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John Galsworthy, Schwanengesang

Mit diesem schönen, wehmütigen, etwas müden Buche gibt Galsworthy das Ende seiner groß angelegten »Forsyte Saga«. Es ist im wesentlichen die Geschichte einer Ehe. Fleur, die Gattin Michaels, findet ihren Jugendfreund Jon wieder, die alte Liebe flammt auf. Untreue und doch keine, Ehebruch und kein Bruch. Fleur selbst und was sie unmittelbar berührt, ist wie in dem »Weißen Affen« Galsworthys ein bezauberndes Wesen, ein Stück Natur, sie ist nicht Schöpfung des Dichters, sondern Schöpfung des unmittelbaren Lebens, eine Erinnerung an einen Menschen mitten unter Gestalten einer gepflegten Erzählungskunst, die in England das schildern und darstellen möchte, was Leo Tolstoi in Rußland dargestellt hat.

Galsworthy ist alles. Er ist ein Dichter, aber auch ein kluger Mann, ein zuverlässiger Schilderer von Zuständen, Landschaften, menschlichen Seelen, sozialen Bindungen, und vor allem ein tiefer Kenner dessen, was man die Eitelkeiten des Daseins nennt und was Thackeray in den ergreifendsten, heute noch unerreichten Szenen seines »Vanity fair« hingestellt hat. Aber welche Entfernung von Thackeray zu Galsworthy! Thackeray legt eine Figur breit hin, sie ist fertig und vollendet beim ersten Federstrich, beim ersten E des Wortes erstes Kapitel. Was er noch zu tun hat, besteht darin, daß er diese Grundfigur, in »Vanity fair« das unsterbliche, reizende, niederträchtige, entzückende Mädchen Rebecca Sharp vertieft, daß er in immer geheimnisvollere Schichten dieser nur scheinbar an der Oberfläche der Welt haftenden kleinen Bürger-Kokotte dringt. Ganz anders Galsworthy. Galsworthy beginnt und endet uninteressiert. Er fängt einen Augenblick ein. Mit der Spiegelreflexkamera einer vollendeten Technik bringt er hier einen Fetzen Gespräch, dort eine kleine Anekdote aus vergangenen Zeiten, hier eine Landschaft, dort ein Lächeln, ein Schweigen, eine winzige, aber alles aufhellende Nichtigkeit. Man sieht wie bei der Spiegelreflexkamera das Objekt noch im Augenblick der Aufnahme. Galsworthy ist unerschöpflich in kleinen, aber äußerst lebenswahren Erfindungen. Hier beherrscht er wahrhaft souverän die Fülle des Lebens. In diesem Sinne gibt es fast keinen toten Punkt in diesem umfangreichen Roman.

Trotzdem bleibt er niemals lange auf jenem Punkte, wo er die präzise Wirklichkeit gleichzeitig als letzte Gesetzmäßigkeit empfindet, wo Zufall und Bestimmung eins werden. In diesem Roman kommt er zwar manchmal so weit, aber es sind nur vereinzelte Szenen mitten in einem Gewirr von langweiligen, auseinanderfallenden, mit einer matten Ironie gestalteten Szenen – hier spricht eben nur der gepflegte Schriftsteller, dort aber der wahre Erkenner und Deuter des menschlichen Herzens. Wie sich das Dichterische mit dem Schriftstellerischen mischt, wie sich das Überflüssige mit dem Unvergeßlichen bindet, wird niemals ganz klar, oft glaubt man die Stelle in dem Romane zu sehen, wo er, vielleicht nach einem Tage Pause, wieder mit der Feder angesetzt hat. Was er als großer Dichter begonnen, führt er als feiner Schriftsteller, als gutartiger Ironiker fort.

Am wenigsten zeigt sich dieser Bruch bei der Heldin, bis auf den auch für sie gänzlich nichtssagenden Schluß (Schlüsse sind immer der wundeste Punkt der Romane, selbst »Anna Karenina« hat keinen befriedigenden, »Don Quichotte« zwei, das heißt keinen, und »Wilhelm Meister« keinen, das heißt Tausende nach Wahl). Am wenigsten zeigt sich dieser Bruch an der Heldin des Buches, an Fleur, und etwas von dieser inneren Einheit, dieser unzerbrechlichen Wahrheit hat auch ihr Gatte, Michael, die fleischgewordene Resignation, ein Mann aus Güte, Nachsicht, Klugheit, Diskretion und sonst nichts, ein Gentleman, der »nach fünfeinhalbjähriger Ehe eingesehen hat, er könne sicher sein, daß Fleur ihn seelisch gern habe, daß er ihr körperlich nicht widerstrebe und daß es das Vernünftigste von einem Mann sei, nichts mehr zu verlangen«. Das sind die Männer, deren Frauen man auf dem Reimannballe sieht. Es ist die Kehrseite der mondänen Welt, es ist das negative Bild der sozialen Verknüpfung, der materiellen Schichtung. Galsworthy hat den Ehrgeiz, auch diese Seiten des Europa von heute in seiner »Forsyte Saga« zu bringen. Hier, im »Schwanengesang«, wird von der Geburteneinschränkung, von dem Generalstreik von 1926, der Kohlenförderung, von der Sanierung gewisser Elendsviertel Londons gesprochen, eine Idealfigur eines in seiner Ehe glücklichen, werktätigen Pfarrers namens Hilary aufgestellt. Aber ganz echt muß das Interesse des Dichters auch hier nicht sein, es bleibt bei »Typen«, bei Diskussionen. Wie hätte der alte Phantast Balzac hier geschwelgt! Weder das soziale Hilfswerk, die Rettung der Slums, noch die Geburteneinschränkung, tatsächlich zwei vitale Probleme der Massenmenschheit von heute, werden bei dem klugen, aber teilnahmslosen Galsworthy lebendig.

Der Vater Fleurs, Soames, der die Fäden führen sollte, da er durch sein Alter, durch seine überragende Intelligenz und durch seine geschlossene Persönlichkeit über den Dingen steht, kommt über eine tatenlose Verhaltenheit nicht heraus. Rührend ist er freilich und gewiß auch, wenigstens in seinem Verhältnis zu Fleur und Michael, echt. Einmal sprechen der Schwiegersohn und der Schwiegervater über ein Aquarell »Die goldenen Früchte« (auf banale Symbole kann Galsworthy nie verzichten). Der Schwiegersohn meint: »›Ja, Sir, das Bild ist wirklich ganz gut, nicht wahr? Ich wollte, Fleur würde sich ernstlich mit Aquarellmalerei beschäftigen.‹ Soames stutzte. ›Ich wollte, sie würde sich mit was immer ernstlich beschäftigen, um ihre Gedanken abzulenken.‹ Michael sah ihn an. Beinahe wie ein Hund, der sich bemüht, einen zu verstehen, dachte Soames ... So geht das nicht, sie hat dich wirklich lieb. Es ist nur ihre fieberhafte Unruhe, wenn es überhaupt etwas ist. Trag es wie ein Mann und bleibe ruhig!« So ist es; so und nicht anders spielen sich die Dinge im gehobenen Bürgerstande Berlins, Paris', Londons ab, in ganz Europa, soweit noch Reste von Tradition da sind, soweit gute Manieren und geordnete politische und Geldverhältnisse bestehen. Zu dieser Ordnung gehört eben auch die Ehe, nicht die Liebe. Liebe vergeht, Ehe besteht. Selbst eine gute, das heißt innerlich notwendige Liebe kann sich unter dem Druck der jeder Leidenschaft notwendigerweise abgewandten bürgerlichen Gesellschaft nicht auf die Dauer halten. Ehebruch ist immer so wie hier eine Sache von Tagen, höchstens Monaten, freilich in diesen Tagen und Monaten die notwendige Erfüllung des immanenten, eigentlichen, wahrsten Wesens der Ehebrechenden. In der Wahl des Ehebrechers und der Ehebrecherin offenbart sich das innere Wesen, die Bestimmung, die Unersetzlichkeit des Individuums, genannt das Schicksal – aber nicht das soziale Element, das Städte baut und das nicht auf Vollendung durch Leidenschaften, sondern auf Erneuerung durch die Kinder, den Nachwuchs angewiesen ist.

Nicht der melodramatische Schluß dieses Romans, nicht das in der Gemäldegalerie des Vaters von Fleur ausbrechende Feuer ist es, das bestimmend, entscheidend wirkt, als Schlußpunkt hinter »Forsyte Saga«, auch nicht der Ehebruch, sondern eben die Beständigkeit, die Dauer, die Bewährung einer unechten Ehe gegenüber einer echten Liebe. Hier hat Galsworthy etwas erreicht, was er vielleicht nicht angestrebt hat. Er wollte die soziologischen Zwischenstufen, die zum Untergang verurteilt sind, wie es Thomas Mann in den »Buddenbrooks« getan hat, darstellen. Den Mittelstand zwischen Proletariat und Großgrundbesitz, das alte Vermögen zwischen Großindustrie, Mammonismus. Geblieben ist davon, in diesem Buche wenigstens, nur die Geschichte zweier, das ist dreier Menschen. Aus einem »Vielleicht« wird ein »Nein«. Zwei Menschen, die sich »alles« sein können, leben, eine halbe Meile voneinander entfernt und sind nun auf immer, irreparabel geschieden. Was bleibt? Jon hat von seiner ungeliebten Frau ein Kind. Fleur hat es von ihrem ungeliebten Mann ... Noch einmal die Lose zurück in die rotierende Lotteriemaschine, unsichtbare Gewalten treiben sie, ein Mensch mit verbundenen Augen greift hinein. Ungerechtigkeit, Sinnlosigkeit? Nur ein Augenblick. Vielleicht, daß sich alles ausgleicht, in späteren, einfacheren Generationen sich versöhnt, in einer weniger verlangenden, mehr erlangenden.


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