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Gerhart Hauptmann, die Insel der großen Mutter

Der Beginn des neuen Romanes von Gerhart Hauptmann ist prachtvoll: »Dem Ufer einer herrlich und verlassen prangenden, von Gebirgen überhöhten Insel im südlichen Weltmeer näherten sich eines Tages mehrere Boote, als die Sonne gerade im Mittag brütete.« Solch eines Einleitungssatzes brauchte sich Kleist nicht zu schämen, und die folgende Exposition scheint den hochgespannten Erwartungen recht zu geben. Es sind schiffbrüchige Frauen, die sich, lachend und wehklagend zugleich, in den Booten auf die verlassene Insel flüchten, die ihnen von jetzt an Heimat, Bodenkrume, Arbeitsfeld, Totenacker, Schauplatz aller Leiden, Freuden, Pläne, Hoffnungen und Leidenschaften werden soll. Sie werden, so glaubt man, jetzt wie Robinson Crusoe die Zivilisation, die Gesittung, die menschliche Gesellschaft aus dem Urkern wieder aufbauen; die reinsten menschlichen Beziehungen werden sich in der balsamischen, regenfreien, klaren Luft der einsamen Insel wie in Goethes »Wahlverwandtschaften« in völliger Reinheit, Unbefangenheit und daher mit letzter Tragik entwickeln. Nun müßte das Menschengeschlecht mit ihnen aussterben, falls nicht eine unter ihnen wäre, die guter Hoffnung ist. Doch dies trifft nicht zu. Aber es ist ein zwölfjähriger schöner Knabe, namens Phaon, mit gerettet worden, von dem nun die Erhaltung dieses von dem übrigen Menschengeschlecht abgeschnittenen Zweiges abhängt. Zweihundert Frauen und nur ein Mann. Zweihundert vollblütige Menschen im sinnlichen Überfluß, denn diese schiffbrüchigen Weiber haben alles Nötige und Überflüssige gerettet: Sie haben in ihren Kähnen nicht, nur Feuerzeug, Waffen, Kochgeschirr, sondern Pelze, Füllfedern, Papier, Taschentücher, Zigarren, Bordstühle und ein Büchelchen von Wilhelm Bölsche gerettet, worin der Schädel eines auf Java ausgegrabenen Menschenaffen abgebildet ist, damit man seine Ähnlichkeit mit dem ersten Menschen feststellen könne, der auf der Insel geboren wird. Alles haben diese guten Weiber gerettet, nur ihr Empfinden, ihre angeborenen, selbstverständlichen Instinkte haben sie bei dem Untergang ihres Schiffes verloren, oder der Dichter hat sie ihnen grausam genommen. So viel Frauen und kein Mann. Eine Komödie. So viel Frauen und kein Kind. Eine Tragödie. Keines von beiden erfüllt sich.

Alles Glück der Erde ist über dem Eiland ausgeschüttet. Was könnte fehlen, wenn Früchte im Überfluß, Bast, Matten, Kaffee, Nahrung aller Art, Geflügel und Wild, Zebukühe zum Reiten und alles andere ohne die geringste Arbeitsmühe vorhanden sind. Der unbeschreibliche Reiz, der von Robinson ausgeht, der alles improvisiert, alles entdeckt, alles mühsam pflanzt, erntet und sich erst im Papagei, dann im Eingeborenen »Freitag« eine Gesellschaft und Gemeinschaft aufbaut, scheint Hauptmann nicht verlockt zu haben. Die Frauen finden alles vor oder haben es mitgebracht, wie den Papagei, es beginnt ein Leben der Wohlzufriedenheit, um so mehr, als keine Frau, die Mutter Phaons ausgenommen, einem ihrer mit dem Schiff gesunkenen Angehörigen ernsthaft nachtrauert, indem sie von einem dieser Menschen erzählt. Selbst der wüste Abenteurer Robinson gedenkt der Seinen. Aber Hauptmann hat seltsamerweise auf alle Regungen der Menschlichkeit verzichtet. Es ist ein unorganischer Weiberhaufen, geschwätzig, seelisch dürr, gut gemästet, schön aufblühend und gut in Form, aber völlig leer.

Nun bleibt die Möglichkeit: um den schönen, halbreifen Knaben beginnen die Kämpfe der üppigen Witwen. Aber hier beginnt dem Dichter der Faden völlig zu entgleiten. Er weiß selbst nicht, wer Phaon ist: »Phaon stand nun im ersten Drittel des 15. Lebensjahres. Als Jüngling genommen, glich er noch vollkommen einem Knaben. Als Knabe genommen, erschien er bereits jünglingshaft. Phaon war schön, wie Rodberte richtig bemerkte.« Hier ist der ganze Roman. Jaja, nein nein. Phaons Mutter ist tot, die andern Weibsgesellen nennen sich Mutter und heilig! Sind das eine so wenig wie das andere. Sind überhaupt keine Frauen. Denn, wenn nun Phaon eine nach der anderen heimlich erobert und jede umschlingt, wenn er, um mit Ariadne zu reden, »wie ein Gott gegangen kommt«, wird es dann ein menschliches Herz verstehen, daß die durch diese Liebe beglückten Frauen dies Geheimnis des zeugenden Knaben streng im Busen verschließen, so daß nicht ein einziges Geständnis ihrer Amazonenbrust entfährt? Daß ferner diese Frauen einander den Knaben ohne die geringste Eifersucht gönnen? Daß sie, zum dritten, auf die männlichen Sprossen dieser Umarmungen verzichten und diese Knaben im Alter von fünf Jahren »satzungsgemäß« auf einen abgelegenen Teil der Insel verbannen und den jungen Vater dazu? Hier hört alle Vernunft auf, und das Einhorn tritt in seine Rechte. Das Einhorn wäre an sich keine üble Erscheinung. Denn wir wollen gerne glauben, wollen uns nur zu gerne bezaubern lassen gegen jede Vernunft. Aber glaubt der Dichter an dieses Einhorn, wenn er das arme Fabelwesen wörtlich mit einem Zitat aus dem »Nüchternen Herbert Spencer« motiviert. Ratlos und hilflos schwankt der Schöpfer dieser Gestalten zwischen Glauben und Schönheitsschilderung und einem ganz kraftlosen, altersmüden Spott, der um so betrübender dort wirkt, wo man die schärfste Lauge des Aristophanes herbeiwünscht. Was soll es, wenn bei der ersten Geburt eines neuen Bürgers auf der Insel sich eine Frau folgendermaßen ausläßt: »Und für sich könne sie es mit dem Einsatz ihres Lebens verbürgen, daß nämlich Babette (die junge Mutter) das reinste, makelloseste Geschöpf der Erde sei, über jeden Verdacht einer platten oder auch nur bewußten Buhlschaft hoch erhoben.« Dazu über jeder Seite des umfangreichen Buches ein, halb ernst, halb humoristisch gewähltes Schlagwort, wie es der gute Hartleben in seinen Novellen liebte, so über dieser Seite: »Das jungfräulichste Geschöpf«, über einer anderen: »Ein genialer Schimpanse?« oder »No, i kann a nix weiter sogn«, oder: »Halten Sie fest, ich bin nicht toll!«, oder »Sardanapal«, »Unter vier Augen«, »Kochtopf der Anachoreten« usw.

Hauptmann spitzt das nun außerordentlich verkünstelte Werk so zu, daß die verbannten Knaben mit Phaon sich gegen die Weiber auf dem andern Teil der Insel empören, gegen sie zu Felde ziehen und sie besiegen, wobei unter Brüdern und Schwestern neue Ehen geschlossen werden. Dem großen Problem, was der Mann Phaon erotisch für seine schönen Töchter empfindet, ist Hauptmann aus dem Weg gegangen, aber auch das hat er nicht folgerecht durchgeführt, er. berührt es immer wieder, löst es nie. Ungelöste Probleme sind vom Mythos weltenweit entfernt. Aus dem ungelösten, ja kaum von Hauptmann geistig erfaßten Problem der männerlosen Mutterschaft entwickelt sich in dem Buch alles eher als ein »Wunder«. Hier ist keine Spur von dem grandiosen Mythos der unbefleckten Empfängnis, des: den mystischen Marienkult und die Gotik geschaffen hat. Es bleibt bei Hauptmann nur ein schwacher, menschenfreundlich gutmütiger, geheimnisloser Witz. Am Ende des Romans sieht man Phaon mit seiner Tochter ratlos im Segelboot der Insel enteilen, nicht anders als im »Graf von Monte Christo« den Grafen mit seiner schönen Heydee.

Daß dem Dichter, dem unsere Verehrung treu bleibt, das Werk, an dem er seit vielen Jahren gearbeitet hat, bis zu einem solchen Maße von abseitiger, leerer, ja kindischer Darstellung mißlingen konnte, ist unbegreiflich, denn es stehen Schönheiten von besonderem Zauber in dem Buche, die ganze, nicht eigentlich tropische, sondern mehr südgriechische Atmosphäre, die unübertreffliche Beschreibung eines Wasserfalles oder der Terrassen am Meere mit den kochenden, kristallklaren Bädern. Schön sind auch einige eingestreute Gedichte. Das Gedankliche, das oft ganz unvermittelt ausgesponnen wird, ist, mitten in dem Wust von unmöglichen Tatsachen und seelenlosen Schemen, an vielen Stellen ganz herrlich klar und zwingend. Eine kosmische Vision zum Schluß kann nur ein Dichter geschrieben haben, und der Abschied Phaons von seinen Geschöpfen könnte eine unvergeßliche, ja unsterbliche Szene der Weltliteratur sein, wenn der Dichter sie wirklich gestaltet hätte.


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