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Hermann Kersten, Die Kinder von Gernika

Im Verlag Allert de Lange, Amsterdam, erscheint Hermann Kestens »Die Kinder von Gernika«, eines der merkwürdigsten Bücher der Epoche. Es ist vielleicht der erste gelungene Versuch, mit der Welt von 1938 fertig zu werden. »Fertig werden« will heißen, sie so darzustellen, daß Menschen künftiger Generationen aus Werken solcher Art diese Welt oder Unweit wiedererkennen werden. Merkwürdig nenne ich das Buch aber nicht nur der Themawahl wegen. Es schwelen noch die niedergebrannten Mauern der kleinen Stadt Guernica im freiheitlichen Spanien. Flüchtlinge, wie sie Kesten schildert, begegnen uns Tag für Tag in den Straßen unseres Exils, die deutschen und italienischen Flieger schwirren noch immer über dem unseligen Land, und Schicksale, wie die der kleinen, friedlichen, eben noch so glücklichen Familie, erfüllen sich nach wie vor. Und noch ist kein Ende abzusehen. Darin liegt also das Merkwürdige nicht. Es ist hauptsächlich etwas ganz anderes.

Dieser Dichter begreift das feist werdende Grauenhafte, das vergnügte, zufriedene, unbestrafte Unrecht, das Ordinäre, das in dem »Sieg« des mechanisch Stärkeren über den mechanisch Schwächeren liegt; er ist Feuer und Flamme gegen die Niedertracht jener, die aus sicherer Position heraus, in ihrer hysterischen Eitelkeit die törichten Völker, die schwer zu belehrenden, aber so leicht aufzuwühlenden Massen gegeneinander hetzen; aber Kesten begnügt sich nicht mehr mit dem Zorn des Gerechten, nicht mit der Träne des Mitleids, noch mit dem stöhnenden Seufzer müder Verzweiflung: Er gibt uns Zeichen eines gewaltigen, vorerst geistigen Widerstandes. Er gibt unbarmherzige, kristallklare Einsicht in die Welt und in die Gegenwelt, er gestaltet aus einer sinnlosen Katastrophe ein dramatisches Gegeneinander.

Er zeigt aber alles eher als ein Gegeneinander von schlechthin sittlichen und schlechthin niederträchtigen Kräften, etwa eine tugendhafte Familie in der zerstörten Stadt und eine niederträchtige Generalversammlung oder Fliegermesse auf der anderen Seite. Er macht einen viel großartigeren Zug, der dem Genialen nahekommt: In der kleinen Apothekerfamilie – Vater, Mutter, sieben Kinder – läßt er sich die Gegenkräfte entwickeln, er läßt die Familie sich in zwei Teile spalten, und an die Spitze des einen setzt er den Vater, den sittlich einwandfreien, zu ewiger Erfolglosigkeit und Ungeliebtheit verurteilten modernen Hiob, und auf die andere Seite setzt er den ewigen Kain. Und in der Gestalt dieses feindlichen Bruders, dieses erfolgreichen Abenteurers, siegesgewissen Verführers, dieses humoristischen, niederträchtigen und bei aller äußeren Glätte brutalen Pablo schafft er eine von Bosheit, Leben, Klugheit und diabolischer Weisheit funkelnde Figur. Auf der einen Seite, sage ich, der »humane« Mensch, der Mensch an sich, der Bruder unter Brüdern, der ewige Gatte, der besorgte, selbstlose Vater, dem nichts gelingt. Der Bruder Pablo, den er vor zwanzig Jahren gerettet, dem er seine Lebensidee geopfert hat, kehrt zurück, der müde gewordene Betrüger erscheint eines Tages, auf der Flucht, zum Bettler geworden, mit gefärbtem Haar, zerfranst, abgedankt, erledigt. Er müßte unterliegen – und siegt. Das Schlechte, das Niederträchtige, das Spöttische, das Mephistophelische siegt durch ihn, gegen jede Erwartung, und doch muß es so, kann nicht anders sein. »Merkwürdig«, sagt der Vater, »du, Pablo, hablos, glücklos, ein Individualist, rechtlos, ritenlos, der sich den Bart rot und die Meinungen schwarz färbt, oder auch umgekehrt, ein ewiger Komödienspieler...« – »Wie deine Kinder!«, sagt Pablo. »Es sind Kinder«, sagt der Vater. »Daß ein Mensch wie du so an der Heimat hängt, am Haus, das ihm nicht gehört, am Brot, das nicht für ihn gebacken wird, an der Familie, die er verriet und die ihn ausstoßen wird – Pablo, Pablo, nur die Vagabunden sind Patrioten um jeden Preis...« Wer denkt da nicht an einen anderen, einen dermaligen Obdachlosenasylinsassen, an dem vor dreißig Jahren jede ähnliche Prophezeiung ebenso zuschanden geworden wäre, wie sie hier zuschanden wird? Es ist der heimgekehrte Pablo, der die Familie erobert, der sie lachend ins Unglück stürzt, der schuld daran ist, daß sie nicht rechtzeitig, wie es der besorgte Vater will, das Land verläßt und sich rettet. Die Mutter, diese schön gebliebene, bisher immer sittenreine Frau, wirft sich dem Stromer an den Hals, die erste nicht, die letzte nicht. Sie verrät zuerst ihren Mann, dann sich, und niemals kommt – welch meisterlicher Zug des Psychologen Kesten – ein Wort der Reue, des Mitleidens mit dem betrogenen Gatten aus ihrem Munde. Als eine Fliegerbombe in den Keller der Apotheke niederkracht, geht der Vater zugrunde, die schöne, tragisch umwitterte Tochter Innozentia, die sich für ihre Mutter geopfert hat. – Unbeschädigt bleiben die Mutter, dann der Held der Geschichte, ein Junge von sechzehn Jahren, altklug geworden durch das Unglück und im Grunde unberührt von allem, was um ihn vorgeht (denn welcher junge Mensch vermöchte das alles sehend, wissend, verstehend zu ertragen?) –und gerettet wird der pfiffige Lump, der großartige Zyniker, der Mensch, der so »gräßlich fröhlich ist«. Von ihm heißt es: »Jetzt, sagt er allen fremden Leuten, die ihm zuhören wollen, jetzt, sagt er, ist der Moment. Jetzt leben! Jetzt genießen! Der Fülle sich freuen, des Jetzt und Heut, des freundlich gleichen, des angenehmen Daseins. Süße Hoffnung aller Lebenden: Das Jetzt – und morgen nochmals.« Hier ist es das andere Lager, das spricht. Was bedeuten vor solch einem Pablo die edlen Worte der unedlen Witwe: »Ich meine, wenn meine Kinder mich fragen: Mutter, was für einen Sinn hat unser Leben? Was sonst kann ich ihnen sagen als: Rächt euren Vater! Rächt eure Geschwister! Rächt Spanien! Vergeßt, will ich ihnen sagen, die falschen Lehren eures Vaters. Vergeßt die Honigworte Christi. Vergeßt alles, was in den Gesetzbüchern und anderen Romanen steht! Lernt den Gang der Welt begreifen.« Aber der Gang der Welt heißt Pablo, nicht Antonio.

Das Große an diesem kleinen, hinreißend erzählten Buch ist der Trotz. Kesten wimmert nicht. Er gestaltet, er schafft in souveräner Kraft Figuren, unvergeßliche, die weiterleben, auch wenn man die letzte Seite des Buches hinter sich gelassen hat. Er widersteht. Er stellt das Faustische gegen das Mephistophelische und läßt das Faustische edel und das Mephistophelische lustig sein. Er kann dem Lauf der Welt mit scharfem Blicke und souveränem Humor folgen, selbst bis dorthin, wo sich dieser Weg ins schlechtweg Infernalische verliert. Er zeigt am Beispiel des armen, törichten, ratlosen, furchtsamen, zarten und zugleich so heroischen Jungen, wie wir zerrissen werden vom Gram über die Scheußlichkeit des Unrechts auf der einen Seite und von dem unzerstörbaren Drang nach vorwärts, der sich durch nichts hemmen läßt. Nicht durch die Moral, die ihn fesselt, nicht durch das Mitleid, das ihn schwächt, nicht durch das Unrecht, das ihn zu ersticken droht. »Dieser ganze Gedanke der Moral ist ein Funke des Wahnsinns«, sagt Onkel Pablo. »Lebe und genieße, Bruder. Und kümmert euch nicht um die Folgen! Mañana! sagen wir. Morgen! Morgen! Alles, was auf Erden geschieht, ist folgenlos.«

Kesten setzt seinem Buch ein Motto aus dem »Figaro« des Beaumarchais voran: »Et vive la joie! Qui sait, si le monde durera encore trois semaines.« Hier liegt, in diesen paar banalen Worten liegt der Sinn des Buches. Beaumarchais heißt Freiheit. Diese Weisheit ist »fröhliche Wissenschaft«, Zukunft, Rettung! Kesten ist nicht zynisch. Nur seine Gestalt ist es. Kesten ist nicht nihilistisch. Er ist auch nicht sentimental aufgeweicht wie der junge sechzehnjährige Held seines Romans. Er läßt die Kinder »Komödie spielen«, und doch schreien die Tatsachen zum Himmel, das Blut fließt, die Opfer stöhnen, und die ewige Flucht endet nie. Das bittere Brot der Armut und Emigration ißt sich so schwer. Wissen wir es nicht? Aber alles spricht er aus, nur das Wort der Lösung nicht; es ist aber da, es leuchtet durch, so wie es durch die sentimental zynischen Aventüren des nihilistischen Revolutionsfriseurs Figaro hindurchleuchtet, und es ist nichts anderes als die Freiheit. Das erste Buch Hermann Kestens heißt »Josef sucht die Freiheit«. Dieses Buch hat der reifere Dichter noch einmal geschrieben. Er glaubt an die Freiheit, die ewiger ist als Faust und Mephisto, ewiger als alle Antonios und Pablos, die unvergeßlichen Figuren eines großen Buches.


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