Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Buch.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Noch in meines Lebens Lenze
War ich und ich wandert' aus,
Und der Jugend frohe Tänze
Ließ ich in des Vaters Haus.

Schiller: Der Pilger

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Einleitendes Kapitel.

   Es ruht jetzt unser Pfarrer. Hat der Mann
   Sein Lebenlang doch Andres Nichts gethan!
   Nicht leicht schied Einer seines Alters je
Dem Kind so ähnlich das betrat die Welt voll Weh.

Crabbe.

In einer der Grafschaften von Wales ist ein kleines Dorf mit Namen A***. Es ist etwas abgelegen von der Landstraße, und daher weniger gekannt von den verwöhnten Liebhabern des Pittoresken, welche die Natur durch die Fenster eines Wagens mit vier Pferden beschauen. Auch hat wirklich weder die Scenerie noch die historische Erinnerung des Ortes Etwas aufzuweisen, was mächtig genug wäre, den entschlossenern Enthusiasten abseits zu locken von den abgetretenen Spuren und Pfaden, welche von Touristen und Reisehandbüchern denjenigen vorgeschrieben werden, welche das Erhabene und Schöne in der gebirgigen Heimath der alten Bretonen suchen. Doch ist im Ganzen das Dorf nicht ohne seine Reize. Es liegt in einem kleinen Thal, durch welches über manchen jähen Fels hinab, ein klarer, geschwätziger, munterer Bach sich windet und hüpft, der den Brüdern von der Angel treffliche Kurzweil und Ausbeute gewährt. Deßwegen begeben sich dahin in der Sommerzeit gelegentlich die Walton's der Nachbarschaft, junge Pächter, Handelsleute, die sich zurückgezogen, dann und wann ein herumschweifender Künstler, oder ein fahrender Student von einer der Universitäten. Darum ist auch die einsame Herberge von A***, weil sie etwas besuchter ist, reinlicher und behaglicher, als man nach der Kleinheit und Abgelegenheit des Dorfes mit Grund erwarten konnte.

Zu der Zeit, in welche der Anfang meiner Erzählung fällt, war das Dorf im Besitz eines gesellschaftlichen, angenehmen, sorglosen, halbverhungerten Pfarrers, der nie verfehlte, die Bekanntschaft jedes Anglers aufzusuchen, der während der Sommermonate einen oder ein paar Tage in dem kleinen Thal zubrachte.

Der Hochwürdige Mr. Caleb Price hatte seine Bildung auf der Universität Cambridge erhalten, wo er hinnen drei Jahren ein kleines Vermögen von 3500 Pfund durchzubringen gewußt hatte, ohne dafür anderweitigen geistigen Erwerb zu gewinnen, als die Kunst, den vortrefflichsten Milchpunsch zu bereiten, und daß er der gefürchtetste Boxer in seinem Collegium ward: noch auch sonst einen wünschenswerthen Ruf, als daß er einer der gutmüthigsten, lärmendsten, offenherzigsten Gesellschafter gewesen, den man sich nur immer wünschen mochte, wenn man in einem Tandem Unter »Tandem« ist zu dieser Zeit ein Pferdefuhrwerk zu verstehen, ein von zwei hintereinander gehenden Pferden gezogenes, meist einachsiges Gespann, mit dem auch sehr schmale Wege befahrbar sind. – Anm.d.Hrsg. nach Newmarket, oder in einer Barke mit Ruderern fuhr.

Er hatte mittelst dieser Gaben und Vorzüge auch wirklich, so lange sein Geld dauerte, Gunst und Gnade gefunden bei der jungen Aristokratie der »Hehren Mutter«, und obgleich ganz das Gegentheil von einem ehrsüchtigen oder berechnenden Menschen, hatte er sicherlich den Glauben genährt, daß der Eine oder Andere von den Hüten oder Flittermänteln, d. h. von den jungen Lords oder Gemeinen, mit denen er auf der Universität auf so vortrefflichem Fuß stand, und die so oft mit ihm speisten, mittelst einer Pfründe Etwas für ihn thun werde.

Aber es traf sich, daß, als Mr. Caleb Price mit einiger Schwierigkeit seinen Grad errungen, und sich zum Baccalaureus der freien Künste promovirt und seinem Geldbeutel auf den Boden sah, seine vornehmen Bekannten sich von ihm trennten und sich auf ihre verschiedenen Posten in dem Kampfe des Lebens begaben, und, mit Ausnahme Eines jungen Mannes, ebenso lustig und leichtsinnig wie er selbst, machte Mr. Caleb Price die Erfahrung, daß, wenn das Geld sich Flügel macht, es mit den Freunden, die man gehabt, davonfliegt.

Da der arme Price keine akademische Auszeichnung davongetragen, konnte er keine Beförderung von seinem Collegium hoffen – keine Stelle eines Fellow, oder eines Tutors, die ihn nachmals zu Pfründen, Chorstühlen und Dekanaten führen mochte Das sog. fellowship (Collegiatur) konnte mit dem Studienabschluss erworben werden; als fellow wurde man zum Zwecke der Forschung und/oder Lehre finanziell unterstützt. – Der Tutor bietet innerhalb der akademischen Ausbildung in bestimmten Themenbereichen oder Fertigkeiten Unterstützung oder Anleitung. – Die Pfründe ist ein besoldetes Amt, für das in der Regel faktisch keine Dienste zu leisten sind. – Inhaber eines Chorstuhles sind auch in der anglikanischen Kirche die sog. Kanoniker oder Chorherren, also Mitglieder eines Dom- oder Stiftskapitels; das Amt wurde in der Vergangenheit oft als Pfründe vergeben, war also nicht zwingend mit seelsorgerischen bzw. liturgischen Aufgaben verknüpft. – Der Dekan ist in der Regel ein Pfarrer, der Führungsfunktionen auf der mittleren Verwaltungsebene wahrnimmt, z. B. auch die Leitung eines Domkapitels. – Anm.d.Hrsg.. Schon begann ihm die Armuth ihre Larve zu zeigen, als der einzige Freund, der, wie er seine guten Tage getheilt, ihm auch im Unglück treu blieb, ein Freund, der, zu seinem Glück, hohe Verbindungen und glänzende Aussichten besaß, für ihn glücklicherweise die bescheidene Pfründe in A*** auswirkte.

An diesen von der Gesittung wenig berührten Fleck der Erde begab sich wohlgemuth der sonst so flotte Student – suchte zufrieden zu leben von einem Einkommen, das etwas Weniger betrug, als er früher seinem Reitknecht gegeben – hielt sehr kurze Predigten vor einer sehr dünnen und unwissenden Versammlung, in der Manche nur die wälsche Sprache verstanden – that den Armen und Kranken Gutes in seiner rücksichtslosen, mürrischen Weise – und nicht erfreut und nicht gequält von Weib und Kind, stand er im Sommer mit der Lerche auf und ging im Winter pünktlich um neun Uhr zu Bette, um Kohlen und Lichter zu ersparen.

Uebrigens war er der geschickteste Angler in der Grafschaft; und so bereitwillig, die Ergebnisse seiner Erfahrungen über die lockendste Farbe der Fliegen und die von den Forellen am liebsten besuchten Plätze mitzutheilen, daß er in der Herberge ausdrücklichen Befehl gegeben hatte, so oft ein fremder Gentleman komme, um zu fischen, solle man unverzüglich nach Mr. Caleb Price schicken.

Hiebei fand allerdings unser würdiger Pfarrer gewöhnlich seine Belohnung. Fürs erste, wenn der Fremde nur irgend Liberalität besaß, wurde Mr. Price zum Essen in der Herberge eingeladen; und fürs zweite, wenn dies fehl,schlug, weil der Verpflichtete zu arm oder zu trutzig war, so hatte doch Mr. Caleb Price Gelegenheit die neuesten Zeitungen zu hören – von der großen Welt zu plaudern – mit Einem Wort, Ideen auszutauschen, und vielleicht ein altes Zeitungsblatt oder eine merkwürdige Nummer eines Magazins zu erhaschen.

 

Nun, geschah es, daß eines Nachmittags im Oktober, als die periodischen Ausflüge der Angler, nachdem sie seltener und immer seltener geworden, ganz aufgehört hatten, Mr. Caleb Price aus seinem Wohnzimmer, wo er sich mit Verfertigung eines Netzes für seinen Kohl beschäftigte, abgerufen wurde von einem kleinen weißköpfigen Buben, welcher kam ihm zu sagen, daß ein Gentleman in der Herberge sey, der ihn unverzüglich zu sprechen wünsche – ein fremder Gentleman, der noch nie dagewesen.

Mr. Price warf sein Netz weg, ergriff seinen Hut, und befand sich in weniger als fünf Minuten im besten Zimmer der kleinen Herberge.

Die Person, die ihn hier erwartete, war ein Mann, der, obgleich einfach gekleidet in eine sammtne Jagdjacke, nach Aussehen und Haltung weit über den gewöhnlichen, zu Fuß ankommenden Besuchern von A*** stand. Er war groß und eine jener athletischen Gestalten, bei welchen Kraft in der Jugend nur zu oft durch Wohlbeleibtheit im Alter bezahlt wird. Dermalen jedoch, in der vollen Kraft des rüstigen Mannesalters, mußten nothwendig die breite Brust und die sehnigen Glieder, welche in der einfachen männlichen Tracht aufs Vortheilhafteste sich zeigten, jene allgemein übliche Bewunderung erregen, welche man jederzeit der Stärke beim einen Geschlecht, so wie der Zartheit beim andern zollt.

Der Fremde schritt ungeduldig in dem kleinere Gemach auf und ab, als Mr. Price eintrat; und dann, dem Geistlichen ein Antlitz zuwendend, das schön und auffallend, jedoch mehr durch den Ausdruck von Offenheit, als durch Regelmäßigkeit der Züge einnehmend war, blieb er stehen, bot ihm die Hand entgegen und sagte mit munterem Lachen, indem er einen Blick auf des Pfarrers fadenscheinigen und ärmlichen Anzug warf:

»Mein armer Caleb! Welch eine Metamorphose! Ich hätte Euch nicht wieder erkannt!«

»Was! Ihr! Ist es möglich, mein theurer Kamerad! – Wie freue ich mich Euch zu sehen! Was in der Welt konnte Euch an einen solchen Ort führen? Nein! keine Seele würde es mir glauben, wenn ich erzählte, daß ich Euch in dieser elenden Spelunke gesehen!«

»Das ist eben der Grund, warum ich hier bin. Setzt Euch, Caleb, und wir wollen über unsere Angelegenheiten sprechen, sobald unser Wirth uns Materialien herbeigebracht zum –«

»Zum Milchpunsch,« unterbrach ihn Mr. Price, sich die Hände reibend. »Ha, das wird uns gewiß in alte Zeiten zurückversetzen!«

In wenigen Minuten war der Punsch bereitet, und nach zwei oder drei einleitenden Gläsern begann der Fremde folgendermaßen:

»Mein lieber Caleb, ich bin Eures Beistands und vor Allem Eurer Verschwiegenheit benöthigt.«

»Ich verspreche Euch beides im voraus. Es wird mich mein ganzes übriges Leben lang glücklich machen, wenn ich denke, daß ich meinem Gönner – meinem Wohlthäter – dem einzigen Freund, den ich habe, einen Dienst geleistet.«

»Still, Mann! sprecht nicht davon! Wir wollen nächster Tage besser für Euch sorgen. Aber jetzt zur Sache! Ich bin hiehergekommen, um mich zu vermählen, alter Junge, mich zu vermählen – zu vermählen!«

Und der Fremde warf sich in seinen Stuhl zurück, und schütterte vor Lachen wie ein lustiger Schulknabe.

»Hm!« sagte der Pfarrer ernst; «es ist eine ernsthafte Sache ums Heirathen, und dies ist ein seltsamer Ort dazu, sich trauen zu lassen.«

»Ich gebe beides zu. Dieser Punsch ist trefflich. Nun weiter! Ihr wißt, daß meines Oheims unermeßliches Vermögen ganz in seiner freien Verfügung steht; wenn ich sein Mißfallen erregte, wäre er im Stande, Alles meinem Bruder zu vermachen. Sein Mißfallen würde ich unwiderruflich mir zuziehen, wenn er erführe, daß ich die Tochter eines Gewerbsmanns geheirathet. Ich stehe im Begriff die Tochter eines Gewerbsmanns zu heirathen – ein Mädchen, wie es unter Millionen nur Eine gibt! die Trauung muß so geheim als möglich geschehen, und in der Kirche hier, wenn Ihr als Priester sie verrichtet, sehe ich nicht, wie eine Entdeckung möglich wäre.«

»Habt Ihr zu der Heirath die Dispensation?«

»Nein; meine Braut ist noch nicht volljährig; und wir machen selbst vor ihrem Vater ein Geheimniß daraus. In diesem Dorf könnt Ihr das Aufgebot hermummeln, ohne das Eine Seele von Eurer Gemeinde auf den Namen achtet. Ich werde zu dem Behuf einen Monat hier bleiben. Sie ist in London auf Besuch bei Verwandten in der City. Das Aufgebot von ihrer Seite wird ebenso im Stillen in einer kleinen Kirche in der Nähe des Towers geschehen, wo mein Name nicht minder unbekannt seyn wird, als hier. Oh! ich habe alles famos eingerichtet!«

»Aber, mein lieber Kamerad, bedenkt was Ihr wagt!«

»Ich habe Alles bedacht und finde, daß alle Aussichten für mich günstig sind. Die Braut wird am Tage vor unserer Trauung hier ankommen; mein Diener wird der eine Zeuge seyn; ein stumpfer alter Welschmann, so antediluvianisch als möglich, – die Auswahl überlasse ich Euch – soll der zweite seyn. Meinen Diener kann ich verabschieden, und auf das Uebrige kann ich mich verlassen.«

»Aber –«

»Ich verabscheue die Aber, wenn ich eine Sprache zu schaffen hätte, würde ich kein solches Wort darin dulden. Aber jetzt, ehe ich mich über Katharine auslasse, ein ganz unerschöpflicher Gegenstand, erzählt mir, mein theurer Freund, Etwas von Euch!«


Etwas mehr als ein Monat war verflossen seit der Ankunft des Fremden in der Herberge des Dorfs. Er hatte seinen Aufenthalt inzwischen im Pfarrhaus genommen, ging nur wenig aus, und dann hauptsächlich auf Ausflüge zu Fuß auf den abgelegenen Bergen der Umgegend; daher war er selbst im Dorf nur einem Theil vom Sehen bekannt: und der Besuch eines alten Collegiumfreundes bei dem Geistlichen war, obgleich es allerdings früher nie vorgekommen war, an sich kein so auffallendes Ereigniß, daß es hätte besondere Aufmerksamkeit erregen müssen.

Das Aufgebot war gebührendermaßen, halb unverständlich, nach dem Schlusse des Gottesdienstes, während die kleine Versammlung das kleine Schiff der Kirche entlang sich zerstreute, hergeschnattert worden – als eines Morgens ein Wagen mit zwei Pferden vor dem Pfarrhause anfuhr. Ein Diener ohne Livree sprang vorn Bock. Der Fremde öffnete die Wagenthüre und reichte, einen Freudenruf ausstoßend, den Arm einer Dame, welche zitternd und aufgeregt, selbst mit diesem kräftigen Anhalt und Beistand kaum den Schlag herabsteigen konnte.

»Oh!« sagte sie mit einer von Thränen erstickten Stimme, als sie sich allein in dem kleinen Wohnzimmer befanden, »Oh! wenn Ihr wüßtet, wie ich gelitten habe!«

Wie kommt es, daß gewisse Worte, und zwar die alltäglichsten, welche die Hand schreibt und das Auge liest als abgedroschene Gemeinplätze, wenn sie gesprochen werden, eine so vielfach verwickelte und tiefergreifende Bedeutung in sich schließen?

»Oh, wenn Ihr wüßtet, wie ich gelitten habe!«

Als der Liebende diese Worte hörte, verwandelte sich der Ausdruck seines Angesichts, er trat zurück – sein Gewissen schlug ihn; in dieser Klage war begriffen die ganze Geschichte einer verheimlichten Liebe – nicht für beide Theile, sondern für das Weib – das peinliche Geheimhalten – die das Gewissen quälende Täuschung, die Schaam – die Furcht – das Opfer, die jene Worte gesprochen, zählte kaum sechszehn Jahre. Das ist ein zartes Alter, die Kindheit für immer hinter sich zu lassen.

»Meine Geliebte! Gelitten hast Du wahrlich; aber es ist jetzt vorüber.«

»Vorüber! Und was wird man von mir sagen – was wird man von mir denken zu Hause? Vorüber! Oh!«

»Es ist nur für eine kurze Zeit; nach dem Lauf der Natur kann mein Oheim nicht mehr lange leben; dann wird Alles erklärt. Wenn einmal unsere Ehe veröffentlicht ist, werden alle Deine Verwandte stolz darauf seyn, Dich anzuerkennen. Du wirst Vermögen, Rang, einen Namen haben unter den Ersten in der Gentry Englands. Vor Allem aber wirst Du das Glück haben, Dir sagen zu können, daß Deine Geduld mich, und vielleicht unsre Kinder, Holdeste! für eine Zeitlang gerettet hat vor Armuth und –«

»Es ist genug,« unterbrach ihn das Mädchen, und der Ausdruck ihres Gesichts wurde heiter und hob sich. »Es ist Deinet – Deinetwillen. Ich weiß, was Du wagst, wie viel ich Dir zu danken habe! Verzeih' mir, das ist das letzte Murren, das Du je aus meinem Munde hören sollst.«

 

Eine Stunde, nachdem diese Worte gesprochen, war die Ceremonie der Trauung zu Ende.

»Caleb,« sagte der jung Gatte, indem er den Geistlichen bei Seite zog, als sie eben wieder in das Haus traten; »Ihr werdet Euer Versprechen halten, das weiß ich; und glaubt Ihr, daß ich mich unbedingt auf die Treue des von Euch gewählten Zeugen verlassen kann?«

»Auf seine Treue? – nein!« antwortete Caleb lächelnd, »aber auf seine Taubheit, seine Unwissenheit und sein Alter. Mein guter alter Küster: er wird die ganze Geschichte von heute binnen drei Monaten rein vergessen haben. Jetzt nachdem ich Eure Dame gesehen, wundre ich mich nicht mehr, daß Ihr einer so großen Gefahr Euch aussetzt. Nie sah ich ein so liebliches Gesicht. Ihr werdet glücklich seyn!«

Und der Dorfpriester seufzte und dachte an den kommenden Winter und an seinen eigenen, einsamen Herd.

»Mein lieber Freund, Ihr habt nur erst ihre Schönheit gesehen – das ist ihr geringster Reiz. Der Himmel weiß, wie oft ich den Liebhaber gespielt – aber dies ist das einzige Weib, das ich je wahrhaft geliebt habe. Caleb, an meines Oheims Wohnsitz stößt eine treffliche Pfründe. Der Rektor ist alt; wenn das Haus mein ist, soll Euch die Pfründe nicht lange mehr fehlen. Wir werden Nachbarn werden, Caleb, und dann sollt Ihr es versuchen und Euch auch eine Braut finden. Smith,« und der Bräutigam wandte sich zu dem Diener, der seine Braut begleitet, und bei der Trauung als zweiter Zeuge gedient hatte – »sagt dem Postknecht, daß er die Pferde unverzüglich anspannt.«

»Ja, Sir; darf ich ein Wort mit Euch sprechen?«

»Nun, was denn?«

»Euer Oheim, Sir, schickte nach mir, ich sollte zu ihm kommen, am Tag, ehe wir die Stadt verließen.«

»Ha! – wirklich!«

»Und ich konnte nur so aus seinen Dienern herauskriegen, daß er einen Verdacht hege – wenigstens daß er Nachforschungen angestellt – und sehr unwirsch scheine, Sir.«

»Ihr gingt zu ihm?«

»Nein, Sir, ich fürchtete mich. Er hat so ein eigenes Wesen an sich; wenn er sein Auge auf mich heftet, so ist mir immer zu Muth, als könnte ich unmöglich eine Lüge sagen; und – und – kurz, ich hielt fürs Beste nicht hinzugehen.«

»Ihr thatet recht. Verwünscht dieser Bursche!« murmelte der Bräutigam, sich wegwendend; »er ist ehrlich und liebt mich; und doch, wenn mein Oheim ihn sieht, ist er tölpisch genug, Alles zu verrathen. Nun, ich hatte immer im Sinn, ihn aus dem Wege zu schaffen – je früher, je besser. Smith!«

»Ja, Sir.«

»Ihr habt oft gesagt, Ihr würdet gern, wenn Ihr ein kleines Kapital hättet, Euch in Australien ansiedeln; Euer Vater ist ein trefflicher Landwirth; Ihr seyd zu gut für diese Stelle, die Ihr bei mir bekleidet; Ihr seyd gut erzogen und habt einige Kenntniß im Ackerbau; es kann Euch fast nicht fehlen, daß Ihr als Ansiedler Euer Glück macht, und wenn Ihr noch so gesinnt seyd, wie früher, so, seht Ihr, habe ich gerade jetzt 1000 Pfund bei meinem Bankier, Ihr sollt die Hälfte haben, wenn Ihr mit dem ersten Packetboot absegeln wollt.«

»Oh Sir, Ihr seyd zu großmüthig.«

»Unsinn – keinen Dank – ich bin mehr klug als großmüthig; denn ich bin ganz Eurer Meinung, daß es mit mir völlig aus ist, wenn mein Oheim Euch in seine Gewalt bekommt. Ich fürchte auch den Späherblick meines Bruders; in der That, die Verpflichtung ist auf meiner Seite; nur bleibt im Ausland, bis ich ein reicher Mann bin und meine Heirath veröffentlicht ist; dann könnt Ihr von mir verlangen, was Ihr wollt. Es ist also eine ausgemachte Sache; bestellt die Pferde, wir fahren über Liverpool und erkundigen uns wegen der Fahrzeuge. Beiläufig, mein guter Bursche, ich hoffe, Ihr kommt doch nicht zusammen mit dem Taugenichts, Eurem guten Bruder?«

»Nein, gewiß nicht, Sir. Es ist tausendmal Schade, daß er so schlimm gerathen ist, denn er war der gescheiteste von der Familie, und konnte mich immer um seinen kleinen Finger wickeln.«

»Das ist eben der Grund, warum ich seiner erwähnte. Wenn er unser Geheimniß erführe, würde er es sich trefflich zu Nutze machen. Wo ist er?«

»In einem Versteck, vermuthe ich, Sir.«

»Gut, wir wollen die See zwischen Euch setzen; so ist dann Alles sicher.«

Caleb stand am Eingang seines Hauses, als Braut und Bräutigam in ihren bescheidenen Wagen stiegen. Obgleich im November, war doch der Tag ausnehmend mild und heiter, der Himmel ohne ein Wölkchen, und selbst die entblätterten Bäume schienen zu lächeln unter der goldenen Sonne, und die junge Gattin weinte nicht mehr, sie war bei ihm, den sie liebte – sie war sein auf immer. Das Uebrige vergaß sie. Die Hoffnung – das sechszehnjährige Herz – sprachen glänzend durch die Röthe, die ihre schönen Wangen überzogen hatten.

Des jungen Gatten offenes und männliches Angesicht strahlte vor Freude. Wie er vom Wagenfenster aus Caleb mit der Hand zuwinkte, klatschte der Postillon mit der Peitsche, der Diener setzte sich auf dem äußeren Hintersitz zurecht, die Pferde zogen in raschem Trott an – der Geistliche sah sich allein!

 

Sich vermählen ist gewiß ein Ereigniß im Leben; Andere zu trauen ist für einen Geistlichen ein sehr gewöhnliches Vorkommniß; und doch begann von diesem Tage an in der Stimmung und in den Lebensgewohnheiten Caleb Price's ein großer Wechsel vorzugehen.

Hast Du, mein freundlicher Leser, Dich jemals eine Zeitlang ruhig in das faule Behagen eines einförmigen Landlebens begraben? Hast Du Dich je schon allmählig gewöhnt an seine Eintönigkeit, und Dich vertraut gemacht mit seiner Einsamkeit; und hast Du gerade zu der Zeit, wo Du die große Welt – dies mare magnum, das in der Ferne tost und braust, halb vergessen hattest, in Deiner friedlichen Zurückgezogenheit einen Besuch bekommen, voll von dem geschäftigen und aufgeregten Leben, das Du selbst mit voller Genugthuung verlassen zu haben wähntest?

Wenn dies ist, hast Du nicht bemerkt, daß Du in dem Verhältniß, als seine Anwesenheit und Unterhaltung, entweder alte Erinnerungen neu belebte, oder neue Bilder erweckte von dem glänzenden Tumult jenes Lebens, dem Dein Geist angehörte – ihn aufmerksam und neugierig mit Dir zu vergleichen anfingst; daß Du anfingst zu empfinden, daß, was Dir vorher als Ruhe erschien, eigentlich Verfaulen sey; daß deine Jahre in freund- und genußloser Verschwendung dahinfliehen; daß der Contrast zwischen dem animalischen Leben leidenschaftlicher Civilisation, und dem vegetirendem stumpfen Daseyn bewegungsloser Abgeschlossenheit von der Art ist, daß, wenn Du noch jung bist, ihn zu ertragen, alle Deine Philosophie in Anspruch nimmt – neben dem unabweislichen Gefühl, daß das stumpfe Daseyn Dein Loos seyn dürfe bis zum Grabe? Und wenn Dein Gast Dich verlassen, wenn Du wieder allein bist, ist dann Deine Einsamkeit dieselbe wie zuvor?

Unser armer Caleb hatte sich seit Jahren mit seinen Gedanken in seinem Dorfe eingewurzelt. Sein Gast hatte sich, wie der Vogel im Feenmährchen, auf die ruhigen Zweige niedergelassen, und so laut und fröhlich von dem bezaubernden Himmel und Klima der Ferne gesungen, daß, als er wegflog, der Baum in der nüchternen Sonne, in der er sich früher zufrieden gewärmt, halbgeknickt und welkend hinschmachtete.

Der Gast war in der That einer der Menschen, deren sprühende Lebendigkeit auf diejenigen, die in ihre Nähe kommen, einen Einfluß und eine Macht ausüben, die man gewöhnlich nur geistigen Eigenschaften zuschreibt. Während des Monats, den er bei Caleb verlebt, hatte er dem armen Pfarrer die ganze Lustigkeit des wilden und fröhlichen Noviziats ins Gedächtniß zurückgerufen, welches dem feierlichen Gelübde und der langweiligen Zurückgezogenheit von der Welt voranging – die geselligen Partien, die fröhlichen Mahlzeiten, die Kameradschaft, mit offenen Händen und offenem Herzen, der ungestümen, entzückenden, übermüthigen, leichtsinnigen Jugend!

Und Caleb war kein Büchermann – kein Gelehrter; er hatte keine geistige Hülfsquellen in sich selbst, keine Beschäftigung als seine träg erfüllten und schlecht bezahlten Berufspflichten. Daher wurden in ihm leicht die Gefühle und Gedanken des thätigen Weltmenschen erweckt. Aber wenn diese Vergleichung zwischen seinem vergangenen und seinem jetzigen Leben ihn unruhig und verstört machte, einen wie viel tieferen und dauernderen Eindruck machte auf ihn der Contrast zwischen seiner und seines Freundes Zukunft! nicht in den Punkten, wo er nie auf Gleichheit hoffen konnte – Reichthum und Rang – die conventionellen Unterscheidungen, mit welchen sich am Ende ein Mann von gewöhnlichem Menschenverstande früher oder später aussöhnen muß, sondern in Hinsicht auf das Eine, wo Alle, Hohe und Niedere, Ansprüche haben auf die gleichen Rechte, – Rechte, auf die ein Mann von mäßig warmem Gefühl nie freiwillig verzichten kann, nämlich: die Genossin eines, wenn auch noch so bescheidenen, Lebensschicksals; ein freundliches Antlitz an einem Herde, mag dieser auch noch so gering seyn!

Und sein glücklicherer Freund war, wie alle Menschen voll Leben, voll von sich selbst, voll von seiner Liebe, seiner Zukunft, der Wonne von Heimath, Weib und Kindern, und dann schien auch die junge Gattin so schön, so vertrauend und so zärtlich; so ganz geschaffen, das edelste Haus zu schmücken, das niedrigste zu erheitern! Und Beide waren so glücklich, waren einander so ganz Alles in Allem, als sie seine öde Schwelle verließen!

Und der Priester fühlte dies Alles, als er, schwermüthig und voll Neides, an jenem Novembertage von seiner Thür ins Haus zurückkehrte und sich so mutterseelenallein fand! Er begann jetzt ernstlich nachzudenken über die erträumten Freuden, welche Männer, die des Cölibats überdrüssig geworden, hinter dem Altar bis zum Himmel hinan entkeimen und wachsen sehen.

Wenige Wochen nachher war in dem äußeren Wesen des guten Mannes ein auffallender Wechsel sichtbar. Er wurde sorgfältiger in seiner Kleidung, er barbierte sich jeden Morgen, er kaufte sich einen stutzohrigen welschen Hengst; und bald wußte man in der Nachbarschaft, daß der einzige Weg, den der Hengst zurückzulegen verdammt war, der nach dem Hause eines gewissen Squire war, der bei einer Familie von allen Altern sich auch zwei hübscher, heirathbarer Töchter zu rühmen hatte.

Das war die zweite Festtagszeit für den armen Caleb, – der Liebesroman seines Lebens; er war bald zu Ende. Der Squire, als er den Betrag von des Pastors Einkommen erfuhr, lehnte seine Bewerbung ab; und bald darauf machte das Mädchen, dem er seine Neigung zugewendet hatte, eine, wie die Welt es nennt, glückliche Partie, und vielleicht war es wirklich eine, denn ich habe nie gehört, daß sie um den verschmähten Liebhaber sich grämte. Vielleicht war Caleb auch kein solcher Mann, dessen Platz in einem weiblichen Herzen nie hätte können ersetzt werden. Die Dame heirathete, die Welt ging ihren Gang wie zuvor, der Bach tanzte gleich lustig durch das Dorf, die Armen arbeiteten an den Wochentagen, und die kleinen Buben jagten sich am Sonntage um die Grabsteine herum, und des Pfarrers Herz war gebrochen.

Er flechte allmählig und schweigend hin. Die Dorfbewohner bemerkten, daß er sein altes gutmüthiges Lächeln verloren, daß er nicht mehr jeden Samstag Abends vor des Kärrners Thor stehen blieb, um sich zu erkundigen, ob keine Neuigkeiten umliefen in der Stadt, welche der Kärrner jede Woche besuchte; daß er nicht mehr kam, um die verirrten Zeitungsblätter zu entlehnen, welche dann und wann ihren Weg in das Dorf fanden; daß, wenn er am Bach hinschlenderte, ihm die Kleider lose am Leib schlotterten, und daß er nicht mehr »im Gehen pfiff«; ach! »er suchte nicht mehr nach Gedanken«! Nach und nach wurden die Spaziergänge selbst eingestellt; der Pfarrer war nicht mehr sichtbar; ein Fremder versah seine Amtspflichten.

 

Eines Tags, es mochten etwa drei Jahre seyn nach dem erzählten, verhängnißvollen Besuch – an einem sehr stürmischen, rauhen Tag früh im Merz, schellte der Postbote, welcher die Runde in dem Bezirk machte, an des Pfarrers Glocke. Die einzige Dienerin, ihr rothes Haar lose um den Hals fallend, stellte sich auf das Zeichen ein.

»Und was macht der Herr?«

»Seht schlecht ist er;« und das Mädchen wischte sich die Augen.

»Er sollte Euch etwas Hübsches hinterlassen,« bemerkte der Postbote freundlich, indem er das Geld für den Brief einsteckte.

Der Pastor lag im Bette – der unholde Wind brauste durch den Kamin herab, und schüttelte das schlechtgefugte Fenster in seinem mürben Gestell. Die Kleider, die er zuletzt getragen, waren nachlässig umhergeworfen, ungeglättet, ungebürstet; die dürftigen, wenigen Meubles waren keines an seinem Platz; wüste Unbehaglichkeit war der Charakter des Sterbezimmers, und neben dem Bette stand ein benachbarter Geistlicher, ein derber, bäurischer, gutmüthiger, durchaus wälscher Priester, der wohl zu einem Bild von Parson Adams hätte sitzen können.

»Da ist ein Brief für Euch,« sagte der Besuch.

»Für mich?« gab Caleb schwach zur Antwort. »Ha – gut – ist es nicht sehr dunkel, oder versagen mir meine Augen den Dienst?«

Der Geistliche und die Dienerin zogen die Vorhänge zurück und unterstützten den Kranken, daß er aufrecht saß; er las langsam und mit Mühe Folgendes:

»Lieber Caleb, –

Endlich kann ich Etwas für Euch thun. Ein Freund von mir hat eben eine ihm zustehende Pfründe zu vergeben, im Betrage, wie ich höre, von drei- bis vierhundert Pfund jährlich – angenehme Nachbarschaft – keinen Sprengel, und mein Freund hält seine Hunde! – gerade recht für Euch! Er ist jedoch gar eine eigenthümliche Art Mann – es fehlt ihm ein Gesellschafter, und er hat einen Abscheu vor allem Evangelischen; wünscht Euch daher zu sehen, ehe er entscheidet. Wenn Ihr mich im nächsten Monat einmal in London aufsuchen könnt, will ich Euch ihm vorstellen, und ich zweifle nicht, die Sache wird ins Reine kommen.

Es muß Euch seltsam vorkommen, daß ich Euch nie geschrieben seit wir uns zuletzt sahen; aber Ihr wißt, ich war nie ein sehr guter Correspondent; und da ich Euch nichts für Euch Vortheilhaftes mitzutheilen hatte, hielt ich es für eine Art von Beleidigung, mich über mein Glück und dergleichen auszulassen. Alles was ich in dieser Hinsicht sagen will, ist, daß ich meinen wilden Hafer gesäet habe; und daß Ihr mein Wort darauf nehmen könnt: es gibt Nichts, was Einem so zu wissen thut, wie groß das Herz ist und wie klein die Welt, als bis man nach Haus kommt (vielleicht nach einem mühsamen Jagdtag), und seinen eigenen Herd sieht und einen herzlichen Willkomm hört; und – oh, beiläufig gesagt, Caleb, wenn Ihr nur meinen Knaben sehen könntet, den rundesten kleinen Schelm! Aber genug hievon.

Alles was mich quält, ist nur dies, daß ich bisher meine Heirath noch nicht habe erklären können; mein Oheim hat jedoch keinen Verdacht: meine Frau trotzt Allem wie ein Engel, was sie auch ist; dennoch, fällt mir eben, während ich an Euch schreibe, ein, für irgend einen möglichen Zufall, zumal wenn Ihr den Platz verlaßt, wäre es doch gut, wenn Ihr mir eine geprüfte Abschrift des Registers schicktet. An solchen entlegenen Orten werden die Kirchenbücher oft verloren oder verlegt; und es dürfte in späterer Zeit, wenn ich meine Heirath öffentlich bekannt mache, vortheilhaft seyn, jeden Zweifel über diesen Umstand aufklären zu können.

Lebet wohl, alter Kamerad.

Euer aufrichtigster

u. s. w.«

»Es kommt zu spät,« seufzte Caleb schwer, und der Brief entfiel seinen Händen. Eine lange Pause folgte.

»Schließt die Läden,« sagte der Kranke endlich; »ich glaube, ich könnte schlafen; und – und – den Brief aufhebt.«

Mit zitterndem, aber hastigem Griff faßte er das Papier, wie ein Geizhals die Urkunden über ein Gut fassen würde, worauf er eine Hypothek hat. Er glättete die Falten, betrachtete wohlgefällig die bekannte Handschrift, lächelte – ein geisterhaftes Lächeln! – legte dann den Brief unter sein Kissen und sank zurück; sie ließen ihn allein.

Er wachte einige Stunden lang nicht auf, und der gute Geistliche, ebenso arm wie er, war wieder auf seinem Posten. Die einzigen Freundschaften, die in der Stunde der Noth treulich bei uns aushalten, sind diejenigen, welche durch Gleichheit der Lebensumstände gelöthet und gefestigt sind. Im Schooße der Häuslichkeit, in der Stunde der Mühsal und Heimsuchung, am Sterbebette findet man Reiche und Arme selten neben einander.

Caleb war sichtlich viel schwächer, aber sein Bewußtseyn schien klarer als es zuvor gewesen, und der Instinkt seiner angeborenen Gutherzigkeit war das letzte, was ihn verließ.

»Er verlangte; daß ich Etwas für ihn thun solle,« murmelte er. »Ha! ich besinne mich! Jones, wollt Ihr nach dem Kirchspielregister schicken? – Es ist irgendwo in der Sakristei, glaube ich – aber es ist Nichts recht in Ordnung. Am besten ginget Ihr selbst – es ist wichtig.«

Mr. Jones nickte und eilte fort. Das Register war nicht in der Sakristei; die Kirchenältesten wußten Nichts davon; der Küster, ein neuer Küster, der auch der Todtengräber und ein ziemlich wilder Geselle war, war zehn Meilen weit zu einer Hochzeit gegangen; Alles ward durchsucht, bis endlich das Buch, unter einem Haufen von alten Magazinen und staubigen Papieren in dem Wohnzimmer Calebs selbst gefunden wurde.

Als es ihm endlich gebracht wurde, nahm des Leidenden Schwäche schon rasch zu; mit einiger Mühe entdeckte sein trübes Auge die Stelle, wo unter den ungefügen Krähenfüßen der Kirchspielleute die große, deutliche Handschrift seines alten Freundes und die zitternden Schriftzüge der Braut sehr auffallend sich darstellten.

»Zieht dies für mich aus, wollt Ihr so gut seyn?« sagte Caleb.

Mr. Jones that wie er gebeten war.

»Jetzt seyd so gut und schreibt über den Auszug:

»Sir, – Auf Mr. Price's Verlangen überschicke ich Euch das Eingeschlossene. Er ist zu krank, um selbst schreiben zu können. Aber er trägt mir auf zu schreiben, daß er gar nie mehr derselbe Mann wie früher gewesen, seit Ihr ihn verlassen, und daß, wenn er auch nicht wieder gesund werden sollte, doch Euer freundlicher Brief ihn in seinem Gemüth wohlgethan und erleichtert habe.«

Caleb hielt inne.

»Fahrt fort.«

»Das ist Alles, was ich zu sagen habe; unterzeichnet Euren Namen und setzt die Adresse darauf. Hier ist sie. Ha, der Brief (murmelte er) darf nicht herumfahren! – Wenn mir Etwas zustößt, so könnte er ihm Unlust machen.«

Und während Mr. Jones sein Blatt siegelte, streckte Caleb in seiner Schwäche seine abgemagerte Hand aus, und hielt den Brief, der zu spät gekommen, über die Flamme der Kerze. Als das Papier auf den Fußboden ohne Teppich fiel, setzte Mr. Jones vorsichtig die breite Sohle seines Stulpenstiefels darauf, und die Dienerin fegte ihn in den Kaminrost.

»Ha, tretet ihn aus; – werft ihn unter die Asche.« Das Letzte wie das Uebrige sagte Caleb heiser. »Freundschaft, Glück, Hoffnung, Liebe, Leben – eine kleine Flamme – und dann – und dann –«

»Beunruhigt Euch nicht – es ist ganz aus!« sagte M. Jones.

Caleb wandte sich mit dem Gesicht nach der Wand. Sein Leben zog sich noch bis zum folgenden Tag hin, wo er unmerklich vom Schlaf in den Tod hinübersank. Sobald er den letzten Athemzug gethan, bedachte Mr. Jones, daß seine Pflicht erfüllt sey und daß andere Pflichten ihn heim riefen. Er versprach wieder zu kommen, um die Leichengebete über den Todten zu sprechen, ertheilte einige hastige Befehle in Betreff des einfachen Leichenbegängnisses, und wandte sich eben, um das Zimmer zu verlassen, als er den von ihm auf Calebs Wunsch geschriebenen Brief noch auf dem Tische liegen sah.

»Ich komme an dem Postamt vorbei – ich will ihn aufgeben,« sagte er zu der weinenden Dienerin; »gebt mir nur jenen Streifen Papier.«

So schrieb er denn auf den Papierstreifen: »Nachschrift. Er ist diesen Morgen um halb ein Uhr schmerzlos gestorben. R. J,« und ohne sich die Mühe zu nehmen, das Siegel wieder aufzubrechen, schob er das Schlußbulletin in die Falten des Briefs, den er dann sorgfältig in seine ungeheure Tasche steckte und unversehrt auf die Post brachte, und das war Alles, was der lebenslustige und glückliche Mann, an welchen der Brief gerichtet war, je über die letzten Tage feines Freundes vom Collegium her erfuhr.

 

Die durch den Tod Caleb Price's erledigte Pfründe war nicht so werthgeschätzt, daß der Patron ihrethalb von vielen Bewerbungen wäre geplagt worden. Sie blieb beinahe das ganze vom Gesetz vorgeschriebne Halbjahr erledigt, und das verödete Pfarrhaus ward einem der Dorfbewohner überlassen, welcher gelegentlich Caleb bei Besorgung seines kleinen Gartens geholfen hatte. Dieser Mann, sein Weib und ein halb Dutzend lärmende, zerlumpte Kinder nahmen Besitz von der Wohnung des friedlichen, stillen Junggesellen. Die Meubles waren verkauft worden, um die Kosten des Leichenbegängnisses und einige kleine Rechnungen zu bezahlen, und außer der Küche und den zwei Bodenkammern ward das leere, unbewohnte Haus dem Spiel und Unwesen der müßigen kleinen Bälge überlassen, welche in den stillen Gemächern herumjohlten, sich fürchtend vor der Stille, aber voll Freude über den vielen Platz. Das Schlafgemach, in welchem Caleb gestorben, ward allerdings lange Zeit vom kindischen Aberglauben respektirt. Aber als sich eines Tags der älteste Knabe über die Schwelle gewagt hatte, zogen zwei Wandschränke, deren Thüren nur zugelehnt waren, die Neugier des Kindes auf sich. Er öffnete den einen, und sein Ausruf zog bald die übrigen Kinder herbei.

Bist du, geneigter Leser, auch wohl als Knabe plötzlich auf das Eldorado gestoßen, das die Erwachsenen eine Rumpelkammer nennen? Rumpelwaare, wahrhaftig! was die Kunstliebhaberei doppelt verschließt in Cabinetten, ist für den Knaben ächte Rumpelwaare! Rumpelwaare! Leser! für dich war es ein Schatz!

Dieser Wandschrank nun war die Rumpelkammer in Calebs Haushalt gewesen. Im Augenblick hatte sich das ganze Rudel über den buntscheckigen Inhalt her geworfen. Zerstreute Stücke von rohen Angelruthen; künstliche Köder; ein Paar abgetragener Stulpenstiefeln, in welche einer der kleinen Unholde, jauchzend und johlend, sich bis um die Mitte des Leibes begrub; von Motten zerfressen, fleckig und zerlumpt der Mantel des Collegiaten – eine Reliquie aus der schönen Zeit des Todten; ein Sack mit meist zerbrochnen Tischlerwerkzeugen; ein Kolbenschlägel; ein seltsam geformter Boxhandschuh, ein Fechtrappier, in der Mitte zerbrochen, mehr aber als Alles einige halbvollendete rohe Spielsachen: ein Boot, ein Wägelchen, ein Puppenhaus, womit der gutmüthige Caleb sich bemüht hatte, um die jüngeren Kinder jener Familie zu erfreuen, in der er das verhängnißvolle Ideal seines trübseligen Lebens gefunden.

Nach einander wurden diese Sachen aus ihrem bestaubten Schlummer hervorgezerrt, – profane Hände stritten sich um das erste Recht der Besitzergreifung, und jetzt, an die Wand zuhinterst gelehnt, stierte die verblüfften Entweiher des Heiligthums mit gläsernen Augen und scheußlichem Gesicht ein grimmes Ungeheuer an. Sie prallten und stolperten über einander zurück, blaß und athemlos, bis der Aelteste, als er sah, daß das Ungethüm sich nicht rührte, ein Herz faßte, sich auf den Zehen heranschlich, – zweimal zurückwich und zweimal wieder vorrückte, und endlich hervorzog – überpappt, übermalt und in Gestalt eines Greifs herausgeputzt, einen riesenhaften Drachen!

Die Kinder waren leider nicht alt und klug genug, um den ganzen schlummernden Werth des eingekerkerten Aeronauten zu kennen, welcher den armen Caleb die Arbeit manches langweiligen Abends gekostet hatte – ein beabsichtigtes Geschenk für den Lieblingsbruder der Treulosen. Aber sie vermutheten, daß es ein Ding oder ein Geist sey, der von Rechtswegen ihnen gehöre! und nach reiflicher Ueberlegung beschloßen sie, das Geheimniß ihrer Entdeckung einem alten Stelzbein im Dorf mitzutheilen, der in der Armee gedient hatte, der Abgott aller Kinder im Ort war, und nach ihrer festen Ueberzeugung Alles unter der Sonne wußte und verstand, ausgenommen die mystischen Künste des Lesens und Schreibens.

Demgemäß schleppten sie, nachdem sie sich versichert, daß das Feld rein war – denn sie betrachteten ihre Eltern, wie dies bei den Kindern der hartarbeitenden Classen oft der Fall ist, als die natürlichen Feinde ihrer Ergötzlichkeiten und Kurzweil – das Ungeheuer in ein altes Hinterhaus und liefen zu dem Invaliden, um ihn schlau zu bitten, heraufzukommen und dessen Inhalt zu besichtigen.

 

Drei Monate nach diesem denkwürdigen Ereigniß kam der neue Pastor an. Ein schmächtiger, gezierter, ordentlicher, steifer junger Mann, von der Natur geschaffen und durch Gewöhnung geübt, Einsamkeit und Hunger tüchtig zu ertragen. Zwei liebende Paare hatten mit ihrer Trauung gewartet, bis Se. Hochehrwürden kämen. Die Ceremonie war vorüber – aber wo war das Kirchenbuch? Die Sakristei wurde durchsucht, die Kirchenältesten befragt; der lustige Küster, der, auf das Abscheiden seines tauben Vorgängers hin kurz vor Calebs letzter Krankheit ins Amt gekommen, hatte eine dämmernde Erinnerung davon, daß er das Kirchenbuch zu Mr. Price hinaufgebracht, als die Sakristei geweißt worden. Das Haus wurde durchsucht – der Wandschrank, der geheimnißvolle Wandschrank ward durchstöbert.

»Da ist es, Sir,« rief der Küster; und er deutete auf einen blassen Pergamentband. Der magere Geistliche öffnete ihn und fuhr mit Verdruß zurück – mehr als drei Viertheile der Blätter waren herausgerissen.

»Das haben die Motten gethan, Sir,« sagte des Gärtners Weib, der noch nicht aus dem Hause ausgezogen war.

Der Geistliche schaute sich um; eines der Kinder zitterte.

»Was habt Ihr mit diesem Buch angefangen, Kleiner?«

»Mit diesem Buch? – der – hi! – hi! –«

»Sprich die Wahrheit, so sollst Du nicht bestraft werden.«

»Ich wußte nicht, daß es etwas zu sagen hatte – hi! – hi! –«

»Nun, und – –«

»Der alte Ben hat uns geholfen.«

»Nun, weiter?«

»Und – und – und – hi – hi! – der Schwanz von dem Drachen, Sir! – –«

»Wo ist der Drache?«

Ach! der Drachen und sein Schwanz waren längst in jenes unentdeckte Reich gewandert, wo alle verlornen, zerbrochnen, verschwundnen und zerstörten Sachen, Sachen, die von selbst verloren gehen – denn die Dienstboten sind zu ehrlich um zu stehlen; Sachen, die von selbst zerbrechen – denn die Dienstboten sind zu achtsam und vorsichtig, um Etwas zu zerbrechen, eine bleibende und unerreichbare Zuflucht finden.

»Es hat keinen Stecknadelkopf zu bedeuten,« sagte der Küster; »das Kirchspiel muß eben ein neues kriegen.«

»Es ist nicht meine Schuld,« sagte der Pastor. »Sind meine Rippchen fertig?«



 << zurück weiter >>