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Giacomo Casanova, Erinnerungen

Casanova, dessen Geburtstag sich jetzt zum zweihundertsten Male jährt, gehört nicht zu den säkularen Menschen. Sein Leben enthält zwar unzählige Züge von säkularem Charakter, es gibt Beispiele für jede menschliche Verirrung, für manche menschliche Klarheit, für menschliche Trübe und menschliche Lebensfreude, für übermenschlichen Lebensglanz – aber beispielhaft ist es nicht. Er ist ein ewiger Verführer. Macht ihn das mit Don Juan verwandt? Nein, – denn Don Juan und Casanova sind entgegengesetzt gerichtete Seelenfiguren, und was Don Juan, zum unaussprechbaren Problem wird, wird Casanova zur fabelhaft erzählten Selbstverständlichkeit. Er ist gebildet, hat interessante Züge, ist dem guten Leben in keiner Weise abhold. Vor allem nährt er sich gewohnheitsmäßig von der Unschuld junger Mädchen, wird alt dabei, genießt sein Leben bis zum nie schal werdenden Rest und weiß zum Schluß nur, was er erlebt hat, hat aber im Grunde nicht erlebt, was er weiß. Denn wie wäre das möglich?

Schon der erste Band seiner Lebenserinnerungen, die jetzt der Verlag Ernst Rowohlt in einer herrlichen Ausgabe neu herausgibt, enthält des Gelebten unendlich viel, aber es ist so, wie wenn ein Schneider eine Naht herunternäht, es geht alles seinen Gang, aber nichts hat ein Ende. Alles ist Tatsache, nichts ist Wahrheit. Das ist sein Glück, sein Stern. Alle Welt findet ihn bezaubernd, geheimnisvoll. Wohlwollend sieht man ihn als Spieler, Hasardeur, Abenteurer, man freut sich am Gewinner und Genießer großen Stils.

Aber das Endresultat ist nur ein gewöhnlicher, wenn auch mit seinen Schwächen ungemein reizvoller Mensch. Man könnte bitter werden, wenn man bedenkt, daß ein Mozart für seinen »Don Giovanni« nicht soviel Dukaten bekommt als ein Casanova in einer halben Stunde am Pharaotisch verspielt, gewinnt und wieder verspielt, um endlich doch mit goldgefüllten, schwer am seidenen, blaugestickten Galakleide herabhängenden, metallklirrenden Taschen fortzugehen – aber eine solche Betrachtungsweise lenkt von dem eigentlichen Problem Casanova ab. Und ein Problem ist es. Gerade deshalb, weil der Kern der Persönlichkeit so zweideutig ist. Gerade, weil die Auflösung des Rätsels Casanova so leicht scheint.

Erinnert man sich dessen, daß dieser Mann nach unzählbaren Abenteuern, die er in seiner zehnbändigen Lebensgeschichte auf 5000 Seiten erzählt, nach mannigfachen Fehlschlägen, nach galanten Krankheiten, nach vielen Kümmernissen, gelehrten Bestrebungen, Hochstapeleien, Spielerleidenschaften, Kreditoperationen, Reisen und tausenderlei Begegnungen mit Menschen (selten mit sich) im zweiundsiebenzigsten Lebensjahre noch die Kraft hatte, in seiner Verbannung in dem Schlosse zu Dux seine Memoiren zu schreiben und alles Frühere so lebenstrotzend heraufzubeschwören, daß diese zehn Bände zu den nie verschwindenden Dokumenten ihrer Zeit und ihres Schöpfers gehören, daß sie jetzt immer noch spannen, belustigen und Anteil erwecken – dann kann man nur das Wunder einer Vitalität bewundern, die über das gewöhnliche Menschenmaß weit hinausgeht, und dagegen gehalten, bedeuten die tausend »gepflückten Mädchenblüten« in ihrer etwas schwammig gewordenen Sinnlichkeit fast nichts.

Lebensfreude ist eine heute selten gewordene Sache, mag sie sich auch manchmal so sehr irdisch, fleischhaft, bis zum Gemeinen genießerfreudig zeigen wie hier, eine Freude ist es doch, und Freude strahlt auch jetzt aus den Büchern des Casanova aus. Fragen der Moral oder gar der Ethik kommen für uns weniger in Betracht als für Casanova selbst, der, wie alle Wüstlinge, nie frei war von moralischen Bedenken. An einer Stelle der Einleitung sagt er: »Lachend wirst du (Leser!) sehen, wie oft ich mir, wenn es nötig war, kein Gewissen gemacht habe, Wirrköpfe, Schurken, Narren zu überlisten. Wenn man es mit Frauen zu tun hat, so steht List gegen List, und das zählt nicht. Denn wenn Liebe mitspielt, sind beide Teile betrogen.« Was an dieser Äußerung eigenartig ist, ist die allgemeine Entwertung von Grundsätzen, die ein mittelmäßiger Geist gern vornimmt, solange sie zu seinem Vorteil stattfinden kann. Dieser Hang zur Skepsis ist auch für unsere klägliche Zeit sehr charakteristisch. So läppisch sich heute dieser Skeptizismus gebärdet, des Erfolges kann er immer sicher sein, er ist der Trost aller Mittelmäßigen. Glaube erfordert Kraft. Unglaube verlangt Mut. Die »Heilige Johanna« verlangt nichts. Sieht man also diesen vernünftelnden, »billigen« Geist als den von 1925 an, kann es kein zeitgemäßeres Buch geben als Casanova. Das zitierte Wort ist nicht zufällig. An einer anderen Stelle wiederholt und begründet er es tiefer: »Der Mensch ist frei, doch nur, solange er an seine Freiheit glaubt. Je mehr Macht er dem Schicksal einräumt, um so mehr beraubt er sich selbst der Macht, die Gott ihm mit der Vernunft verliehen hat. Die Vernunft ist ein Stück von der Göttlichkeit des Schöpfers. Bedienen wir uns ihrer, um demütig und gerecht zu sein, so machen wir uns ihm, der sie uns geschenkt hat, wohlgefällig. Gott hört nur für die auf Gott zu sein, die sein Nichtssein für möglich halten. Und diese Vorstellung muß für sie die größte Strafe sein.«

Äußerungen dieser Art gehören notwendig zu den »gepflückten Mädchenblüten«, zu den goldgefüllten Taschen und zu den okkultistischen Studien, den Verwandlungsversuchen von Quecksilber zu Gold, zu den magischen Pyramiden und kabbalistischen Zahlenmanövern. Aber sie geben nur die Ausstrahlungen dieser unpersönlichen Persönlichkeit. Sie führen nur indirekt in Casanovas Inneres. Der Gegensatz, der in den Worten »unpersönliche Persönlichkeit« liegt, ist nicht ein bloßes Wortspiel. Die innere Ausgeglichenheit, der gleichmäßig feststehende Barometerstand der Seele ist etwas, das Casanova besitzt, was ihn erfolgreich macht; er ist etwas, was Don Juan fehlt und was ihn scheitern läßt. Don Juan lebt intensiv, und wenn er zugrunde geht, ist es deshalb, weil keine irdische Erscheinung eine wirklich intensive Liebe erträgt. Der wirklich intensiv Liebende muß lächerlich werden wie Don Quichotte oder sich entmannen wie Abaelard oder Tote zu Gaste laden wie Don Juan. Dies alles sind verschiedene Wege, zum gleichen Endziel führend, aber alle aus dem Glauben, aus einer wahrhaften Quelle entspringend. Nie wird es einem Casanova einfallen, einen toten Komtur, den Vater einer seiner »Mädchenblüten«, zu Gaste zu laden. Er wirft nicht einmal einen Schatten auf die Lebenden, geschweige denn auf die Toten. Er betört sie nur, die Mädchen, Frauen, Spieler, Betrogenen und Betrüger, aber er verführt sie nicht. Sie verfolgen ihn nicht, tragikomisch wie den Don Juan, der nie die Ruhe zu neuen Abenteuern hat, weil das nicht zu Ende gelebte immer wieder auftaucht und seine Rechte verlangt. Die »gepflückten Mädchenblüten« lassen Casanova ohne viel Kummer gehen, und da wird Casanovas sinnlose Vernunft eins mit der sinnlosen Vernunft des gewöhnlichen Weltgeschehens. Das schnoddrige Wort »Ab dafür« wäre der eigentliche Sinnspruch dieses Mannes.

Seine außerordentlich reichen Erinnerungen bieten Stoff für unzählige Romane und Dramen, sind aber an sich weder romanhaft (mit Ausnahme der herrlich erzählten Episode der Nonne M.M. in den Kasinos von Murano und Venedig), und ebensowenig sind sie dramatisch, mit Ausnahme der unbeschreiblich prächtigen Flucht aus den Bleikammern. In beiden Fällen kommt das Entscheidende, das nicht Wiederkehrende, von außen. Wenn es bloß nach Casanova ginge, würden Nanette und Marton, seine zwei ersten »Opfer auf dem süßen Altare der Venus«, sich wie Kaninchen vermehren. Unschuldiger Menschen gibt es zwar wenige, aber unberührter viel. Die Nonne M.M. aber ist eine wahrhaft erlebte Frauengestalt mit männlichen, mit weiblichen Zügen, ein sonderbarer, gebrochener und doch herrlich lebender und blühender Charakter – und weil sie blüht, welkt sie auch und vergeht. Sie ergreift als Mensch, als Charakter, als Schicksal, als einmaliges, nicht wiederkehrendes – aber auch nicht als entscheidendes. Denn diesen Allerweltsbruder Casanova entscheidet nichts – weder der Untergang eines Menschen noch der Untergang einer Welt. (Er sah das achtzehnte Jahrhundert zugrunde gehen – unbekümmert, ungerührt, gesund und lustig, klug und verbohrt, und eine Schüssel gut gekochter Makkaroni war sein »Lebensziel« im Schlosse von Dux.)

Was die Ausgabe anbetrifft, von der der größere Teil schon vorliegt und bei der eine neue französische Fassung als Unterlage gedient zu haben scheint, ist sie durchaus zu loben. Das Buch ist von Hessel und Ježower mustergültig übersetzt; klar, beschwingt, immer kraftvoll, nie grob. Der unzerstörbare Hauch der Jugend, den dies im höchsten Greisenalter verfaßte Werk im Original besitzt, bricht in jeder Zeile durch. Wenn an der prachtvoll schlicht gedruckten Ausgabe überhaupt etwas auszusetzen ist, so schien mir ein Bild des Casanova sehr zu fehlen, gerade, weil die Persönlichkeit als solche nicht selbständig zeugen kann (im Gegensatz zu Rousseaus »Bekenntnissen«, bei denen jede Bildbeigabe nur stören kann). Daher wäre es sehr zu begrüßen, wenn späteren Auflagen Bilder dieses merkwürdigen, wenn auch nicht beispielhaften Mannes und der vielen Stätten seines Währens und Wirkens beigefügt würden.


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