»Des Feindes! Ich verstehe Euch nicht.«

»Mit andern Worten: eine Pflanze, wie sie aus dem Pult eines Advokaten wächst. Ich will mich erklären. Es gibt eine Classe von Spinnen, fleißige, hartarbeitende Achtfüßler, die aus dem Schweiß ihres Gehirns, (ich setze, beiläufig bemerkt, voraus, daß eine Spinne eine tüchtige kraniologische Entwicklung haben muß,) ihre Gewebe spinnen und darin ihre Fliegen fangen. Es gibt eine andre Classe von Spinnen, die keinen solchen Stoff in sich haben, woraus sie Netze fertigen könnten; diese schweifen deßwegen umher, und suchen nach Nahrung, die ihnen durch das Gewebe und die Arbeit ihrer Nachbarn angeschafft wird. Wenn sie in das Gewebe einer kleineren Spinne kommen, deren Vorrathskammer gut versehen scheint, so stürzen sie auf ihr Besitzthum los – verfolgen sie in ihre Höhle – fressen sie auf, wenn sie das können – werfen sie weg, wenn sie zu zäh für ihre Kinnbacken ist, und setzen sich ruhig in den Besitz aller der Beine und Flügel, die sie in ihren Maschen schwebend finden; diese Spinnen nenne ich Feinde – die Welt nennt sie Advokaten!«

Philipp lachte. »Und Wer sind denn die Spinnen der ersten Classe?«

»Ehrliche Geschöpfe, die offen gestehen, daß sie von Fliegen leben. Die Advokaten fallen tückisch über sie her, unter dem Vorwand, Fliegen aus ihren Klauen zu befreien. Es sind wunderbare Blutsauger, diese Advokaten, trotz aller Heuchelei. Ha, ha! ho! ho!«

Und mit lautem, rohen Lachen, das mehr Bosheit als Fröhlichkeit ausdrückte, drehte sich der Mann um, sprach wieder tüchtig seiner Pfeife zu, und versank in ein Stillschweigen, das er nicht geneigt schien zu brechen, während Meile um Meile hinter den Rädern zurückflog.

Auch Philipp war nicht zu mittheilsamem Verkehr aufgelegt. Erwägungen seiner eignen Lage und Aussichten verschlangen das neugierige Interesse, das er unter andern Umständen wohl für einen eigenthümlichen Nachbar empfunden haben würde. Er hatte seit dem frühen Morgen keine Speise angerührt. Aengstliche Beklommenheit hatte ihn keinen Hunger spüren lassen, bis er bei Mr. Plaskwith ankam; und dann, fieberhaft, erbittert und mit wundem Herzen, empörte ihn nur der Anblick der guten Sachen, welche den Theetisch zierten.

Er fühlte keinen Hunger, aber er war erschöpft und schwach. Seit einigen Nächten war sein Schlaf – dessen die Jugend so schwer entbehrt – unruhig und gestört gewesen; und jetzt begann die rasche Bewegung der Kutsche und die freie Strömung einer frischeren und angreifenderen Luft, als er seit vielen Monaten zu athmen gewohnt gewesen, auf seine Nerven wie Berauschung durch ein Narkotikum zu wirken. Seine Augen wurden schwer; dämmernde Nebel, aus welchen die schielenden Gesichter der weiblichen Plaskwiths hervorzuglotzen schienen, traten an die Stelle der entschwindenden Straße und der tanzenden Bäume. Sein Haupt sank auf die Brust, und neigte sich dann, instinktmäßig den stärksten Anhalt suchend, der in der Nähe war, gegen den handfesten Nachbar und schmiegte sich endlich ganz behaglich an dieses Ehrenmanns Schulter.

Der Passagier, als er diese unwillkommene und unverlangte Last fühlte, nahm die Pfeife, die er schon dreimal frisch gefüllt, aus seinem Munde, und stieß einen ungeduldigen und zornigen Ausruf aus; als er merktet, daß dies nichts fruchtete, und daß die Last, je tiefer der Schlaf des Knaben, um so schwerer wurde, rief er mit lauter Stimme: »Holla! ich habe meinen Fahrlohn nicht bezahlt, um Euer Polster zu seyn, junger Mann!« und schüttelte ihn derb.

Philipp fuhr auf, und wäre seitlings von der Kutsche herabgestürzt, wenn ihn nicht sein Nachbar fest gepackt hätte mit einer Hand, die eine junge Eiche im Fall hätte aufhalten können.

»Ermuntert Euch – Ihr hättet können garstig hinunterpurzeln!«

Philipp murmelte etwas Unvernehmliches, zwischen Schlafen und Wachen, und wandte seine dunkeln Augen gegen den Mann; in diesem Blick lag so viel unbewußter, aber trauriger und tiefer Vorwurf, daß der Passagier sich gerührt und beschämt fühlte. Ehe er jedoch ein entschuldigendes oder begütigendes Wort sagen konnte, war Philipp wieder eingeschlafen. Aber diesmal, als hätte er doch die erlittene Zurückweisung empfunden und sich gemerkt, lehnte er seinen Kopf von seinem Nachbar weg gegen den Rücken einer Schachtel auf dem Dach der Kutsche – ein gefährliches Kissen, von dem ihn ein plötzlicher Stoß auf die Straße unten schleudern konnte.

»Der arme Junge! – er sieht blaß aus!« murmelte der Mann, und er klopfte das Feuer aus seiner Pfeife und schob sie sachte in seine Tasche. »Vielleicht war ihm der Rauch zu stark – er scheint krank und mager!« und er nahm des Knaben lange dürre Finger in die seinigen. »Seine Wange ist hohl! – ich weiß nicht, aber vielleicht ist es vom Fasten! Puh! ich war ein Unmensch! Still, Kutscher, still! schwatzt nicht so laut, und hole Euch der Henker – er fällt gewiß herunter;« und der Mann umschlang sanft und vorsichtig des Knaben Leib mit seinem ungeheuren Arm. »Jetzt gilt es, seinen Kopf zurecht zu legen – so – so – das ist gut.« Philipps bleichgelbe Wange und langes Haar waren jetzt sorgsam an die Brust des mit sich selbst Redenden geschmiegt. »Der arme Unglückliche! er lächelt; vielleicht denkt er an die Heimath, und an die Schmetterlinge, denen er als kleiner Junge nachrannte – sie kommen nie wieder, diese Tage; nie – nie – nie! Ich glaube der Wind streicht von Osten; er kann sich erkälten;« und damit schob der Mann für einen Augenblick mit der zarten Sorgsamkeit eines Weibes den Kopf des Knaben von seiner Brust weg an seine Schulter, knöpfte seinen Rock auf, brachte die ihm jetzt nicht mehr unwillkommene Bürde in ihre vorige Lage, und zog die Lappen dicht um die schlanke Gestalt des Schlafenden, während er seine eigne rauhe Brust, denn er trug keine Weste, der scharfen Luft aussetzte.

So an dieses Fremden Brust geborgen, der Gegenwart entrückt, und träumend vielleicht, während ein Herz, verzehrt von wilden und fürchterlichen Kämpfen mit dem Leben und der Sünde sein Kissen war, von einer schönen und unbefleckten Zukunft, schlief der vater- und freundlose Knabe.



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