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Theodore Dreiser, Das Buch über mich selbst

Der Verlag Paul Zsolnay in Wien, dem wir auch die deutsche Ausgabe des mit Recht berühmten grandiosen Romans »Amerikanische Tragödie« verdanken, läßt nun den ersten Band einer Selbstbiographie Dreisers erscheinen: »Das Buch über mich selbst (Jugend)«. Es sind die ersten zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre, die er auf über sechshundert Seiten schildert. »Ich weiß«, leitet er seine Lebensbeschreibung ein, »daß der gewöhnliche Sterbliche häufig große Scheu empfindet, das Gewebe von Begierden, Gefühlen und Beziehungen, in das er hineingestellt wurde und das seine ersten Bestrebungen, oft auch seinen nachmaligen Platz im Leben bestimmt, zu entschleiern. Ich aber will sogleich sagen, daß ich mich durch derlei Gedanken und Empfindungen nicht gehemmt fühle. Wer sich so sehr vor dem Leben fürchtet und innerlich so wenig gefestigt ist, daß er vor Angst fast stirbt, weil am Ende jemand erfahren könnte, daß sein Onkel ein Pferdedieb, seine Schwester eine Dirne oder sein Vater ein Bankerotteur war, der tut mir zwar leid, aber ich kann seinen Standpunkt nicht teilen.«

In diesen Sätzen, die bereits ganz charakteristisch sind für Dreisers Stil, nämlich für seine mannhafte Gedrungenheit und für seine an Meistern der Naturwissenschaft geschulte Voraussetzungslosigkeit, in diesen wenigen Zeilen des ungeheuer breit angelegten Buches hat Dreiser schon sein Wesentliches umrissen: Eines Gefährdeten Geschichte zu schreiben, das ist seine Aufgabe. Ohne Zynismus, aber auch ohne Scham hat es zu geschehen. Also nicht etwa eine Vita, wie die Julius Cäsars, Benvenuto Cellinis oder Goethes, will er geben. Kein klassischer Bericht eines klassischen Menschen erwartet uns, sondern eine romantische Beichte eines Toren, die Beichte eines verlorenen Sohnes der Gesellschaft, der sich nur mit der gewaltigsten, respektabelsten Anspannung aller positiven Eigenkräfte auf sich selbst besinnt, auf das Bessere, das nichtanimalische Teil seiner selbst.

Und der in diesem gewaltigen, respektablen Anspannen sein Werk entdeckt, seine Lebensaufgabe, sein irdisches Ziel, seine moralische Rechtfertigung. Ein Mann ohne Grundsätze, ja, ein Mann ohne Eigenschaften, eine Type Jean Jacques, in keinem Sattel ganz gerecht, mit keinem Wasser ganz rein gewaschen – und trotzdem einer von denen, die die Welt nach ihrer Art vorwärtsbringen.

Jeder Mann dieser Art ist bis zu einem gewissen Grade ein Findling, ein erratischer Block. Da er sich im Gegensatz, ich möchte sagen, in einer biologischen Dialektik gegen seine Umwelt entwickelt, wird er nie an einem Orte zu Hause sein, er wird vagabundieren, die großen Reisen werden ihn immer locken, weil es seine Bestimmung ist, kein festgegründetes Haus zu haben.

Schon die ersten Jugendjahre dieses Dreiser (ebenso wie des um soviel größeren Rousseau) sind ein unaufhörliches Übersiedeln. Kaum zwei oder drei Jahre, die Dreiser am selben Orte verlebt, in der gleichen Schule verbringt. Der Vater – ein aus Deutschland eingewanderter gewissensstrenger Katholik, ein starrer, engherziger Puritaner, ein stets verunglückender Spekulant. Schlechter Menschenkenner und noch schlechterer Menschenbehandler, ein übler Erziehungsdilettant, der durch Tyrannei ersetzt, was ihm, dem schizothymen, umweltfremden, seelendürren Mann an Einfühlungskraft in Frau und Kinder fehlt. Die Mutter, aus Mähren stammend, eine Slawin vielleicht, ebenso in die Breite gehend wie der Vater knorrenhaft in die Höhe, eine Frau, die lebt und leben läßt, Frau und Mutter ohne Fehl und Makel, auch durch die bitterste Not nie zu erdrücken, nie zu verbittern, selbst durch die giftigsten Ungerechtigkeiten des Lebens – sie ist nichts als eitel Liebe, Sanftmut, Heiterkeit im Elend, Humor, Selbstaufopferung. Nicht Selbstaufopferung aus dem Imperativ des Ideals – sondern Selbstaufopferung, weil sie ihr eigenes Selbst ohne die geringste Mühe mit dem Leben ihrer Angehörigen verschmilzt, sie ist wahrhaftig mit ihnen ein Fleisch und ein Blut, eine Seele und ein Geist geworden. Und deshalb hilft sie immer, bis sie stirbt.

Hier beginnt schon eines von den verschiedenen Exempeln »biologischer Dialektik«: in diesem Erben eines solchen Vaters, in diesem Sohne einer solchen Mutter. Wie gefährlich und fruchtbar zugleich dieser biologische Gegensatz dieses Elternpaares ist, erkennt man aus den Biographien der Geschwister Theodore Dreisers, unter denen sich in der Gestalt Romes ein Zuchthäusler befindet. Andere Geschwister sind künstlerisch begabt, einer ist ein bekannter Chansondichter und Vaudeville-Schauspieler, die Schwestern sind alle schön, sinnlich und, mit Ausnahme einer einzigen, »leicht«. Aber sie sind nicht so »leicht«, daß sie den Boden der Bürgerlichkeit ganz unter den Füßen verlieren. Will ihnen das Schicksal wohl, das heißt, können sie in der Nähe dieser gesegneten, gütevollen, nur viel zu gütevollen Mutter leben, bringt sie das Schicksalsrad immer wieder nach oben, die Familie, schon durch ihren Kinderreichtum ihre starke biologische Potenz bekundend, strebt unaufhaltsam ins bürgerlich Breite, in den Wohlstand, die hausbesitzende Ruhe, die gesättigte Wirtschaft der Bourgeoisie, sie entwickelt sich vom Träumen zum Besitz, aus der sittlichen Gefährdung zur hochaktiven Leistung.

Theodore, einer von den zehn Geschwistern, entwickelt sich vom Träumen zum Schaffen. Er ist ein schlechter, oder besser gesagt, ein schwacher Schüler, ein großer Leser, ein des Lebens nie satt werdender, bewundernder Beobachter der freien Natur, ein Biologe schon als Kind, ein Mann des Schauens, des intuitiven Erlebens, für den es keine Grenze gibt zwischen dem Reich der Phantasie und dem der Wirklichkeit. »Schreiben war leicht und lesen herrlich!« sagt er einmal von sich. Hier ist bereits die zweite biologische Antithese, ein traumseliger Hans im Glück, der aber dann wieder ganz unverträumt auf die Arbeitssuche geht, um der in Hungersorgen bedrängten Mutter beizustehen, ein kleiner, mutiger Soldat des Lebens, der sich den groben, abgerackerten Bauern auf dem Lande verdingt und der, von der Arbeit im buchstäblichsten Sinne (wie später einmal der ähnlich geartete Jack London) zerquetscht, atemlos vor Müdigkeit, unfähig zu einem Wort, zu Muttern zurückkehrt. Aber wozu braucht es Worte? Diese Mutter begreift alles, sie nimmt den Mißerfolg des Sohnes auf sich, sie weiß sofort aufzurichten, was die soziale Unordnung der damaligen Gesellschaft, die unter Arbeitslosigkeit schwer zu leiden hatte, verschuldet hatte. Sie ist eine Haushälterin, sie »hält« das Haus. Und ihr Sohn Theodore ist nicht arbeitsscheu wie sein vom Wandertrieb umhergejagter Bruder Rome, er ist nur nicht bürgerlich arbeitsfähig unter den damaligen Bedingungen der amerikanischen Gesellschaft.

Eine dritte und vielleicht die wichtigste biologische Dialektik besteht, wie man hier mit rousseauhafter Offenheit erfährt, im Sexuellen. Theodore Dreiser ist ein krankhaft schüchterner Mensch, der sich keine Eroberung zutraut, der nicht an sich glaubt, der sich keine Frau vorstellen kann, der er, und gerade nur er, als Unersetzlicher (oder wie das alte banale Kosewort verliebter Mädchen lautet: Süßer, Einziger!) die Süßigkeit des Lebens als Einziger geben kann. Keine Tatsachenwirklichkeit kann ihn belehren, der Verstand mag ihn noch so sehr aufpulvern, das Gefühl, das nichts als seinen Unwert durchbohrende, duckt ihn nieder. Er weiß sich mit schlemihlhafter Genialität immer an den Platz zu stellen, wo er nicht gewürdigt werden kann, er ist also stets auf der Schattenseite zu finden.

Diese passive Haltung, diese Sehnsucht nach Verehrenkönnen, nach dem Sichbeugen und Anbeten, findet sich bei vielen Männern aus allen Geistesschichten. Tragisch oder – im Falle der Rettung – produktiv wird aber dieses abnorme Liebesvermögen erst dann, wenn auch eine aktive Tätigkeit, der Elan an das Leben und an die Frau heran das Durchschnittsmaß des genußsüchtigen Kleinbürgers weit übertrifft. Rousseau hatte es. Und dieser Theodore Dreiser hat es. Er hat es bis zum Verbrechen: »Nehmen wir an«, sagt er, »mein Blut sei gut oder schlecht gemischt. Aber infolgedessen habe ich vom Kopf bis zur Ferse gebebt, denn der Anblick der weiblichen Gestalt hat mich bis zum Einbruch in Familien, zur Vernichtung fremden Glücks, zu Lügen, Verführung und allem möglichen anderen verleitet. Kurz, deshalb habe ich angebetet, bis ich Befriedigung empfand, bis diese Befriedigung manchmal zu Übersättigung, ja zu Abscheu wurde und mit Flucht endete ...« Mit Flucht endete? Nein, mit Arbeit! Mit dem Werk! Mit der »Amerikanischen Tragödie«, bis zur monumentalen Verewigung dieses unlösbaren Konflikts eines panerotischen Herzens mit einem wissenschaftlich gebändigten Intellekt.

Diese Partie seines Lebens verspricht uns Dreiser für den nächsten Band. Man kann ihn, wenn er das Niveau des ersten hat, nur mit freudiger Spannung erwarten. Zum Schluß ein Wort des Lobes für die Übersetzerin: Marianne Schön. Der spröde Stil des Autodidakten und eigenwilligen Stilisten Dreiser ist in einer außerordentlich schönen und einfühlenden Übertragung in die deutsche Sprache übergegangen.


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