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XXXIV.

Zur gleichen Stunde, um sieben Uhr fünfzehn Minuten abends saßen Flannagan und Tamara nichtsahnend im gemütlich warmen Zimmer und unterhielten sich jeder auf seine Weise. Flannagan saß an einem kleinen Tischchen dem Kerkermeister gegenüber, der sie in der ersten Nacht über die Sprachkenntnisse seiner Genossen aufgeklärt hatte. Zwischen den beiden befand sich ein Schachbrett, und nach dem Stand der Figuren hätte auch ein wenig geübter Spieler gleich erkannt, daß Flannagan gewinnen würde. Außer dem Schachbrett befanden sich auf dem Tischchen auch eine halbleere Flasche und Gläser, und beide Spieler tranken nicht zu knapp.

Tamara saß daneben und las Zeitschriften. Ab und zu betrachtete sie die Figuren, aber sie verstand fast gar nichts davon.

»Schach!« erklärte Flannagan und nahm einen kräftigen Schluck.

Flannagans Gegner zog den König, um aus dem bedrohten Gebiet zu kommen.

»Sie spielen gut«, sagte er lächelnd. »Aber warten Sie nur: Noch haben Sie nicht gewonnen!«

»Müßte die Nachricht über unser Schicksal nicht schon da sein?« warf Tamara ein.

Der Mann sah nach der Uhr.

»Müßte! Natürlich müßte sie längst da sein. Aber in unserem Beruf kommen Verspätungen leider nur zu oft vor. Bedenken Sie: Die Polizei von ganz Amerika macht es sich zur Aufgabe, uns, wo sie nur kann, hinderlich zu sein. Aber die Nachricht wird schon kommen, und ich bezweifle es nicht: Sie wird für Sie günstig ausfallen. Wie gesagt, McGregor hatte es ja auf Sie gar nicht abgesehen.«

»Schach!« rief Flannagan. Er schien sich um sein und Tamaras Schicksal sehr wenig Kopfschmerzen zu machen. »Sie werden bald matt sein.«

»Noch nicht, noch nicht«, wehrte der andere ab und machte diesmal den besten Zug, den es für ihn gab.

»Wissen Sie«, meinte Flannagan nachdenklich, »ich glaube Ihnen nicht, daß Sie uns freilassen wollen. Noch einmal Schach! Lassen Sie uns nämlich laufen, so können Sie zehn zu eins wetten, daß Sie binnen vierundvierzig Stunden verhaftet werden. Wenn Sie diesen Zug machen, schlage ich Ihren Turm. Ich nehme wohl nicht mit Unrecht an, daß sich Ihr Lichtbild in der Bildersammlung der Detektive Force vorfindet?«

»Mit Recht«, bestätigte der Partner. »Ich habe schon zwei Jahre gesessen. Nun, Sie irren sich aber dennoch. Ich brauche Sie nicht zu fürchten, denn heute nacht bin ich über die Grenze. Meine Zeit ist um. Jeder, der einen allzugefährlichen Auftrag für McGregor ausführte, muß sofort über die Grenze, es sei denn, McGregor hat ihn bereits auf die Totenliste gesetzt.«

»Und Ihre Freunde, deren Gesichter ich doch auch schon gesehen habe?«

»Können Sie morgen getrost suchen. Sie sind der Polizei noch sehr fremd.«

Es klopfte. Der Mann stand auf, sprach ein paar Worte durch die Tür, die sich daraufhin um einen Spalt öffnete. Durch diesen Spalt wurde ein weißer Zettel hereingeschoben.

Der Mann blieb gleich an der Tür stehen und las. So aufmerksam Flannagan ihn auch beobachtete, er konnte in seinem Gesicht keinerlei Veränderung erkennen.

»Nun?« sagte der Mann nach einer kurzen Pause sehr ruhig. »Was habe ich gesagt? Sie sind um zwölf Uhr nachts im geschlossenen Wagen nach Boston zu schaffen und dort auf freien Fuß zu setzen. War gar nicht anders zu erwarten. Inzwischen muß ich mich entschuldigen: Es wird Zeit, für das Abendessen zu sorgen.«

»Halt! Unsere Partie!« rief Flannagan.

»Ich gebe sie auf«, erwiderte der Mann höflich. »Sie ist für mich bestimmt verloren.«

Er trat hinaus, und die Tür schloß sich hinter ihm.

Tamara seufzte auf.

»Mir ist richtig ein Stein vom Herzen gefallen. Wissen Sie, ich glaubte bis zum letzten Augenblick nicht daran, daß McGregor uns würde laufen lassen.«

»Um so angenehmer ist es jetzt. In vier, fünf Stunden sind wir in Freiheit! rief Flannagan fröhlich.

»Hatten Sie auch Angst?« erkundigte sie sich lächelnd.

»Angst? Ich weiß nicht. Vielleicht Angst um Sie. Um mein Leben ist es nicht schade.«

Sie sah ihn traurig an.

»Wenn Sie nicht trinken würden, wäre es bestimmt sehr schade um Ihr Leben«, sagte sie leise.

»Ich muß trinken«, erwiderte er mürrisch. »Auf Ihr Wohl, Miß Harrogate!«

Er führte das Glas an den Mund, aber – er trank nicht,

»Warum – – –« begann sie, aber er legte schnell den

Finger auf seine Lippen und sah sie bedeutsam an. Dann lachte er laut auf, nahm einen Bleistift und kritzelte auf den Rand einer Zeitschrift:

»Man sieht uns nicht, aber man hört uns. Vorsicht!«

Sie nickte erstaunt und sah ihm sinnend zu, wie er die Buchstaben wieder durchstrich und aus dem Strich einen großen Fisch machte.

Die Tür öffnete sich, und das junge Mädchen trat ein, das ihnen auch in der Nacht und am Morgen das Essen gebracht hatte. Sie deckte den Tisch, stellte die Teller zurecht und blieb dann unschlüssig vor dem Tisch stehen.

»Fehlt Ihnen etwas, mein kleines Fräulein?« fragte Flannagan, der sehr liebenswürdig sein konnte, wenn er wollte.

»Nein, Mr. Flannagan«, antwortete sie freundlich. Dann schritt sie schnell in eine Ecke des Zimmers und deutete mit dem Finger zweimal auf eine bestimmte Stelle des Teppichs. Gleich darauf war sie wieder zur Tür hinaus.

»Was mag – – –« begann Tamara, aber Flannagan lachte so laut, daß ihre weiteren Worte nicht zu hören waren.

»Haben Sie gesehen, wie rot sie wurde?« rief er und schien von dieser Tatsache ganz begeistert zu sein, »übrigens ein ganz reizendes Ding.« Er stand auf und näherte sich der Stelle, auf die sie gewiesen hatte. Der Teppich war hier angenagelt, aber es waren kleine Nägelchen, die Flannagan mit seinem Taschenmesser herausziehen konnte. Jetzt schlug er den Teppich beiseite, bückte sich, arbeitete eine Weile am Boden mit seinem Taschenmesser und stand dann schnell auf. Er hatte gerade noch Zeit, mit dem Fuß den Teppich wieder in Ordnung zu bringen, als sich die Tür öffnete und das junge Mädchen wieder eintrat.

Sie brachte eine dampfende Schüssel mit Suppe herein und stellte sie auf den Tisch. Dabei warf sie Flannagan einen fragenden Blick zu.

Er nickte.

»Danke«, sagte er leise. »Das Mikrophon arbeitet jetzt nicht mehr. Ich dachte, man belausche uns durch eine dünne Wand. Sonst hätte ich das Mikrophon schon selbst gefunden.«

»Ich wünsche guten Appetit«, sagte sie laut. Leise fügte sie hinzu: »Ich bin gleich wieder da.« Dann eilte sie davon.

Flannagan aß wirklich mit bestem Appetit, Tamara dagegen brachte kaum einen Bissen hinunter. In ihren Augen standen Tränen, und sie sah sehr ängstlich aus.

»Ich begreife nicht …« murmelte sie. »Ich dachte, es sei alles in bester Ordnung …«

»Wir wollen uns nicht zu früh den Kopf darüber zerbrechen«, meinte Flannagan und löffelte tapfer. »In Ordnung? Was soll hier schon in Ordnung sein? In Ordnung ist nur, daß Flannagan beide Augen offen behält, auch wenn Tamara Harrogate denkt, er sei ein hoffnungsloser Säufer.«

»Sie trinken aber wirklich sehr viel …«

»Ich vertrage sehr viel. Das ist ein großer Unterschied. Gestern habe ich vier Flaschen getrunken, aber nur zwei davon enthielten Alkohol. Auf eine ganze Nacht verteilt, ist das für einen ehemaligen Säufer nicht sehr viel. Es waren doch kleine Flaschen.«

Tamara lächelte unwillkürlich, obwohl ihr gar nicht heiter zumute war.

Das Mädchen trat wieder ein. Sie brachte Braten und Gemüse und ordnete alles geschickt auf dem Tisch.

»Man will Sie umbringen«, sagte sie leise. »Essen Sie den Braten ruhig. Die süße Speise, die ich Ihnen gleich bringen werde, enthält Blausäure. Guten Appetit.«

»Danke, danke!« rief Flannagan und lachte rauh auf. Dann steckte er rasch den kleinen Revolver ein, den das Mädchen neben ihn gelegt hatte. »Na, wir wollen mal essen«, meinte er, ohne Tamara anzusehen. »Ein satter Mensch kann sich besser wehren.«

Er nahm einen Bissen, kaute, erbleichte jäh und packte Tamara bei der Hand, als sie einen Bissen zum Mund führen wollte.

»Halt!« würgte er hervor. Dann nahm er sein Taschentuch und spuckte den Bissen hinein. »Den Geschmack kenne ich doch schon!«

»Was ist denn? Was ist denn? Ich verstehe nichts …« stammelte Tamara leichenblaß.

»Das ist die gemeinste Täuschung, die mir im Leben vorgekommen ist«, erklärte er. »Na!« Er zog den Revolver aus der Tasche und prüfte ihn. »Natürlich, ungeladen! Fein! Und um ein Haar wäre Flannagan in die Falle gegangen!«

Er sprang auf Und stellte sich an die Tür, und zwar so, daß sie ihn beim Öffnen verdecken mußte.

»Räumen Sie das Essen weg«, befahl er. »Wohin? Nein, die Teller sollen auf dem Tisch bleiben, nur den Braten weg! Einfach unter den Tisch knallen. Schnell! Es muß so aussehen, als hätten wir gegessen.«

Tamara befolgte seinen Rat. Kaum war sie damit fertig geworden, öffnete sich die Tür. Das Mädchen trat ein, in jeder Hand einen Teller mit einer roten Flüssigkeit.

Die Tür wurde von außen wieder zugezogen. Flannagan stellte sich wie von ungefähr davor.

»Das dürfen Sie nicht essen«, sagte das Mädchen bedeutsam und stellte die Teller auf den Tisch.

»Wir denken auch nicht daran«, sagte Flannagan böse. Mit einem Satz war er neben dem Schrank. Einmal, zweimal rückte er daran, dann flog der Schrank mit einem dumpfen Poltern um. Gleich darauf hatte er ihn, rot vor Anstrengung, vor die Tür geschoben.

»Was … was soll das?« flüsterte das Mädchen entsetzt.

Flannagan antwortete nicht. Schweigend rückte er das schwere Büchergestell vor die Tür, dann den Tisch und das Bett. Schweigend, mit einem bösen Funkeln in den Augen, baute er daraus eine Art Barrikade.

Von draußen hämmerte schon jemand gegen die Tür.

Flannagan achtete gar nicht darauf. Er trat langsam, ganz langsam an das Mädchen heran, das mit weitaufgerissenen Augen an der Wand lehnte.

»Hübsch wie ein Engel und schlecht wie der Satan selbst«, sagte er. »Ich habe mein Lebtag unter Verbrechern verkehrt, aber so etwas Gemeines erlebe ich zum erstenmal. Na, jetzt aber Schluß, mein schönes Fräulein!«

Sie begann zu schreien, als hätte er sie bei der Gurgel gepackt. Tamara hielt sich die Ohren zu und schloß auch die Augen. Sie konnte den Ausdruck der wahnsinnigen Angst dieses Mädchens nicht mitansehen.

»Flannagan!« schrie sie auf. »Wenn Sie dem Mädchen etwas tun, dann – dann – – –«

»Nun, was dann?« fragte er streng.

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie zitternd. »Tun Sie ihr nichts, Flannagan, ich bitte Sie! Ich kann das nicht hören, nicht sehen …«

»Gut!« entschied Flannagan. »Ihr soll kein Haar gekrümmt werden. Aber eins ist sicher: Ehe man Ihnen auch nur das Geringste zufügt, ist sie tot. Mein Wort darauf.«


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