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Achtes Kapitel.

Armut, Verachtung sammt viel andern Höllenhunden.

Thomson. Das Schloß des Müßiggangs.

Der Andre war ein schnöder, grauser Teufel.

Ebendaselbst.

Schaut Euer Glück! dann einen Zauberstab
Schwang stracks er, dem die Gegenkraft inwohnt,
Wahrheit von Schein und Täuschung auszuscheiden.

Ebendaselbst.

Doch was bleibt uns, den Kindern der Verzweiflung,
Gedrängt zum Rand der Hölle – welche Hoffnung?
Entschlossenheit! Entschlossenheit!

Ebendaselbst.

Man kann die Bemerkung machen, daß es gewisse Jahre gibt, wo in einem civilisirten Lande irgend ein besonderes Verbrechen vorzüglich in Aufnahme kommt. Es blüht seine Zeit über und brennt dann aus. So ist zu einer Zeit das Burken »Burking«: Töten durch Ersticken. – Anm.d.Hrsg., zu einer andern Gaunerei, bald Selbstmord im Schwang, bald Vergiften von Gewerbsleuten in Apfelpudding, – bald stechen kleine Knaben einander mit Federmessern, bald schießen gemeine Soldaten auf ihre Sergeanten. Beinahe jedem Jahr eignet ein besonderes Verbrechen; – eine Art von Jahrespflanze, die das Land überwuchert, aber nicht zum zweitenmale blüht.

Unstreitig hat mit diesen Epidemien die Presse nicht wenig Zusammenhang. Es berichte nur eine Zeitung von einer außergewöhnlichen Abscheulichkeit, welche den Reiz der Neuheit hat, so haften manche entartete Gemüther daran wie Blutegel. Sie brüten darüber und wälzen sich hin und her in Gedanken; die Idee wächst heran, eine grausige, phantastische Monomanie; Ein alter spanischer Schriftsteller, der von der Inquisition handelt, hat sehr treffende Bemerkungen über jene Art von Wahnsinn, der, wenn einem bestimmten Verbrechen eine auffallende und schreckbare Oeffentlichkeit gegeben wird, Leute von krankhaft gereizter Einbildungskraft dazu bringt, sich selbst desselben anzuklagen. Er bemerkt, daß, als die Grausamkeit der Inquisition gegen das eingebildete Verbrechen der Zauberei am barbarischsten wüthete, dieser eigenthümliche Wahnsinn gar Viele trieb, sich selbst der Zauberei anzuklagen. Die Veröffentlichung und Celebrität des Verbrechens erzeugte das Gelüsten nach dem Verbrechen. und plötzlich schießt, an hundert verschiedenen Orten, das Eine durch die bleiernen Lettern ausgesäte Saamenkorn in schändlicher Blüthe auf. Wenn aber gar das zuerst berichtete, zeugende Verbrechen von Straflosigkeit begleitet gewesen: in wie weit höherem Grade klammert sich dann der Nachahmungstrieb daran an, unüberlegte Gnade fällt nicht wie Thau, sondern wie ein großer Haufe Dünger auf den heillosen Saamen.

Nun traf es sich, daß zu der Zeit. von welcher ich schreibe, oder vielmehr kurz zuvor, in Paris ein höchst gefährlicher Falschmünzer war entdeckt und abgeurtheilt worden. Er hatte das Gewerbe mit einer Geschicklichkeit betrieben, die selbst dem Frevel Bewunderung erwarb; und überdies hatte er früher mit einiger Auszeichnung bei Austerlitz und Marengo gedient. Die Folge war, daß das Publikum für ihn statt gegen ihn Partei nahm; und sein Urtheil von der Regierung in dreijähriges Gefängniß verwandelt wurde. Denn alle Regierungen in freien Ländern streben mehr darnach, populär, als gerecht zu seyn.

Nicht sobald war dieser Fall in den Journalen berichtet, und selbst die ernstesten nahmen Kunde davon – was nicht so gewöhnlich ist bei den scholastischen Journalen Frankreichs – nicht sobald machte er Aufsehen und Sensation, und bedeckte den Verbrecher mit einer gewissen Celebrität, als auch die Folge davon bemerklich wurde in einer sehr ausgedehnten Verbreitung von falschem Geld.

In dem Jahr von dem ich schreibe, war Falschmünzen das fashionable Verbrechen. Die Polizei war in lebhaftester Thätigkeit; es kam zu ihrer Kenntniß, daß eine Bande insbesondere dies Handwerk mit ausgezeichnetem Erfolge betreibe. Ihre Ausmünzung war in der That so gut, so allen Mitbewerbern überlegen, daß ihr Geld oft vom Publikum unbewußt dem ächten Geld vorgezogen wurde. Zugleich betrieben sie ihr Geschäft mit solcher Heimlichkeit, daß sie jede Nachforschung vereitelten.

Eine ungeheure Belohnung ward von dem Büreau Jedem angeboten, der seine Mitschuldigen verrathen würde, und Monsieur Favart ward an die Spitze einer Nachforschungs-Commission gestellt. Dieser Mann war selbst ein faux monnoyer gewesen, und ein Adept in der Kunst, und er hatte den gefährlichen Falschmünzer entdeckt, welcher das Verbrechen in solchen Ruf und Aufnahme gebracht hatte, – Monsieur Favart war ein Mann vom wachsamsten Scharfsinn, von der unermüdlichsten Spürkraft, und von einem Muthe, der vielleicht gewöhnlicher ist, als man glaubt. Es ist ein gewöhnlicher Irrthum, zu glauben: Muth bedeute Muth in Allem. Man stelle einen Helden zur See vor eine hohe Barriere, und wenn er kein geübter Jäger ist, wird er erblassen. Man stelle einen Fuchsjäger an eine Bergspalte in der Schweiz, über die der Gebirgssohn wie ein Reh springt, und die Kniee werden ihm zusammensinken. Die Menschen sind muthig in Gefahren, an welche sie sich in der Einbildung oder in der Praxis gewöhnen.

So war denn Monsieur Favart ein Mann von der wagemuthigsten Keckheit, wenn es galt, Spitzbuben und Gurgelabschneidern entgegen zu treten. Er schüchtern sie ein schon mit seinem Blick; und doch wußte man, daß ihn seine Frau die Treppen hinunter geworfen, und als er zur großen Armee ausgehoben wurde, desertirte er am Abend seiner ersten Schlacht. Das ist, wie die Moralisten sagen, die Inkonsequenz des Menschen!

Aber Monsieur Favart hatte geschworen, die Falschmünzer aufzuspüren, und noch war ihm kein Unternehmen, das er begonnen, fehlgeschlagen. Eines Tags trat er mit so stolzerhobenem Angesicht vor seinen Chef, daß dieser durchdringende Geschäftsmann sogleich zu ihm sagte:

»Ihr habt von unsern Messieurs gehört?«

»Ja wohl; ich werde ihnen heute Nacht einen Besuch machen.«

»Bravo! Wie viel Mann wollt Ihr mit Euch nehmen?«

»Zwölf bis zwanzig muß ich außen als Wache aufstellen. Allein hineingehen muß ich allein. Das ist die Bedingung; ein Mitschuldiger, der für seinen eignen Hals zu sehr fürchtet, um offen den Verräther zu spielen, will mich in das Haus – ja, in das Zimmer einführen. Seiner Beschreibung nach ist es nothwendig, daß ich das Lokal genau kenne, um ihnen den Rückzug abzuschneiden; so werde ich dann morgen Nacht den Bienenkorb einschließen und den Honig nehmen«

»Es sind immer verzweifelte Bursche, diese Falschmünzer; daher rath' ich Euch Vorsicht.«

»Ihr vergeßt, daß ich auch Einer war, und ihre Freimaurerei kenne.«

 

Ungefähr zu derselben Zeit, wo diese Unterredung auf dem Polizeibureau stattfand, saßen in einer andern Gegend der Stadt Morton und Gawtrey allein bei einander. Einige Wochen waren seit ihrem Einzug in Paris verflossen und der Frühling war zum milden Sommer gereift. Das Haus, worin sie wohnten, lag in dem vornehmen Quartier des Faubourg St. Germain; die benachbarten Straßen enthielten die ehrwürdigen alten Gebäude der gefallenen Noblesse; aber ihre Wohnung lag in einem engen, schmutzigen Gäßchen, und das Haus selbst schien bettelhaft und baufällig. Das Zimmer war eine Bodenstube im sechsten Stockwerk, und das Fenster nach hinten gehend, hatte die Aussicht auf eine andere Reihe von Häusern von besserer Beschaffenheit, welche mit einer der großen Straßen des Quartier in Verbindung standen. Der Raum zwischen ihrer Wohnung und den Nachbarn gegenüber war so eng, daß die Sonne kaum durchdringen kannte. Mitten im Sommer fand man hier beständigen Schatten.

Die Beiden saßen am Fenster – Gawtrey, gutgekleidet, glattrasirt, wie in seiner besten Zeit; Morton in denselben Kleidern, worin er in Paris eingezogen, vom Wetter verdorben und zerrissen. Nach einem Blick nach dem parallelen Fenster des gegenüber liegenden Hauses sagte Gawtrey vor sich hinmurmelnd:

»Mich wundert, wo Birnie gewesen, und warum er noch nicht zurück ist; ich werde argwöhnisch gegen den Menschen.«

»Argwöhnisch, in wie fern?« fragte Morton. »Gegen seine Redlichkeit? Sollte er Euch berauben wollen?«

»Mich berauben? Hm – vielleicht! Aber seht Ihr, ich bin in Paris, trotz den Winken der Polizei; er kann mich angeben!«

»Und warum laßt Ihr ihn dann von Euch abgesondert wohnen?«

»Warum? weil wir, wenn Jeder ein besonderes Haus hat, dann zwei Auswege zur Flucht haben. Eine dunkle Nacht, und eine Leiter von einem Fenster zum andern gelegt, so ist er bei uns, oder wir bei ihm.«

»Wozu aber solche Vorsichtsmaßregeln? Ihr hintergeht – Ihr täuscht mich; was habt Ihr gethan? Was ist Euer Treiben jetzt? – Ihr seyd stumm. – Hört, Gawtrey, ich habe mein Schicksal an das Eurige geheftet – ich habe selbst der Hoffnung abgesagt. Zu Zeiten macht es mich fast wahnsinnig, wenn ich rückwärts schaue – und doch traut Ihr mir nicht. Seit Eurer Rückkehr nach Paris seyd Ihr ganze Nächte – oft auch Tage, abwesend; Ihr seyd nachdenklich und düster – doch, was auch Euer Gewerbe, es scheint Euch schönen Ertrag abzuwerfen.«

»Ihr glaubt das,« sagte Gawtrey mild und mit einer Art Mitleid in seinem Ton, »und doch weigert Ihr Euch, nur so viel Geld anzunehmen; um Eure Lumpen zu wechseln.«

»Weil ich nicht weiß, wie das Geld erworben wurde. Ach! Gawtrey, ich bin nicht zu stolz für Almosen, aber ich bin es für –«

Er unterdrückte das Wort, das ihm auf der Zunge lag und begann von Neuem:

»Ja, Eure Beschäftigung scheint gewinnreich zu seyn. Erst gestern gab mir Birnie fünfzig Napoleons, die Ihr, wie er sagte, in Silbergeld gewechselt wünschtet.«

»Gab er? der Hal – Gut! und Ihr ließet sie wechseln?«

»Ich weiß nicht warum, aber ich schlug es ab.«

»Das war recht, Philipp. Thut Nichts, was Euch dieser Mann sagt.«

»Wollt Ihr mir jetzt vertrauen? Ihr seyd in einen entsetzlichen Handel verwickelt – vielleicht in Blutschuld! Ich bin kein Knabe mehr; ich habe meinen eignen Willen – ich will nicht stumm und blind ins Verderben hineingezogen werden. Wenn ich weiter gehe auf dieser Bahn, so sey es mit meiner freien Zustimmung. Vertraut Euch mir an, und das heute noch, oder morgen sind wir geschiedene Leute.«

»Faßt Euch. Es gibt Geheimnisse, die man besser nicht kennt.«

»Einerlei! Ich habe meinen Entschluß gefaßt; – ich will den Eurigen hören.«

Gawtrey schwieg einige Augenblicke in tiefem Nachsinnen.

Endlich erhob er seine Augen gegen Philipp und antwortete:

»Gut denn, wenn es seyn muß. Früher oder später mußte es so kommen, und ich bedarf einen Vertrauten. Ihr seyd kühn und werdet nicht zurückbeben. Ihr verlangt mein Geschäft zu wissen; – wollt Ihr heut Nacht Zeuge davon seyn?«

»Ich bin bereit! Heute Nacht!«

Hier hörte man einen Schritt auf der Treppe – ein Pochen an der Thüre – und Birnie trat ein.

Er zog Gawtrey bei Seite und flüsterte wie gewöhnlich einige Augenblicke mit ihm.

Gawtrey nickte mit dem Kopf und sagte dann laut:

»Morgen werden wir ohne Rückhalt vor meinem jungen Freund reden. Heut Nacht kommt er zu uns.«

»Heut Nacht! – ganz gut!« sagte Birnie mit seinem kalten, höhnischen Lächeln. »Er muß den Eid leisten; und Ihr seyd mit Eurem Leben für seine Redlichkeit verantwortlich?«

»Ja, das ist das Gesetz.«

»Lebt wohl denn, bis, wir uns wieder treffen,« sagte Birnie und ging.

»Ich bin begierig,« sagte Gawtrey nachsinnend, zwischen seinen über einander gebissenen Zähnen, »ob ich wohl einmal einen tüchtigen Schuß auf diesen Burschen feuern werde? Ho! ho!« und sein Lachen erschütterte die Wände.

Morton sah Gawtrey scharf an, als dieser jetzt in seinem Sessel zurücksank, und mit leerem Blick, der beinah der des Blödsinns schien, die Wand gegenüber anstarrte. Der sorglose, unbekümmerte, fröhliche Ausdruck, der gewöhnlich die Züge dieses Mannes charakterisirte, war seit einigen Wochen einer unruhigen, ängstlichen, zu Zeiten trotzigen Miene gewichen; wie das wilde Thier, das zuerst, so lang die Hunde noch weit entfernt und seine Glieder noch kraftvoll sind, eine Kurzweil findet an dem Jagen, das es zu seiner Beute erkoren, aber vor Wuth und Angst in Verzweiflung geräth, wenn der Tag sich seinem Ende nähert, und die Bluthunde hart auf seiner Fährte schnauben; in diesem Augenblick aber schienen die kräftigen Züge, mit den knotigen Muskeln und eisernen Sehnen jedes Zeichen von Leidenschaft und Willenskraft verloren zu haben, und in dumpfe, abgespannte Ruhe versunken zu seyn.

Endlich schaute er auf und Morton an, und sagte mit einem Lächeln wie das eines kindischen Greises:

»Ich glaube, mein Leben ist ein Irrthum und Mißgriff gewesen. Ich hatte Talente – Ihr würdet es nicht glauben – aber einst war ich weder ein Narr noch ein Schurke. Seltsam, nicht wahr? Reicht mir doch den Branntwein!«

Aber Morton wandte sich mit einem leichten Schauder ab und verließ das Zimmer.

Er schritt maschinenmäßig fort, und erreichte endlich den prächtigen Quai am Strande der Seine; hier wurden der Spaziergänger mehrere; stattliche Equipagen rollten dahin; die weißen lustigen Häuser nahmen sich heiter und stattlich aus unter dem klaren blauen Himmel des Frühsommers; ihm zur Seite floß der glänzende Fluß belebt von den bunt angestrichenen Badhäusern, die auf seinem Spiegel schwammen; die Erde war fröhlich und der Himmel heiter; sein Herz war finster trotz Allem; Nacht innen – außen schöner Morgen.

Endlich blieb er stehen bei jener Brücke, die prangt mit den Statuen derjenigen, welche die Laune der Zeit mit einem Namen beehrt; denn obgleich Zeus und seine Götter gestürzt sind, wird doch, so lang die Erde dauert, der Cultus der Todten bestehen; – die Brücke, über welche man von den königlichen Tuilerien oder den prachtvollen Straßen jenseits der Rue de Rivoli zu dem Senat des emancipirten Volks und der trüben und vereinsamten Größe des Faubourg St. Germain gelangt, in dessen ehrwürdigem Asyl die verarmten Abkömmlinge der alten feudalen Tyrannen, welche die Geburt des Senates stürzte, sich noch versammeln – die Geister entschwundener Mächte, stolz auf die Schatten großer Namen.

Als der englische Ausgestoßene mitten auf der Brücke stillestand, zum ersten Mal das Haupt von der Brust emporhob, und sich umschaute, da drängte sich auf einmal seiner Erinnerung jener schreckliche und verhängnißvolle Abend auf, wo er hoffnungslos, freundlos, verzweifelt, den Miethling seines Oheims um ein Almosen angesprochen hatte, mit all den Gefühlen, die damals (– in seiner kurzen Erzählung gegen Gawtrey hatte er sie nur leicht und unvollständig berührt –) in seiner Brust in schwarzer Gährung getobt, ihn zu seinem dann ausgeführten Entschluß gedrängt, und ihn auf die unheilvolle Freundschaft des Mannes angewiesen hatten, dessen Führung er schon damals voll schlimmen Argwohns mißtraute.

Der Ort hatte in den beiden Städten eine gewisse Aehnlichkeit und Uebereinstimmung; dort hatte seine Verzweiflung am menschlichen Schicksal ihren Gipfel erreicht – dort hatte er gewagt, die göttliche Vorsehung zu vergessen, und hatte sein Geschick in seine eignen Hände genommen; auf der ersten Brücke hatte er seinen Entschluß gefaßt – auf der zweiten stand er voll Entsetzen über den Ausgang – stand da, nicht minder arm – nicht minder gedemüthigt – ebenso in Schmutz und Lumpen; aber trug er den Sinn und Kopf noch so hoch? war sein Auge noch ebenso furchtlos? war sein Gewissen noch so rein, seine Ehre noch so unbefleckt?

Diese steinernen Bogen, diese dazwischen hinströmenden Flüsse schienen ihm jetzt eine mystischere und sinnbildlichere Bedeutung anzunehmen, als welche nur auf die äußere Welt Bezug hat – es waren die Brücken über die Ströme seines Lebens.

In so verworrene und dämmernde Gedanken war er vertieft, daß er durch das Chaos hindurch kaum den Einen Streifen Licht unterscheiden konnte, der vielleicht die Wiederherstellung und Umschaffung der Elemente seiner Seele verkündete; zwei Fußgänger blieben auch neben ihm stehen.

»Ihr kommt zu spät zu den Debatten,« sagte der Eine zum Andern. »Warum bleibt Ihr stehen?«

»Mein Freund,« sagte der Andere, »ich gehe nie über diesen Platz, ohne mich der Zeit zu erinnern, wo ich hier stand ohne einen Sou, oder, wie ich glaubte, ohne Aussicht auf einen, und mit frevelhaftem Sinne an Selbstmord dachte.«

» Ihr! Jetzt so reich – so glücklich durch Ruf und Stand! – ist es möglich? Wie ward es? Ein glücklicher Schicksalswechsel? ein plötzliches Vermächtniß?«

»Nein! Zeit, Glauben und Thatkraft, die drei Schutzgeister, die Gott den Armen gegeben.«

Die Männer gingen weiter; aber Morton, der sein Angesicht nach ihnen hingewandt hatte, glaubte zu bemerken, daß derjenige, der zuletzt gesprochen, ihn mit seinem glänzenden, freudigen Auge und mit bedeutungsvoller Miene angeblickt, und als der Mann weg war, wiederholte er jene Worte, und hieß sie im innersten Herzen seines Herzens willkommen, als eine Vorbedeutung von Oben.

Dann schien sich rasch, wie durch Zauber, die vorherige Verwirrung seiner Seele in deutliche Gestalten des Muths und der Entschlossenheit zu lösen.

»Ja,« murmelte er, »ich will der Verabredung für heute Nacht Folge leisten – ich will das Geheimniß des Lebens dieser Männer erfahren. In meiner Unerfahrenheit und Verlassenheit habe ich mich bisher zur Genossenschaft, wo nicht mit Laster und Verbrechen, mindestens mit verdächtigem, heimlichem Treiben und Unfug verleiten lassen. Ich erwache aus meiner leichtsinnigen Knabenzeit – aus meinem unwürdigen Preisgeben meines bessern Selbsts! Wenn Gawtrey der ist, den ich an ihm zu finden fürchte – wenn er in verbrecherischem, häßlichem Gewerbe verflochten ist mit diesem abscheulichen Mitschuldigen – so will ich – –« er hielt inne, denn sein Herz flüsterte ihm zu: Ha! und auch dann, – der schuldbeladene Mann hat doch dich gekleidet und genährt! – »so will ich,« fuhr er in seinen Gedanken fort, die Einsprache seines Herzens berücksichtigend – »so will ich ihn auf meinen Knieen anflehen, zu fliehen, so lang es noch Zeit, zu arbeiten – zu betteln – zu darben – selbst zu verderben, lieber, als das Recht zu verlieren, ohne Erröthen den Menschen ins Gesicht zu schauen, und vor seinem Gott zu knien ohne Gewissensbisse.«

Und wie er so schloß, da war ihm selbst plötzlich, als wäre er wieder zur Empfindung und zum freudigen Genuß der Natur und der Welt um ihn her erwacht; die Nacht war verschwunden von seiner Seele – er sog die balsamische Frische der Luft ein – er begriff die Wonne, die der freigebige Junius über die Erde ausschüttete – er schaute empor und sein Auge strahlte von Lust über das Lächeln des sanften blauen Himmels. Der Morgen wurde, so zu sagen, ein Theil seines eignen Wesens; und er fühlte, daß, wie die Welt schön ist trotz der Stürme, so, trotz des Uebels, Gott gut ist. Er schritt weiter – er ging über die Brücke – aber sein Schritt war nicht mehr derselbe, – er vergaß seine Lumpen. Warum sollte er sich schämen?

Und so, in der höchsten Aufwallung dieser neuen, wunderbaren Ermannung und Geisteselasticität, stieß er unversehens auf eine Gruppe junger Leute, welche sich vor dem Portal eines der vornehmsten Hotels in der prächtigen Rue de Rivoli umtrieben, wo der Reichthum und die Engländer ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben. Ein Reitknecht zu Pferde führte ein zweites Pferd die Straße auf und ab, und die jungen Männer machten ihre beifälligen und rühmenden Bemerkungen über beide Pferde, besonders das letztere, welches in der That von ungemeiner Schönheit und von großem Werth war. Selbst Morton, in welchem die knabenhafte Passion seines frühern Lebens noch nicht erloschen war, blieb stehen, um sein erfahrenes und bewunderndes Auge an der stattlichen Gestalt und dem Gang des edlen Thieres zu weiden, und während dem schlug ein Name, dessen er sich nur zu gut erinnerte, an sein Ohr.

»Gewiß, Arthur Beaufort ist der beneidenswertheste Junge in Europa!«

»Ei gewiß ja!« sagte ein Anderer von den jungen Männern; »er hat Geld im Ueberfluß, ein hübsches Aussehen, ist teufelmäßig gutmüthig, gescheit, und läßt aufgehen wie ein Prinz.«

»Hat die besten Pferde!«

»Das ausbündigste Glück beim Roulette!«

»Die hübschesten Mädchen sind in ihn verliebt!«

»Und Niemand genießt das Leben mehr. Ha! da ist er!«

Die Gruppe theilte sich, als die leichte, anmuthige Gestalt aus dem Laden eines Juweliers neben dem Hotel heraustrat, und munter und freundlich bei den Umherstehenden verweilte. Mortons erster Gedanke war, von dem Platze weg zu rennen; aber ein zweiter Gedanke fesselte seine Schritte, und ein wenig bei Seite, halb versteckt unter einem Bogen der Colonnade, welche die Straße ziert, beobachtete der Ausgestoßene den Erben.

Die äußeren Vorzüge der Persönlichkeit der beiden jungen Männer ließen sich nicht vergleichen, denn Philipp Morton war nunmehr, trotz aller Mühsale seiner rauhen Lebensbahn, zu einer seltnen Vollendung der Gestalt und der Züge herangereift. Seine breite Brust, seine aufrechte Haltung, sein schlanker und symmetrischer Wuchs vereinigte aufs glücklichste die Eigenschaften der Gewandtheit und Kraft; und obgleich auf seiner dunkeln Wange Nichts von der zarten Blüthe üppiger Jugend zu sehen war, und obgleich Linien, die erst später hätten kommen sollen, ihre Glätte mit den Spuren des Kummers und gedankenvoller Sorge durchfurchten, so trug doch der Ausdruck von Intelligenz und von Kühnheit, die beide über seine Jahre waren, und das unverkennbare Gepräge tüchtiger, enthaltsamer und kraftvoller Gesundheit, dazu bei, aufs vortheilhafteste den Umriß von Zügen erscheinen zu lassen, die, edel und regelmäßig, obwohl streng und männlich, ein Künstler hätte borgen können für sein Ideal eines jungen Spartaners, der sich zur ersten Schlacht waffnet.

Arthur, zartgebaut bis zur Schwächlichkeit, und mit einer Blässe in seinem klaren und freundlichen Gesicht, die theils seiner Constitution eigen, theils die Folge von Vergnügungssucht war, hatte weit weniger symmetrische und ausdrucksvolle Züge, aber was hatte er dafür! Alles was durch Zierlichkeit des Anzugs gewonnen wird, alle Verfeinerungen einer gewählten, üppigen Lebensweise, die nicht mit Worten zu bezeichnende Grazie, die aus einem gebildeten Geist und gebildeten Benehmen entspringt, gebildet – jenes durch literarische Beschäftigung und dieses durch geselligen Verkehr – alles dies begabte die Persönlichkeit des Erben mit einem Zauber, den die rohe Natur für sich Niemals geben kann, und um ihn her war eine Munterkeit, ein Aether von Laune und Geist, eine Atmosphäre von Genußfreudigkeit, welche deutlich zeigten, daß er mit Liebe das Leben ansah.

»Ha, das ist glücklich! Es freut mich, Euch Alle zu sehen!« sagte Arthur Beaufort mit jener silbernklingenden Stimme und dem bezaubernden Lächeln, die für den glücklichen Lenz des Menschen, was Musik und Sonnenschein für den Frühling der Erde sind. »Ihr müßt mit mir bei Very speisen. Ich muß mich heute durch Etwas aufregen; denn ich kam erst um vier Uhr diesen Morgen vom Salon Das berühmteste Spielhaus in Paris, ehe die Spielhäuser durch einsichtsvolle Energie der Regierung unterdrückt worden waren. heim.«

»Aber Ihr habt gewonnen?«

»Ja, Marsden. Zum Henker! Ich gewinne immer; ich, der ich so wohl vertragen könnte zu verlieren; ich schäme mich ganz meines Glückes!«

»Es ist leicht zu verschwenden, was man gewonnen,« bemerkte Mr. Marsden moralisirend, »und ich sehe, Ihr seyd beim Juwelier gewesen! Ein Geschenk für Cecile? Nun erröthet nicht, mein lieber Kamerad. Was ist das Leben ohne Weiber?«

»Und Wein?« sagte ein Zweiter.

»Und Spiel?« ein Dritter.

»Und Geld?« ein Vierter.

»Und Ihr erfreut Euch alles dessen! Glücklicher Junge!« sagte ein Fünfter.

Der Verstoßene zog seinen Hut über die Stirne und eilte fort.

»Dies liebe Paris!« sagte Beaufort, indem sein Auge unbewußt und gleichgültig die dunkle Gestalt verfolgte, welche durch die Bogen sich entfernte: – »dies liebe Paris! Ich muß es mir aufs beste zu Nutze machen, so lang ich noch bleibe! Ich bin erst wenige Wochen hier, und nächste Woche muß ich gehen.«

»Pah! Eure Gesundheit ist besser geworden! Ihr seht Euch gar nicht mehr gleich.«

»Meint Ihr wirklich so? Aber ich weiß doch nicht; die Aerzte sagen, ich müsse entweder an die deutschen Brunnen geben – die Saison hat angefangen – oder –«

»Oder was?«

»Oder weniger in so angenehmer Gesellschaft leben, mein lieber Kamerad! Aber, wie Ihr sagt, was ist das Leben ohne –«

»Weiber!«

»Wein!«

»Spiel!«

»Geld!«

»Haha! Gebt die Arznei den Hunden! ich will Nichts davon.«

Und Arthur schwang sich leicht in seinen Sattel, und wie er lustig dahinritt, die Lieblingsarie aus der neuesten Oper summend, besprützten die Hufe seines Pferds einen am Eckstein stehenden Fußgänger mit Koth. Morton erstickte den hitzigen Ausruf, der ihm auf die Lippe trat: und wie er der glänzenden Gestalt nachschaute, welche den Champs Elysées zusprengte, fiel sein Auge auf die Statuen auf der Brücke, und eine Stimme, wie die eines tröstenden Engels flüsterte wieder seinem Herzen zu: Zeit, Glaube, Thatkraft!

Der Ausdruck seines Gesichts wurde auf einmal ruhig, und er setzte seine Wanderung jetzt fort mit einem Gemüth, das, die Bürde der Vergangenheit abwesend, heiter und fest die Hindernisse und Mühsale der Zukunft ins Auge faßte.

Wir haben gesehen, daß eine Bedenklichkeit des Gewissens oder des Stolzes, die nicht ohne etwas Edles war, ihn Gawtreys Zureden, sich einen minder ärmlichen Anzug anzuschaffen, hatte zurückweisen machen; aus demselben Gefühl vermied er es auch regelmäßig, an der üppigen und delikaten Kost theilzunehmen, womit Gawtrey sich selbst warm zu halten pflegte. Denn dieser sonderbare Mann, den seine erstaunliche Konstitution und glückliches Temperament unter allen Umständen lebhaft empfänglich machten für den tüchtigsten sinnlichen Lebensgenuß, pflegte immer, wenn der Tag sich neigte, aus ihrem elenden Gemach herauszukriechen, und seiner Vermummung vertrauend, worin er wirklich es zur Meisterschaft gebracht hatte, zu einem der restaurants der bessern Art sich zu begeben, und für den Augenblick seine Sorgen in einer guten Mahlzeit zu begraben.

William Gawtrey hätte sich keinen Strohhalm um den Fluch des Damokles bekümmert. Das Schwert über seinem Kopf hätte ihm nie den Appetit verdorben! Auch hatte er sich neuerdings in viel höherem Grade als früher dem Trinken ergeben – der gute und schöne Verstand des Mannes wurde stumpf und schwer; und das war ein Schauspiel, das Morton nicht mit ansehen konnte. Aber so groß war Gawtreys gesunde Lebenskraft, daß er, nachdem er so viel Wein und geistige Getränke hinuntergeschüttet, als hingereicht hätte, um eine ganze Gesellschaft von Fuchsjägern zu decken, und, manchmal in unbändiger, wilder Lustigkeit, manchmal in trübsinnigem Gejammer, verrathen hatte, daß auch er nicht gänzlich unverwundbar war für den Tyrsus des Gottes, – dennoch, sobald seine Geistesthätigkeit in Anspruch genommen wurde, oder, ganz besonders, ehe er wegging, jenen geheimnißvollen Expeditionen nach, die ihn die halbe, manchmal die ganze Nacht von Hause entfernt hielten, seinen Kopf in kaltes Wasser zu tauchen pflegte – so viel von der Flüssigkeit trank, als ein Reitknecht einem Pferde zu geben geschaudert haben würde – seine Augen zu einem halbstündigen Schläfchen schloß, und kalt, nüchtern und gesammelt aufwachte, als hätte er ganz nach den Vorschriften eines Sokrates oder Cornaro gelebt!

Doch um zu Morton zurückzukehren – es war, wie gesagt, seine Gewohnheit, so viel als möglich die Theilnahme an dem guten Leben seines Genossen zu meiden; und jetzt, wie er die Champs Elysées betrat, sah er eine kleine Familie, bestehend aus einem jungen Handwerker, seiner Frau und zwei Kindern, die mit jener Neigung zu harmloser Erholung, welche noch jetzt die Franzosen charakterisirt, einen Feiertag für Gewerbe sich zu Nutze gemacht hatten, und ihr einfaches Mahl im Schatten der Bäume verzehrten.

War es nun Hunger oder Neid – Morton blieb stehen und betrachtete die glückliche Gruppe. Auf der Straße rollten dahin die Equipagen und stampften die Pferde derjenigen, für welche das ganze Leben ein Feiertag ist. Dort war die Lust – unter diesen Bäumen das Glück. Eines von den Kindern, ein kleiner Knabe von etwa sechs Jahren, der die Haltung und den Blick des stehenbleibenden Zugvogels bemerkt hatte, lief auf ihn zu, hielt ihm ein Stück Kuchen von grober Beschaffenheit entgegen, und sagte in herzgewinnendem Tone: »Nehmt – ich habe genug gehabt!«

Das Kind erinnerte Morton an seinen Bruder – sein Herz schmolz ihm im Leib – er hob den jungen Samariter in seinen Armen empor, und weinte, indem er ihn küßte.

Die Mutter sah dies und stand auch auf. Sie legte ihre Hand in die seinige: »Armer Junge! warum weint Ihr? – können wir Euch helfen?«

Nun schien es Morton, als dieser helle Schimmer von Menschlichkeit plötzlich durch die düstern Erinnerungen und Bilder seines vergangenen Lebens zuckte, als ob er vom Himmel käme, um sein Bestreben, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen, zu billigen und zu sühnen.

»Ich danke Euch,« sagte er, indem er das Kind auf den Boden stellte und mit der Hand über die Augen fuhr, – »Ich danke Euch – ja! Laßt mich unter Euch sitzen.«

Und er setzte sich hin, das Kind an seiner Seite, und nahm an ihrem Mahle Theil und war lustig mit ihnen, – der stolze Philipp! – hatte er nicht angefangen, das »köstliche Juwel« zu entdecken in dem »häßlichen und giftigen« Unglück?

Der Handwerker, obgleich im Ganzen ein munterer Gesell, war doch nicht frei von aller Unzufriedenheit mit seiner Stellung, was bei dieser Klasse ganz gewöhnlich ist; aber er machte ihr nicht in Murren, sondern in Scherzen Luft. Er machte satyrische Bemerkungen über die vorbeikommenden Wagen und Reiter, und auf dem Grase sich dehnend spottete er nach Herzenslust über Leute, die vornehmer waren als er.

»Still!« sagte seine Frau plötzlich, »da kommt Madame de Merville!« und mit diesen Worten stand sie auf und machte eine ehrerbietige Verbeugung mit dem Kopf gegen einen offnen Wagen, welcher vorbeikam und sehr langsam der Stadt zufuhr.

»Madame de Merville!« wiederholte der Mann, ebenfalls aufstehend und die Mütze abnehmend. »Ha! gegen die habe ich Nichts einzuwenden!«

Morton schaute instinktmäßig nach dem Wagen, und erblickte ein schönes Gesicht, das sich anmuthig umwandte, um die stummen Begrüßungen des Arbeiters und seines Weibes zu erwiedern – ein Angesicht, das ihm oft in seinen Träumen vorgeschwebt, obwohl es in neueren Zeiten hinter ernsteren und trüberen Gedanken zurückgetreten war – das Angesicht der Unbekannten, die er auf dem Bureau Gawtreys gesehen, als dieser Ehrenmann noch einen süßer lautenden Namen trug.

Er fuhr auf und wechselte die Farbe; die Dame selbst schien ihn jetzt plötzlich wieder zu erkennen; denn ihre Blicke begegneten sich und sie neigte sich lebhaft vorwärts. Sie zog die Schnur für den Kutscher an – der Wagen hielt – sie winkte der Frau des Arbeiters, welche auf die Straße hinaustrat.

»Ich habe einmal für diese Dame gearbeitet,« sagte der Mann im Tone des Gefühls; »und als mein Weib im letzten Winter erkrankte, bezahlte sie die Aerzte. Ach, sie ist ein Engel an Menschenliebe und Freundlichkeit!«

Morton hörte diese Lobsprüche kaum, denn er merkte an dem lebhaften, fragenden Ausdruck im Gesicht der Madame de Merville, und an der überraschten Art, womit des Arbeiters Ehehälfte den Kopf nach dem Platz zurückwandte, wo er stand, daß er der Gegenstand ihres Gespräches war. Jetzt erwachte in ihm plötzlich wieder das Bewußtseyn seines zerlumpten Aufzugs und mit einer natürlichen Schaam – in der Besorgniß, ihre Menschenfreundlichkeit und Wohlthätigkeit möchte sich auch auf ihn ausdehnen – murmelte er ein hastiges Lebewohl gegen den Arbeiter, und eilte, ohne einen weitern Blick auf den Wagen fort.

Noch hatte er aber kaum einige Schritte gemacht, als die Frau athemlos auf ihn zu lief; »Madame de Merville wünscht Euch zu sprechen, Herr!« sagte sie mit mehr Achtung, als sie bisher in ihrem Benehmen gegen ihn gezeigt hatte. Philipp blieb einen Augenblick stehen, und schritt dann weiter.

»Es muß ein Mißverständniß seyn,« sagte er hastig. »Ich habe kein Recht, eine solche Ehre zu erwarten.«

Er eilte über die Straße, erreichte die entgegengesetzte Seite, und verschwand der Madame de Merville aus den Augen, ehe die Frau den Wagen wieder erreichte. Aber immer noch drängte sich das ruhige, bleiche und etwas schwermüthige Angesicht seiner Seele auf, und wie er wieder durch die Stadt wanderte, bestürmten süße und holde Phantasieen in bunter Verwirrung sein Herz. An diesem milden Sommertage, denkwürdig durch so manche stumme, aber wichtige Ereignisse in jenem innern Leben, welches die Katastrophen des äußeren vorbereitet, – wie in der Region, von welcher Virgil singt, die Gebilde der Menschen, die später geboren werden sollen, ruhen oder schweben – an diesem milden Sommertage hatte er, dies fühlte er, das Alter erreicht, wo die Jugend anfängt, in eine menschliche Gestalt ihr erstes, unbestimmtes Ideal von Sehnsucht und Liebe zu kleiden.

Unter solchen Gedanken und fortgesetzten Wanderungen verstrich Philipp der Tag; bis er sich in einem der Gäßchen befand, welche jenen schimmernden Mikrokosmus der Laster, der Frivolitäten, des hohlen Prunks und der wirklichen Bettelarmuth der stattlichen Hauptstadt– die Gärten und Gallerien des Palais Royal umgeben. Ueberrascht, daß es schon so spät – es war eben Schlag sieben Uhr – war er im Begriff nach Hause zurückzukehren, als hinter ihm die laute Stimme Gawtreys erschallte, und dieser, ihm auf den Rücken klopfend, zu ihm sagte:

»Hallo! mein junger Freund, glücklich getroffen! das wird für Euch eine Nacht der ernsten Probe seyn. Ein leerer Magen macht schwache Nerven. Kommt, jetz! Ihr müßt mit mir essen. Eine gute Mahlzeit, und eine Flasche alten Weins – kommt! Unsinn, sage ich, Ihr sollt mit mir! Vive la joie

Unter dem Reden hatte er seinen Arm in den Mortons gelegt, und zog ihn trotz seines Widerstrebens einige Schritte weit hastig mit sich fort; aber gerade in dem Augenblick, wo die Worte: Vive la joie! über seine Lippen kamen, blieb er stumm und starr stehen, wie wenn ein Donnerkeil vor ihm niedergefahren wäre; und Morton fühlte diesen schweren Arm zittern und beben wie ein Blatt. Er schaute auf und gerade am Eingang desjenigen Theils des Palais-Royal, wo die restaurants Very und Vefour sich befinden, sah er zwei Männer nur wenige Schritte vor ihnen stehen, welche Gawtrey und ihn scharf ins Auge faßten.

»Das ist mein böser Genius!« murmelte Gawtrey, mit den Zähnen knirschend.

»Und der meinige!« sagte Morton.

Der jüngere von den beiden so bezeichneten Männern machte einen Schritt auf Philipp zu, als sein Begleiter ihn zurückzog, und ihm zuflüsterte:

»Was fällt Euch ein zu thun? – Kennt Ihr diesen jungen Mann?«

»Es ist mein Vetter; Philipp Beauforts natürlicher Sohn.«

»Ist er? dann meidet ihn für immer! Er ist in der Gesellschaft des gefährlichsten Spitzbuben in Europa!«

Wie Lord Lilburne – denn er war es – dies seinem Neffen zuflüsterte, trat Gawtrey auf ihn zu, und sagte, ihm starr ins Gesicht schauend in tiefem und hohlem Tone:

»Es gibt eine Hölle, mein Lord, ich gehe und trinke auf unsre Begegnung!«

Mit diesen Worten nahm er in ceremoniösem Hohne den Hut ab, und verschwand in dem anstoßenden restaurant von Vefour.

»Eine Hölle!« sagte Lilburne, mit seinem eiskalten Lächeln; »des Schurken Kopf ist voll von SpielhäusernHell bedeutet Hölle und Spielhaus. ( Anm.d.Übers.)

»Und ich habe Philipp mir wieder entkommen lassen,« sagte Arthur sich selbst Vorwürfe machend; denn während Gawtrey den Lord Lilburne angeredet, war Philipp in dem Labyrinth von Gäßchen wieder verschwunden. »Wie habe ich meinen Schwur gehalten!«

»Kommt, Eure Gäste müssen jetzt schon da seyn. Was diesen elenden jungen Menschen betrifft, so verlaßt Euch darauf, daß er an Leib und Seele verdorben ist.«

»Aber er ist mein leiblicher Vetter!«

»Pah! mit natürlichen Kindern gibt es keine Verwandschaft; zudem wird er Euch bald genug auffinden. Zerlumpte Prätendenten sind nicht lange zu stolz zum Betteln.«

»Ihr redet im Ernst?« sagte Arthur unentschlossen.

»Ja! vertraut meiner Erfahrung in der Welt! Allons

Und in einem Cabinet eben desselben restaurant, an dasjenige stoßend, in welchem der einsame Gawtrey sein Gewissen mit Essen und Trinken erstickte, badeten Lilburne, Arthur und ihre lustigen Freunde, bald Alles vergessend außer den Rosen des Augenblicks ihre lustigen Geister im Thau des erheiternden Weines. Oh, Extreme des Lebens! O Nacht! O Morgen!



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