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Sechstes Kapitel.

Hallt fort, ihr Glocken! lieblich ist Eu'r Läuten!

Wilson. Die Palmeninsel.

O Feenkind! Was kann ich für dich wünschen?

Ebendaselbst.

Vaudemont blieb sechs Tage in London, ohne nach H*** zu gehen, und an jedem dieser sechs Tage machte er dem Lord Lilburne einen Besuch. Am siebenten, wo der Kranke viel besser war, doch ohne noch sein Zimmer verlassen zu können, kehrte Camilla nach Berkeley-Square zurück. An demselben Tage ging Vaudemont auch wieder Simon und die arme Fanny zu besuchen.

Als er sich der Thüre näherte, hörte er durch das halb offene Fenster, denn der Tag war klar und schön, Fannys süße Stimme. Sie sang eines der einfachen Lieder, die sie auswendig zu lernen versprochen; und Vaudemont, obgleich ein schlechter Kenner der Kunst, ward ergriffen und gerührt von der Musik der Stimme und der ernsten Tiefe des Gefühls. Er blieb dem Fenster gegenüber stehen und rief sie beim Namen. Fanny schaute freudig heraus, und lief dann, wie gewöhnlich, ihm die Thüre zu öffnen.

»Oh! Ihr seyd so lange fort gewesen; aber ich weiß schon viele von den Liedern; sie sagen so Viel, was ich immer gern hätte sagen mögen!«

Vaudemont lächelte, aber matt.

»Wie sonderbar ist es,« sagte Fanny nachsinnend, »daß so Viel in einem Stück Papier seyn kann! Denn am Ende ist dies,« sie deutete auf das aufgeschlagene Blatt des Buche, »nur ein Stück Papier, – nur daß Leben darin ist!«

»Ja!« sagte Vaudemont düster, und weit entfernt, Fannys feinen und zarten Gedanken aufzufassen – denn ihr Geist war auf Poesie, und der seinige auf das Recht und Gesetz gerichtet – »ja! und wißt Ihr, daß von einem bloßen Fetzen Papier – ja, einem bloßen Fetzen Papier, wenn ich ihn nur finden könnte, leicht mein ganzes Vermögen, mein ganzes Glück, Alles abhängt, was mir im Leben theuer ist?«

»Von einem Fetzen Papier! Oh! wie wünschte ich, den zu finden! Acht Ihr seht drein, als dächtet Ihr, ich werde dazu nie klug genug werden!«

Vaudemont, nicht auf sie hörend, stieß einen tiefen Seufzer aus. Fanny näherte sich ihm schüchtern.

»Seufzt nicht Bruder! Ich kann es nicht ertragen, Euch seufzen zu hören. Ihr seyd ganz verwandelt. Seyd auch Ihr nicht glücklich gewesen?«

»Glücklich, Fanny! o ja! neuestens sehr glücklich! – zu glücklich!«

»Glücklich, Ihr? und ich –« das Mädchen hielt inne, – ihr Ton war der der Wehmuth und des Vorwurfs gewesen, und sie hielt inne – warum? wußte sie nicht, aber sie fühlte, wie ihr das Herz sank. Fanny ließ ihn an sich vorbei gehen, und er ging geraden Weges nach seinem Zimmer. Ihr Auge folgte ihm trüb; es war nicht seine Art, sie so hastig zu verlassen.

Das Familienmahl von heute war schon vorüber; und es dauerte eine Stunde, bis Vaudemont in das Wohnzimmer herunter kam. Fanny hatte die Lieder bei Seite gelegt, sie hatte kein Herz dazu, diese schönen Studien wieder anzufangen, die ihr so süß gewesen waren – sie hatte ihm kein Vergnügen, kein Lob – abgelockt. Sie saß müßig und zerstreut neben dem alten, stummen Manne, der mit jedem Tage noch schweigsamer wurde. Sie wandte das Haupt, als Vaudemont eintrat, und ihr schöner Mund schmollte wie der eines vernachläßigten Kindes. Aber er beachtete es nicht, und das Schmollen verschwand, und die Thränen traten ihr in die Augen.

Vaudemont war wirklich verwandelt. Sein Antlitz war ernst und umwölkt; sein Benehmen zerstreut. Er richtete einige wenige Worte an Simon, und dann, sich ans Fenster setzend, lehnte er die Wange auf die Hand, und war bald in Träumerei versunken.

Fanny, als sie sah, daß er nicht redete, stand, nachdem sie manchen langen und ernsten verstohlenen Blick auf seine regungslose Haltung und seine düstre Stirne geworfen hatte, leise auf, schwebte mit ihrem leichten Schritt zu ihm hin, und sagte. mit zitternder Stimme:

»Habt Ihr ein Leiden, Bruder?«

»Nein, Liebliche!«

»Warum sprecht Ihr dann nicht mit Fanny? Wollt Ihr nicht mit ihr spazieren gehen? Vielleicht geht mein Großvater auch mit.«

»Diesen Abend nicht. Ich werde nicht ausgehen, oder etwa nur allein.«

»Wohin? ist Fanny nicht gut gewesen? Ich bin nicht ausgegangen, seit Ihr uns verlassen, und das Grab – Bruder! – Ich habe Sarah mit den Blumen geschickt, aber –«

Vaudemont stand hastig auf. Die Erwähnung des Grabes rief seine Gedanken zurück von der träumerischen Richtung, die sie verfolgt hatten. Fanny, deren kindliches Wesen gerade ihn sonst getröstet und erheitert, störte ihn jetzt; er fühlte den Mangel jener vollkommnen Einsamkeit, welche die Atmosphäre keimender Leidenschaft ist, er murmelte eine kaum hörbare Entschuldigung und verließ das Zimmer. Fanny sah ihn diesen Abend nicht mehr; er kehrte erst um Mitternacht zurück. Aber Fanny schlief nicht, als bis sie seinen Schritt auf der Treppe und seine Zimmerthüre schließen gehört hatte; und als sie einschlief, waren ihre Träume unruhig und peinlich.

Am nächsten Morgen, als sie beim Frühstück zusammen waren (denn Vaudemont kehrte nicht nach London zurück), waren ihre Augen roth und schwer und ihre Wange blaß, und Vaudemonts Auge, sonst so freundlich und aufmerksam, entdeckte, da er noch immer in Sinnen und Brüten versunken war, jene Anzeichen eines Kummers nicht, den Fanny nicht hätte erklären können. Nach dem Frühstück jedoch forderte er sie zum Spaziergang auf; und ihr Antlitz glänzte, als sie eilte, ihren Hut aufzusetzen und ihr Körbchen voll frischen Blumen mitzunehmen, die sie schon durch Sarah hatte kaufen lassen.

»Fanny,« sagte Vaudemont, wie sie das Haus verließen und er das Körbchen an ihrem Arme sah, »heute kannst Du einige dieser Blumen auf einen andern Grabstein streuen! Armes Kind! welche natürliche Güte ist in diesem Herzen! Wie Schade, daß –«

Er hielt inne. Fanny sah ihm mit Entzücken ins Gesicht.

»Ihr habt mich gelobt – Ihr! – Und was ist Schade, Bruder?«

Während sie sprach, hörte man ganz in der Nähe das Läuten der Freudenglocken.

»Horch!« sagte Vaudemont, ihre Frage vergessend, und beinahe munter: »Horch! ich heiße die Vorbedeutung willkommen! Es ist ein Hochzeitsgeläute!«

Er beschleunigte seine Schritte und sie erreichten den Kirchhof.

Hier war schon eine Menge Leute versammelt, und Vaudemont und Fanny blieben stehen, und schauten, über das kleine Thor sich lehnend, zu.

»Warum sind all diese Leute hier, und warum ertönt die Glocke so fröhlich?«

»Es soll eine Hochzeit hier seyn, Fanny.«

»Ich habe sehr oft von Hochzeiten gehört,« sagte Fanny, mit einem allerliebsten Gesicht voll Verwirrung und Zweifel, »aber ich weiß nicht genau, was es eigentlich bedeutet. Wollt Ihr mir es erklären? Und auch die Glocken?«

»Ja, Fanny, diese Glocken erschallen nur dreimal für den Menschen! Das erste Mal, wenn er in die Welt tritt; das letzte Mal, wenn er sie verläßt; und ein Mal dazwischen, wenn er sich beigesellt eine Genossin für alle Sorgen, für alle Freuden, die seiner noch harren, und die, selbst wenn die letzte Glocke seinen Tod für diese Welt verkündigt, in alle Ewigkeit seine Genossin seyn kann in jener künftigen Welt – in jenem Himmel, wo die, die so unschuldig sind, wie Du, Fanny, hoffen dürfen zu leben und einander zu lieben in einem Land, wo es keine Gräber gibt!«

»Und diese Glocke?«

»Ertönt zur Feier dieser Genossenschaft – der Vermählung!«

»Ich glaube, Euch zu verstehen; und die sich vermählen, sind glücklich?«

»Glücklich, Fanny, wenn sie sich lieben, und ihre Liebe währt. Oh! denke Dir das Glück, einen Menschen zu haben, der Einem theurer ist als das eigene Ich – ein Herz, in das man jeden Gedanken, jeden Kummer, jede Freude ausströmen kann! Einen Menschen, der, wenn die ganze übrige Welt Einen verläumdete und verließe, Einen nie verletzte durch einen unfreundlichen Gedanken, ein ungerechtes Wort – der in Krankheit, Armuth, Sorge Einem nur noch inniger anhinge – der Einem Alles opfern, und dem man selbst Alles opfern würde – von dem man Tag und Nacht nicht geschieden werden kann, außer durch den Tod – dessen Lächeln immer den heimischen Herd erheitert – der keine Thränen hat, so lange das Geliebte gesund und glücklich, seine Liebe unverändert ist. Fanny, so ist die Ehe, wenn die sich Heirathenden ein Herz und eine Seele haben, um zu fühlen, daß kein Band auf Erden so zart und so erhaben ist. Es gibt auch ein Gemälde entgegengesetzter Art – ich will das nicht entwerfen. – Und ohnehin, Fanny, kannst Du mich nicht verstehen!«

Er wandte sich ab, und Fannys Thränen fielen wie ein Regen auf das Gras; – er sah sie nicht! Er trat auf den Kirchhof; denn die Glocke hatte jetzt zu läuten aufgehört. Die Ceremonie sollte beginnen. Er folgte dem Brautzug in die Kirche, und Fanny, ihren Schleier herablassend, schlich ihm mit bebender Scheue nach.

Sie standen in einer kleinen Entfernung unbeobachtet, und hörten dem Gottesdienst zu.

Die Brautleute waren aus der Mittelklasse, jung, Beide hübsch; und ihr Benehmen war so, wie es sich für das Ehrwürdige und Heilige der Handlung schickte. Vaudemont stand da, aufmerksam und gespannt zuschauend, die Arme auf der Brust gefaltet. Fanny lehnte sich, hinter ihm, von Allem abseits, auf einen der Kirchenstühle, und noch hielt sie in ihrer Hand, während der Priester die Ehe weihte und segnete, die für das Grab bestimmten Blumen! Selbst zu diesem Morgen – still, ruhig, ernst, mit einem so geheimnißvollen und unenträthselten Herzen – brachte ihre Gestalt eine Ahnung der Nacht hinzu!

Als die Ceremonie vorüber war – als die Braut ihrer Mutter an die Brust sank und weinte; alsdann, wie sie sich von ihr losriß, ihre Augen denen des Bräutigams begegneten, und alle Thränen in einem Lächeln verschwanden; als in diesem Einen raschen Tausch der Blicke Alles sich aussprach, was heilige Liebe der Liebe sagen kann, und mit schüchterner Zutraulichkeit sie ihre Hand in die Hand dessen legte, dem sie so eben sich fürs Leben zugelobt hatte, – da ging ein Schauer durch die Herzen der Anwesenden.

Vaudemont seufzte tief. Er hörte ein Echo seines Seufzers, aber von Einer, in deren Stimme kein Hauch von Kummer lag; – er wandte sich um; Fanny hatte ihren Schleier aufgeschlagen; ihr Auge begegnete dem seinigen, feucht, aber glänzend, sanft, und ihre Wangen waren rosenroth. Vaudemont bebte vor diesem Blick zurück und verließ die Kirche.

Die betheiligten Personen begaben sich in die Sakristei, um ihre Namen in das Kirchenbuch einzutragen; die Versammlung zerstreute sich, und Vaudemont und Fanny standen allein auf dem Begräbnißplatze.

»Sieh, Fanny,« sagte Vaudemont, und deutete auf ein Grabmal, etwas entfernt von dem seiner Mutter (denn ihre Asche war zu heilig für eine solche Nachbarschaft); »schau dorthin; es ist ein neues Grabmal, Fanny, laß uns zu ihm hintreten. Kannst Du lesen, was darauf geschrieben steht?«

Die Inschrift war einfach diese:

W – G –.
Der Mensch sieht die That – Gott die Verhältnisse.
Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet.

»Fanny, dies Grabmal erfüllt Deinen frommen Wunsch; es ist dem Andenken dessen geweiht, den Du Deinen Vater nanntest. Wie auch sein Leben hienieden war – welchen Spruch er auch empfangen habe, – der Himmel wird wenigstens Deine Pietät nicht verdammen, wenn Du den ehrst, der gut war gegen Dich, und selbst auf dies Grab vergängliche Blumen streust!«,

»Es ist sein – meines Vaters Grab – und Ihr habt daran gedacht für mich!« sagte Fanny, seine Hand ergreifend, und schluchzte. »Und ich konnte glauben, Ihr seyet nicht so freundlich gegen mich, wie sonst!«

»Bin ich es nicht gewesen? oh, dann verzeih' mir; ich bin nicht glücklich.«

»Nicht? – Gestern sagtet Ihr, Ihr seyet zu glücklich gewesen.«

»Erinnerung an Glück ist nicht Glück, Fanny.«

»Das ist wahr – und –«

Fanny hielt inne; und während sie sich nachsinnend über das Grab beugte, trat Vaudemont, um sie ungestört zu lassen, und bitter empfindend, wie wenig sein Bewußtseyn im Stande war, den finstern Mann, der hier nicht ruhte, zu rechtfertigen, obgleich es ihm einige Entschuldigung leihen konnte, einige Schritte zurück.

In diesem Augenblick kam das neuvermählte Paar mit den Zeugen, dem Geistlichen u. s. w. aus der Sakristei, und durchschritt den Kirchhof. Fanny, als sie sich von dem Grab wegwandte, sah sie, und stand stille, die Braut ernst betrachtend.

»Welch ein liebliches Gesicht!« sagte die Mutter; »es ist, ja es ist das arme blödsinnige Mädchen.«

»Ach!« sagte der Bräutigam zärtlich, »und sie, Mary, so schön sie ist, sie kann nie einen Andern so glücklich machen, wie Du mich gemacht hast!«

Vaudemont hörte es und sein Herz wurde ihm schwer. »Arme Fanny! – Und doch, ohne diese Heimsuchung – ich hätte sie lieben können, ehe ich das unheilvolle Antlitz der Tochter meines Feindes gesehen!« Und mit tiefem Mitleid, mit unaussprechlicher, heiliger Zärtlichkeit trat er zu Fanny.

»Komm, mein Kind, laß uns jetzt nach Hause gehen.«

»Wartet noch,« sagte Fanny; »Ihr vergeßt Etwas.«

Und sie ging, um die noch übrigen Blumen auf Katharinens Grab zu streuen.

»Wird meine Mutter,« dachte Vaudemont, »mir vergeben, wenn ich andere Gedanken als die des Hasses und der Rache gegen das Haus hege, welches seine Größe über ihrem verläumdeten Namen auferbaut?«

Er stöhnte. – Und dies Grab hatte für ihn seinen schwermüthigen Zauber verloren.



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