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XXVII.

Es war am Abend des nächsten Tages, als Flannagan ein wenig müde den vornehmen Salon im Hause Harrogates betrat. Einen Augenblick stand er zögernd in der Tür und blinzelte mit den Augen, da er aus einem dunklen Zimmer gekommen war. Dann eilte er mit kräftigem Schritt auf Tamara Harrogate zu, im Vorübergehen einzelnen von den Anwesenden zunickend. Besonders freundlich nickte er Inspektor Bath zu.

»Nun?« fragte Tamara erwartungsvoll.

»Nichts«, sagte er mit einem bedauernden Achselzucken. »Ich habe mich nun volle zwei Stunden lang mit Ihrem kleinen Bruder unterhalten, aber er weiß nichts, nicht das geringste. Er hat kein bekanntes Gesicht zu sehen bekommen, er weiß nicht, ob er weit von hier gefangen gehalten wurde oder nicht. Kurz, er kann uns nicht die kleinste Spur geben.«

Tamara senkte traurig den Kopf.

»Und ich dachte, wenn Sie ihn befragen, würde sich vielleicht doch etwas ergeben …«

»Wir haben noch andere Mittel und vielleicht viel wirksamere«, unterbrach er sie, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte. »Hat Brennan mit Ihnen gesprochen?«

Sie sah sich ebenfalls erst um, ehe sie antwortete:

»Ja, er behauptet, um ein Uhr nachts würde hier ein Wagen vorbeifahren, dem wir folgen sollen, da er uns den Weg zu meinem Vater zeigen wird.«

»Ausgezeichnet. Also will er seinen alten Plan mit einigen Abänderungen doch verwirklichen. Und was antworteten Sie?«

»Wie Sie es mir sagen: Ich fahre nur, wenn Sie mitfahren. Er war sofort damit einverstanden.«

Flannagan lächelte spöttisch.

»Das kann ja eine nette Reise werden«, murmelte er böse. »Na, wir werden ja sehen … Und jetzt, Miß Harrogate, widmen Sie sich bitte den übrigen Gästen und sprechen mit mir bis ein Uhr kein Wort, – was auch geschehe! Denken Sie daran.«

Sie nickte ernst und schritt rasch auf eine Gruppe von Herren zu, die sich ein wenig zu langweilen schienen. Flannagan dagegen schlenderte langsam auf Bath zu, der sich gerade mit Hubert und Jim unterhielt. Flannagans dritter Freund war nirgends zu sehen.

»Wie geht's, Inspektor?« erkundigte sich Flannagan und gab dabei Hubert und Jim mit den Augen ein bejahendes Zeichen. »Ich wundere mich, daß Sie so viel Zeit haben, Gesellschaften zu besuchen.«

Bath lächelte höflich.

»Das sollte Sie nicht wundern, Mr. Flannagan. Es gibt für mich nichts Anziehenderes, als einer Gesellschaft beizuwohnen, von deren Teilnehmern ich annehmen muß, daß mindestens ihre gute Hälfte mir nach dem Leben trachtet. Ihr … Freund Tom ist schon seit längerer Zeit verschwunden.«

»Das bereitet Ihnen Kummer, nicht wahr? Ja, es ist schwer, gleichzeitig mich und jeden meiner Freunde zu beobachten. Darum habe ich meine Freunde auch mitgebracht.«

»Nicht nur darum«, verbesserte Bath. »Aber das tut nichts zur Sache. Jedenfalls will ich Ihnen gleich sagen, daß nicht nur Ihr Freund Tom den kleinen Harrogate bewacht. Es sind auch drei richtige Wächter da, die sich nicht gerade bemerkbar machen werden, es sei denn, Ihrem Tom fällt es ein, mit dem Knaben einen Spaziergang machen zu wollen.«

»Ich hoffe, Ihren richtigen Wächtern wird nicht ein ähnlicher Einfall kommen?«

»Es sind vereidigte Beamte der Detektive Force«, versetzte Bath vorwurfsvoll.

»Sind Sie nicht auch vereidigt?«

Bath wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick näherte sich ihnen Brennan. Er sah bleich aus und etwas abgespannt, aber seine Lippen lächelten wie sonst, und seine sanften, braunen Augen strahlten, als hätte er nie so schreckliche Dinge wie gestern erlebt.

»Meine Herren«, sagte er fröhlich. »Darf ich Sie zu einem kleinen Drink einladen? Ich habe dort in der Ecke einiges vorbereitet – es ist für jeden Geschmack gesorgt.«

»Ick bin dabei!« rief Jim sofort begeistert aus. »Es ist lange, lange her, seit ick enen juten Tropfen jetrunken habe. Janze zwei Tage!«

»Gemacht, Mr. Brennan«, sagte Flannagan, und Bath nickte lächelnd zum Einverständnis.

Hubert sagte kein Wort. Erst, als sich alle auf den Weg zu dem kleinen Tisch in der Ecke machten, packte er Flannagan beim Arm.

»Biste verrückt geworden?« raunte er ihm zu, ohne daß es die anderen hören konnten. »Du kennst dich doch! Und du weißt, daß man beabsichtigt, dich trunken, unbrauchbar zu machen. Du darfst keinen Tropfen trinken, verstehste?«

»Ich will trinken, und ich werde trinken«, erklärte Flannagan. »Gib dir keine Mühe, alter Knabe.«

»Ich erlaube dir das nicht«, begann Hubert, doch jetzt war Brennan auf das Gespräch aufmerksam geworden.

»Was haben denn die Herren«, fragte er erstaunt.

»Nichts«, sagte Hubert finster und schüttelte den Kopf.

Flannagan lachte.

»Mein Freund Hubert erinnerte mich daran, was uns Inspektor Bath erzählt hatte: McGregor beabsichtigt, mich betrunken zu machen. Nun, wer könnte wohl über McGregors Absichten besser unterrichtet sein als eben Mr. Bath?«

Bath sagte zu dieser erneuten Anspielung gar nichts. Er setzte sich ruhig hin und trank als erster ein Gläschen irgendeiner goldgelben Flüssigkeit.

»Leichtsinnig«, stellte Flannagan fest. »So darf ein Detektiv nicht trinken, wenn er sein Leben umlauert glaubt.« Er nahm eine der noch geschlossenen Flaschen in die Hand und prüfte den Verschluß. »Sieht sehr alt und vertrauenerweckend aus, lieber Mr. Brennan, aber ich werde doch lieber bei meiner eigenen Marke bleiben.« Damit holte er ein Fläschchen aus der Tasche und goß sich ruhig daraus ein Glas voll. »Was haben die Menschen nicht schon alles nachgemacht? Sollte es Schwierigkeiten bereiten, einen Flaschenverschluß so zu maskieren, daß er aussieht wie hundert Jahre alt?«

»Sie sind beleidigend, Mr. Flannagan«, begann Brennan grollend.«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, widersprach Flannagan. »Ich konnte nicht wissen, daß ein Berufsfälscher beleidigt sein würde, wenn man ihm eine gut ausgeführte Fälschung zumutet.«

»Mr. Flannagan, ich warne Sie!« rief Brennan drohend aus.

»Sie werden hängen, hängen, hängen!« rief Bath dazwischen.

Brennan war bleich geworden.

»Wer? Was? Wie kommen Sie darauf …«, stammelte er sichtlich erschrocken.

»Sie warnten doch Mr. Flannagan«, erklärte Bath liebenswürdig. »Da mußte ich an eine Grammophonplatte denken, die unsere Geheimabteilung neulich mit Hilfe eines Mikrophons aufnahm. Da war auch so ein junger Mann, der einen anderen warnte. Tja, und dieser junge Mann sagte: Sie werden hängen, hängen, hängen! Er hatte eben viel Temperament.«

Brennan führte mit zitternder Hand sein Glas zum Mund.

»Sie … das heißt … Ihre Geheimabteilung hat … hat wohl dabei nicht nur eine Grammophonplatte …«

»Nein, nicht nur eine«, unterbrach ihn Bath gemütlich. »Es war ein langes Gespräch – es wurden zwei Dutzend Platten daraus. Wunderbar gelungene Aufnahmen übrigens. Man hört die beiden Männer geradezu atmen.«

»Ja, dann …«

»Dann wird es wohl nichts aus der Reise nach Canada«, ergänzte Bath. »Warum nicht? Man hat dort für einen würdigen Empfang gesorgt. Ich würde unbedingt hinfahren, unbedingt. Wann ist der allgemeine Aufbruch? Um zehn Uhr, nicht wahr?«

Brennan stürzte rasch ein weiteres Glas Wein hinab. Er sagte nichts mehr, denn er hatte begriffen, daß ihm noch eine kleine, ganz kleine Chance zur Verfügung stand. Die Polizei kannte sein ganzes Gespräch mit dem Beauftragten McGregors; sie konnte ihn, Brennan, jederzeit festnehmen und für ewige Zeiten ins Zuchthaus stecken. Wenn sie es aber nicht noch heute abend – sofort – tat, dann – – – dann hatte er noch eine schwache Hoffnung. Bath schien nichts davon zu wissen, daß der Plan geändert worden war: weder wußte er von der veränderten Zeit, noch von dem veränderten Ziel der Fahrt. Sie sollten sich in ihm verrechnet haben, diese Spürhunde! Sie glaubten, er hätte ihnen gestern alles verraten! Er aber hatte zwei Namen verraten, den dritten aber nicht! Und dieser dritte Mann mit einem Heer von dreißig Banditen stand noch zu seiner Verfügung.

»Wir wollen uns über etwas Erfreulicheres unterhalten«, rief Brennan aus und lachte gezwungen auf. »Erzählen Sie uns etwas, Mr. Hubert!«

Hubert runzelte die Stirn.

»Ich kann nur vom Mädchenhandel erzählen, aber das hat mir Flannagan verboten«, sagte er unzufrieden.

»In dieser Gesellschaft kannst du gar nicht etwas erzählen, was niederträchtig genug wäre!« rief Flannagan und holte die zweite Flasche aus der Tasche. »Also erzähl mal die Geschichte von dem dicken Jo und der spindeldürren Berta …«

»Gestatten Sie mir vielleicht auch ein Gläschen von Ihrer Flasche«, bat Bath mit einem etwas verschmitzten Lächeln.

Flannagan goß ihm und sich sofort bereitwillig die Gläser voll.

»Auf das Wohl der Geheimabteilung!« rief er und trank Bath zu. Dann stürzte er mit einem Satz den Inhalt seines Glases hinab, und Bath tat das gleiche.

Die Wirkung aber war sehr verschieden. Während Flannagan sich bereits mit großer Ruhe wieder das Glas füllte, sank Bath ächzend auf seinem Stuhl zusammen. Sein Gesicht war knallrot angelaufen, mit beiden Händen hielt er seinen Hals umfaßt und stöhnte und hustete.

»Was … was war … das?« würgte er endlich hervor.

Flannagan lachte herzlich.

»Achtzigprozentiger Alkohol. Nicht jeder verträgt ihn. Ich hätte ihn Ihnen auch gar nicht erst angeboten, doch machten Sie ein Gesicht, als könnten Sie meinen Alkohol wie gefärbtes Wasser trinken.«

Bath antwortete nicht. Er fühlte sich diesmal geschlagen. Ja, er hatte wirklich geglaubt, Flannagan trinke Wasser oder Limonade. Dabei war es achtzigprozentiger Alkohol. Puh! Er schmeckte wie helles Feuer, und dieser Flannagan trank es wie … wie … na, eben wie Wasser!

»Und jetzt!« rief Flannagan fröhlich, mit strahlenden Augen. »Jetzt … Wie spät ist es denn eigentlich?«

»Halb elf«, erwiderte Brennan, nach einem Blick auf die Uhr.

»Bahnzeit?«

»Genau.«

»Also jetzt, Mr. Bath, in diesem Augenblick, zehn Uhr dreißig, geschieht es!«

»Was geschieht?« fragte Bath mißtrauisch.

»McGregor rächt sich an Ihnen«, erklärte Flannagan. Er nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und warf es vor Bath hin. »Da, lesen Sie! Diesen Befehl McGregors fand ich heute. Sie kennen die Handschrift, nicht wahr? Echt, stimmt doch? Und was steht drin? ›Zehn Uhr dreißig Baths Frau und Kinder entführen. Rücksichtslos. McGregor.‹«

Sekundenlang starrte Bath auf die wenigen Zeilen. Sein Gesicht sah schrecklich aus. Noch nie hatte ihn Flannagan so gesehen: Es war eine häßliche Fratze, das ganze Gesicht eine einzige Grimasse.

Er sagte kein Wort. Kein Fluch, keine Klage kam über seine Lippen. Aber plötzlich sprang er auf. Er nahm sich nicht die Mühe, um den kleinen Tisch herumzugehen: Mit einem Satz war er über das Tischchen hinweggeschnellt und jagte durch den großen Saal davon.

Flannagan, Brennan, Hubert und Jim starrten ihm sprachlos nach. Zu schnell war das alles gekommen.

Plötzlich schlug Flannagan mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrend aufsprangen.

»Goddam!« schrie er auf, und sein Gesicht war in diesem Augenblick fast genau so verzerrt wie vorhin Baths. »Alles falsch! Alles Irrtum! Bath ist nicht McGregor!«


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