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Siebentes Kapitel.

Constance.               Mein Kind, mein holder Sohn,
Mein Leben, meine Lust, mein Alles Du?

Mein Wittwentrost!

Unter dem Glitzern der Lampen – dem Rasseln der Wagen – dem Rollen der Karren und Fuhren – dem Gedränge, dem Geschrei, dem rauschenden Leben und dem mißtönigen Tosen und Treiben Londons erwachte Philipp aus seinem glücklichen Schlafe. Er erwachte, unbewußt noch und verwirrt, und sah fremde Augen freundlich und sorgsam auf sich ruhen.

»Ihr habt gut geschlafen, mein Junge!« sagte der Passagier mit einer tiefen, tönenden Stimme, welche trotz alles Getöses rings umher vernehmlich war.

»Und Ihr habt Euch durch mich so belästigen lassen?« sagte Philipp mit mehr Dankbarkeit in Ton und Blick, als er vielleicht gegen irgend Jemand außer von seiner eignen Familie seit seiner Geburt gezeigt hatte.

»Man erwies Euch wohl noch wenig Freundlichkeit, mein armer Knabe, wenn Ihr dies so hoch anschlagt.«

»Nein – einst waren alle Leute freundlich und gütig gegen mich. Damals schätzte ich es nicht.« Hier rollte die Kutsche schwer durch den dunkeln Bogen des Hofes der Herberge.

»Tragt Sorge für Eure Gesundheit, mein Junge! Ihr seht übel aus!« und im Dunkel drückte der Mann einen Souverain Der Sovereign, eine englische Goldmünze, erstmals 1489 geprägt. Im 17. und 18. Jh. zuerst vom Laurel, später von der Unite und der Guinee verdrängt. Die Prägung dieser Goldmünze im Nennwert von einem Pfund Sterling zu 20 Schilling wurde 1817 wieder aufgenommen, 1917 schließlich eingestellt. – Anm.d.Hrsg. in Philipps Hand.

»Ich brauche kein Geld. Dennoch aber danke ich Euch aufs herzlichste; es wäre eine Schande, in meinem Alter ein Bettler zu seyn. Könnt Ihr aber vielleicht eine Stelle für mich ausdenken, wo ich Etwas erwerben kann? – Was man mir anbietet, ist so gar Wenig. Ich habe eine Mutter und einen Bruder – noch ganz ein Kind, Sir! – zu Hause.«

»Eine Stelle!« wiederholte der Mann; und wie die Kutsche jetzt vor der Gasthofsthüre hielt, fiel das Licht der Laterne voll auf sein scharf markirtes Gesicht. »Ja, ich weiß eine Stelle; aber Ihr müßtet Euch an einen Andern wenden, sie Euch zu verschaffen. Was mich betrifft, so ist es nicht wahrscheinlich, daß wir uns wieder sehen.«

»Das thut mir leid! – Was und Wer seyd Ihr?« fragte Philipp mit offener und kecker Neugier.

»Ich!« versetzte der Passagier mit seinem tiefen Lachen: »Oh, ich kenne Leute, die mich einen ehrlichen Kerl nennen. Nehmt die Euch angebotene Stelle, einerlei wie geringfügig sie ist – hütet Euch vor Schaden und Schande. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten stieg er rasch vom Dach der Kutsche herab; und während er den Kutscher anwies, wohin er ihm seinen Reisesack besorgen solle, sah Philipp drei oder vier wohlgekleidet aussehende Männer auf ihn zu kommen, ihm kräftig die Hand schütteln und ihn mit großer Herzlichkeit, wie es schien, bewillkommnen.

Philipp seufzte. »Er hat doch Freunde,« murmelte er bei sich selbst, und nachdem er für die Fahrt bezahlt, entfernte er sich aus dem lärmenden Hofe und schlug seinen einsamen Weg nach Haus ein.

 

Acht Tage nach seinem Besuch in R*** hatte Philipp seine Probezeit bei Mr. Plaskwith angetreten, und der Mrs. Morton Gesundheit hatte sich so entschieden verschlimmert, daß sie beschloß, sich Gewißheit über ihr Schicksal zu verschaffen und einen Arzt zu befragen. Das Orakel war zuerst zweideutig in seiner Antwort. Als aber Mrs. Morton mit Festigkeit sagte: »Ich habe Pflichten zu erfüllen; von Eurer aufrichtigen Antwort hängen meine Plane in Betreff meiner Kinder ab, die, wenn ich plötzlich sterbe, verlassen und rathlos in der Welt zurückbleiben,« da schaute ihr der Arzt scharf Ins Gesicht, las darin ruhige Entschlossenheit und antwortete offen und aufrichtig:

»Dann verliert keine Zeit, Eure Plane ins Reine zu bringen; das Leben ist bei Jedem etwas Ungewisses – bei Euch ganz besonders; Ihr könnt wohl noch längere Zeit leben, aber Eure Constitution ist sehr erschüttert – ich fürchte, es ist Wasser in der Brust. Nein, Madame, keine Belohnung. Ich sehe wieder nach Euch.«

Der Arzt wandte sich zu Sidney, der mit seiner Uhrkette spielte und zu ihm herauf lächelte.

»Und dies Kind, Sir?« sagte die Mutter bekümmert, ganz den über sie selbst ergangenen schlimmen Spruch vergessend – »er ist so zart!«

»Ganz und gar nicht, Madame – ein sehr hübscher kleiner Bursch,« und der Arzt tätschelte den Knaben auf den Kopf und verschwand rasch.

»Ach, Mama, ich wollte Du rittest – ich wollte, Du nähmest das weiße Pferdchen!«

»Armer Knabe! Armer Knabe!« murmelte die Mutter: »Ich darf nicht selbstsüchtig seyn!« Sie bedeckte sich das Antlitz mit den Händen und fing an nachzusinnen.

Konnte sie so, den wahrscheinlich nahen Tod vor Augen, den Entschluß fassen, ihres Bruders Anerbieten abzulehnen? Sicherte es nicht wenigstens ihrem Kind Obdach und Brod? Wenn sie einmal todt war, konnte dann nicht das Band zwischen dem Oheim und dem Neffen abgerissen werden? Wußte sie, ob er dann so freundlich gegen den Knaben seyn würde als jetzt, wo sie ihn mit eigenem Mund seiner Sorge empfehlen, wo sie selbst das kostbare Pfand in seine Hände liefern konnte?

Unter solchen Gedanken faßte sie einen jener Entschlüsse, welche die ganze Stärke selbstaufopfernder Liebe in sich schließen. Sie wollte den Knaben, ihren einzigen Trost, ihre einzige Freude, von sich weggeben, sie wollte allein sterben, – allein!



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