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Zweites Kapitel.

Das grollende Geschick beschwichtigt' er
Mit eiteln Träumen.

Crabbe.

Warum kommt mein Vater nicht zurück? Wie lang er schon weg ist!«

»Mein lieber Philipp, Geschäfte halten ihn zurück; aber er wird in wenigen Tagen hier seyn – vielleicht heute noch!«

»Ich freue mich darauf, wenn er sieht, welche Fortschritte ich gemacht habe.«

»Fortschritte in was, Philipp?« sagte die Mutter mit einem Lächeln. »Im Latein gewiß nicht; denn ich habe Dich kein Buch aufschlagen sehen, seit Du des armen Todd's Entlassung erzwungen.«

»Todd! Ha, das war ein solcher Lump, und sprach so durch die Nase; was konnte der vom Latein verstehen?«

»Mehr als Du je davon verstehen wirst, besorge ich, wenn nicht –« und hier ward im Tone der Mutter ein zögerndes Bedenken bemerkbar, – »wenn nicht Dein Vater einwilligt, daß Du die Schule besuchst.«

»Nun, ich ginge gern nach Eton! – Das ist die einzige Schule für einen Gentleman. Ich habe das meinen Vater sagen hören.«

»Philipp, Du bist zu stolz.«

»Stolz! Du nennst mich oft stolz; aber dann küßst Du mich doch dabei. Küsse mich jetzt auch, Mutter!«

Die Dame zog ihren Sohn an ihre Brust, schob das üppige Haar von seiner Stirne zurück und küßte ihn, aber der Kuß war wehmüthig, und nach einem Augenblick drängte sie ihn sanft weg und murmelte, ohne zu wissen, daß sie gehört werde, vor sich hin:

»Wenn am Ende doch meine Hingebung für den Vater den Kindern Nachtheil brächte!«

Der Knabe fuhr auf und eine Wolke zog über seine Stirne; aber er sagte Nichts. Ein leichter Tritt trat durch die französischen Fenster, welche auf den Rasenplatz hinausführten, in das Zimmer, und die Mutter wandte sich zu ihrem jüngsten Kind und ihr Auge leuchtete.

»Mama, Mama! Da ist ein Brief für Dich! Ich hab' ihn dem John abgenommen; es ist Papas Handschrift.«

Die Dame stieß einen Freudenschrei aus und ergriff den Brief. Das jüngere Kind schmiegte sich auf einem Schemel zu ihren Füßen an sie an, und sah zu ihr hinauf, während sie las; der Aeltere stand beiseite, auf sein Gewehr gelehnt, und sein Gesicht war etwas nachdenklich, ja düster.

Es war ein starker Contrast zwischen den zwei Kindern. Der ältere Knabe, etwa fünfzehn Jahre alt, schien älter als er war, nicht blos wegen seiner Größe, sondern auch vermöge seiner dunkeln Gesichtsfarbe und eines gewissen stolzen, ja herrischen Ausdrucks bei Zügen, die, ohne die sanfte und gefällige Anmuth des Kindlichen zu besitzen, doch regelmäßig und ansprechend waren. Seine dunkelgrüne Jagdkleidung, mit dem Gurt und der Waidmannstasche, die Mütze mit der goldnen Troddel auf seinen üppigen Locken, welche den schimmernden Glanz des Rabengefieders hatten, vermischten vielleicht etwas frühreif Männliches in seinen Neigungen mit der Liebe zum Phantastischen und Malerischen, welche den Grundzug im Wesen der stolzen Mutter verrieth.

Der jüngere Knabe hatte kaum das neunte Jahr erreicht; und die weichen, nußbraunen Locken, welche halb über die Schultern wallten; die reiche und zarte Blüthe der Wangen, welche von tüchtiger Gesundheit und zugleich von sorgsamer Pflege zeugt; die großen, tiefen, blauen Augen; die weich beweglichen und beinahe weiblichen Umrisse der harmonischen Züge – das Alles zusammen gab ein solches Ideal von Kindesschönheit, wie ein Lawrence es gerne malen, ein Chantry modelliren würde. Thomas Lawrence (1769-1830), führender britischer Porträtmaler; Francis Leggatt Chantrey (1781-1841), führender britischer Bildhauer, insbesondere im Bereich von Porträts. – Anm.d.Hrsg.

Und die bis ins Kleinste gehende Sorgfalt einer Mutter, die ihren Liebling noch ganz für sich hat, zum Spiel, zum Tändeln, zur Kurzweil, war erkennbar in dem großen heruntergeschlagenen Kragen vom feinsten Battist, und in dem blauen Sammtanzug mit vergoldeten Knöpfen von durchbrochener Arbeit und in der gestickten Schärpe. Beide Knaben hatten das Wesen von Geschöpfen an sich, welche das Schicksal sanft ins Leben einführt – im Vollgenuß von Reichthum, Geburt, Behagen des Ueberflusses gehätschelt und verwöhnt, als ob die Erde keinen Dorn habe für ihren Fuß, der Himmel keinen Wind, der ihre jungen Wangen zu rauh berühren dürfte.

Die Mutter war ausnehmend schön gewesen, und obgleich die erste Blüthe der Jugend jetzt dahin war, besaß sie doch noch die Schönheit, welche neue Liebe gewinnen mochte – eine leichtere Aufgabe als die, die alte zu fesseln! Ihre beiden Kinder, obgleich einander unähnlich, glichen Ihr; sie hatte die Züge des Jüngern; und wahrscheinlich hätte Jeder, der sie in ihrer frühern Jugend gesehen, in dieses Kindes munterem und doch sanftem Gesichtchen das Spiegelbild der Mutter als Mädchen wieder erkannt. Jetzt aber war, zumal wenn sie schweigsam oder nachdenklich war, der Ausdruck ihres Gesichts mehr der des ältern Knaben; – die einst so rosige Wange war jetzt blaß, obgleich klar, und die geschwungene Linie des Mundes und die hohe Stirne verrieth einen gewissen Stolz und Ernst, welchen die Jahre gebracht. Wer sie in ihren einsamern Stunden hätte beobachten können, hätte vielleicht erkannt, daß diesem Stolz die Schaam nicht fremd geblieben, und daß der nachdenkliche Ernst der Schatten von Leidenschaften, von Furcht und Kummer war.

Jetzt aber, wie sie diese hastigen, kurzen, aber lebendig in ihrer Erinnerung bewährten Schriftzüge las – sie las mit Augen, in welchen das Herz sich offenbarte, jetzt waren in ihrem beredten Antlitz nur Freude und Triumph sichtbar. Ihre Augen flammten, ihre Brust hob sich; und endlich, den Brief an ihre Lippen pressend, küßte sie ihn zu wiederholten Malen mit leidenschaftlichem Entzücken. Dann, als ihr Auge dem dunkeln, fragenden, ernsten Blick ihres Erstgebornen begegnete, schlang sie ihre Arme um ihn und weinte heftig.

»Was ist denn, Mama, liebe Mama?« sagte der Jüngere, sich zwischen Philipp und seine Mutter drängend.

»Dein Vater kommt zurück, heute – noch in dieser Stunde; – und Du – Du – Kind – Du Philipp –« hier unterbrach Schluchzens ihre Worte und machte sie sprachlos.

Der Brief, welcher einen solchen Eindruck hervorgebracht hatte, lautete so:

An Mrs. Morton, Fernside Cottage.

»Theuerste Katty – mein letzter Brief hat Dich auf die Zeitung vorbereitet, die ich Dir jetzt zu melden habe – mein armer Oheim ist nicht mehr. Obgleich ich ihn, besonders in den letzten Jahren, so wenig gesehen, hat mich doch sein Tod nicht wenig ergriffen; aber ich habe wenigstens den Trost denken zu können, daß mich jetzt Nichts mehr hindert, Dir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich bin der einzige Erbe seines Vermögens – es steht jetzt in meiner Macht, theuerste Katty, Dir einen späten Ersatz anzubieten für Alles, was Du meinetwillen bestanden hast – ein heiliges Zeugniß Deiner langen Geduld, Deiner tadellosen Liebe, Deiner Leiden und Deiner Hingebung, und unsre Kinder auch – mein hochherziger Philipp – küsse sie, Katty – küsse sie tausendmal in meinem Namen.

Ich schreibe in größter Eile – Das Begräbniß ist eben vorüber, und mein Brief hat nur die Bestimmung, Dir meine Rückkehr anzukündigen. Meine herzliche Katharine, ich werde beinahe so bald bei Dir seyn, als Deine Augen diese Zeilen lesen – diese lieben Augen, die, trotz aller Thränen, welche sie um meiner Fehler und Thorheiten willen vergossen, nie am Ausdruck der Güte und Freundlichkeit verloren haben.

Immer wie immer der Deinige,

Philipp Beaufort.«

Dieser Brief sagt beinahe Alles, und es bleibt nur Wenig zu erklären übrig. Philipp Beaufort war Einer der Männer, wie es Viele in seiner Gesellschaftsclasse gibt – leichtmüthig, sorglos, gutmüthig. großherzig, mit unendlich bessern Gefühlen als Grundsätzen.

Selbst nur ein mäßiges Vermögen erbend, das zu drei Viertheilen in den Händen der Juden war, ehe er sein fünfundzwanzigstes Jahr erreicht, hatte er einen sehr glänzenden Besitz von seinem Oheim zu erwarten, einem alten Junggesellen, der aus einem Hofmann ein Menschenfeind geworden war – kalt – schlau – durchdringend – weltlich – sarkastisch – und herrisch; und von diesem Verwandten bezog er einstweilen ein schönes, ja großmüthiges Jahrgeld. Etwa sechszehn Jahre vor dem Zeitpunkt, in welchem wir mit unsrer Erzählung stehen, war Philipp Beaufort »auf- und davongelaufen,« wie der Ausdruck ist, mit Katharina Morton, die damals kaum mehr als ein Kind war – ein mutterloses Kind – in einer Pension mit Begriffen und Ansprüchen erzogen, die weit über ihren Stand gingen; denn sie war die Tochter eines Gewerbsmannes in einer Provinz, und Philipp Beaufort, in seinen besten, kräftigsten Jahren, besaß die meisten Eigenschaften, welche das Auge blenden, so wie manche der Künste, welche die Neigungen und Gefühle verführen.

Einige vermutheten, daß sie heimlich vermählt seyen; wenn dies war, so ward doch das Geheimniß gut bewahrt, und scheiterten alle Nachforschungen des strengen alten Oheims, und doch lag, nicht nur in dem bescheidnen und zugleich würdevollen Benehmen Katharinens, sondern auch in ihrem Charakter, welcher stolz und hochsinnig war, Vieles, was jenem Verdacht einen Schein leihen konnte. Beaufort, ein von Natur gegen Formen gleichgültiger Mann, bezeigte ihr eine gewissenhafte und ausgezeichnete Achtung; und seine Neigung beruhte sichtlich nicht allein auf Leidenschaft, sondern auf Hochschätzung und Vertrauen. Die Zeit entwickelte in ihr geistige Eigenschaften, welche denen Beauforts überlegen waren; und zur Ausbildung von diesen hatte sie Muße genug. Zu dem Einfluß, den ihr Geist und ihre Persönlichkeit ihr verschafften, kam noch der einer offenen, zärtlichen und gewinnenden Gemüthsart; und ihre Kinder knüpften das Band zwischen ihnen noch fester.

Mr. Beaufort war ein leidenschaftlicher Freund der Jagdvergnügungen. Er lebte den größeren Theil des Jahrs mit Katharinen in dem schönen Landhaus, an das er Ställe von Jagdpferden angebaut, welche die Bewunderung der Grafschaft waren; und obgleich das Landhaus in der Nähe von London war, lockten ihn doch die Freuden der Hauptstadt selten auf länger als ein paar Tage – meist nur ein paar Stunden, auf ein Mal; und er eilte immer mit erneuter Lust dahin zurück, wo er sich wahrhaft heimisch fühlte.

Was immer das Verhältniß zwischen Katharinen und ihm seyn mochte (und über die wahre Natur des Verhältnisses ist der Leser durch das einleitende Kapitel besser belehrt, als die Welt es war,) gewiß ist, daß ihr Einfluß von allen Ausschweifungen und vielen Thorheiten einen Mann entwöhnt hatte, von dem, ehe sie ihn kennen lernte, höchst wahrscheinlich war, daß er, bei der Ausgelassenheit und dem Leichtsinn seiner Natur und bei einer sehr mangelhaften Erziehung, alle Modelaster annehmen würde, welche man als Schutzmittel gegen den ennui betrachtet, und wäre ihre Verbindung offen von der Kirche geheiligt worden: man hätte Philipp Beaufort allgemein als das Muster eines zärtlichen Gatten und eines treuen Vaters geschätzt.

Immer hatte Mr. Beaufort, so wie er Katharinens natürliche Vorzüge mehr und mehr erkannte und anhänglicher an sein Heimwesen wurde, mit der Großmuth wahrer Zärtlichkeit, den Wunsch gehabt, durch eine öffentliche Trauung ihr das Peinliche einer zweideutigen Stellung zu ersparen. Aber Mr. Beaufort war, obschon großmüthig, doch nicht frei von der Weltlichkeit, welche ihm überall in der Gesellschaft, worin er seine Jugend verlebt hatte, entgegengetreten war.

Sein Oheim, das Haupt einer der Familien, welche von Jahr zu Jahr aus dem Stand der Gemeinen verschwinden, um in die Peerschaft überzugehen, aber welche sonst eine ausgezeichnete, eigenthümliche Classe in der Aristokratie Englands bildeten – Familien von alter Geburt, unermeßlichen Besitzungen, von Adel, aber dabei ohne Titel – war im ganz freien, uneingeschränkten Besitz seiner Güter, über die ganz seine Laune verfügen konnte. Obgleich er behauptete, daß er Philipp gern leiden möge, sah er ihn doch wenig. Als die Zeitung von der unerlaubten Verbindung, welche dem Gerücht zufolge sein Neffe eingegangen haben sollte, ihm zukam, war er zuerst entschlossen, sie mit Gewalt zu zerreißen; aber als er sah, daß Philipp nicht mehr spielte, sich nicht mehr in Schulden stürzte und sich von der Rennbahn auf die sicheren und minder kostspieligen Zeitvertreiben des Landlebens zurückgezogen hatte, begnügte er sich damit, Erkundigungen anzustellen, welche ihm die Ueberzeugung gaben, daß Philipp nicht vermählt sey; und vielleicht erachtete er es im Ganzen für das Klügste, einer Verirrung nachzusehen, welche nicht begleitet war von den Rechnungen, die zuvor ein wesentlicher Zug der menschlichen Schwachheiten seines leichtsinnigen Neffen gewesen waren. Er war jedoch bedacht, gelegenheitlich und in Beziehung auf einen Skandal des Tages seine Meinung auszusprechen – nicht über den Fehler, sondern über die einzige Weise, ihn gut zu machen.

»Wenn je,« sagte er, und schaute dabei Philipp finster an, »ein Gentleman seine Ahnen dadurch entehrt, daß er in seine Familie ein Weib einführt, das von seiner eignen Schwester nicht in ihrem Hause empfangen werden könnte, nun dann sollte er zu ihrer Stufe heruntersteigen, – und Reichthum könnte seine Schmach nur noch auffallender machen. Wenn ich einen einzigen Sohn hätte, und dieser Sohn wäre Dummkopf genug, etwas so Schmähliches zu thun und unter seinem Stand zu heirathen, so wollte ich lieber meinen Läufer zu meinem Erben haben. Ihr versteht mich, Philipp?«

Philipp verstand ihn, und er sah umher in dem edeln Haus und in dem stattlichen Park, und seine Großmuth war der Probe nicht gewachsen. Katharine, – so groß war ihre Macht über ihn – hätte vielleicht unschwer über seine selbstsüchtigen Berechnungen triumphirt, aber ihre Liebe war zu zartfühlend, um auch nur in einem Hauch von selbst die Hoffnung laut werden zu lassen, welche im Grund ihres Herzens lag, und ihre Kinder – ach! für sie grämte sie sich, aber für sie hoffte sie auch. Vor ihnen lag eine lange Zukunft, und sie hatte alles Vertrauen zu Philipp.

In neuerer Zeit hatten ziemliche Zweifel gewaltet, in wie weit der ältere Beaufort, die Hoffnungen verwirklichen würde, mit welchen sein Neffe aufgewachsen war. Philipps jüngerer Bruder war viel um den alten Herrn gewesen, und schien in hoher Gunst zu stehen; dieser Bruder war in jeder Hinsicht das Gegentheil von Philipp: nüchtern, geschmeidig, anständig, ehrgeizig, mit einem Gesicht voll Lächeln und einem Herzen von Eis.

Aber der alte Gentleman ward von einer gefährlichen Krankheit ergriffen, und Philipp ward an sein Sterbebett gerufen. Robert, der jüngere Bruder, war auch anwesend mit seiner Gattin, (denn er hatte eine kluge Wahl getroffen,) und seinen Kindern, deren er zwei hatte, einen Sohn und eine Tochter. Kein Wort äußerte der Oheim in Betreff seiner Verfügung über sein Vermögen, bis eine Stunde vor seinem Tode. Da kehrte er sich in seinem Bett um, schaute zuerst den einen, dann den andern Neffen an, und stammelte dann:

»Philipp, Du bist ein Taugenichts, aber ein Gentleman; Robert, Du bist ein aufmerksamer, nüchterner, gar löblicher Mann; und es ist sehr Schade, daß Du nicht einen Handel treibst; Du hättest Dir ein Vermögen erworben! – erben wirst Du keines, obgleich Du es meinst; ich habe Dich durchschaut, Mann! Philipp, nimm Dich in Acht vor Deinem Bruder. Jetzt schickt mir den Pfarrer!«

Der alte Mann starb; das Testament ward eröffnet, und Philipp erbte ein jährliches Einkommen von 20 000 Pfund; Robert einen Diamantring, eine goldene Repetiruhr, 5000 Pfund, und eine merkwürdige Sammlung von Schlangen in Weingeistflaschen.



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