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Thomas Mann, Mario und der Zauberer

Dem grandios angelegten, in seiner Art bis jetzt unerreichten »Zauberberg« soll in ähnlichen Riesenausmaßen ein biblischer Roman »Josef« folgen. Zwischen diese beiden Werke fallen Arbeiten kleineren Umfangs, die aber deshalb nicht von geringerer Bedeutung sein müssen. Denn das Format ist nicht der in Zentimetern meßbare Rahmen eines Bildes, nicht die Seitenzahl eines Buches, sondern deren innere Spannung und Lösung, der wirksame Gehalt, das Neue, Erschütternde, das Bewegende.

In einer dieser kleinen Arbeiten, »Unordnung und frühes Leid«, hatten wir eine bewunderungswürdige Erzählung. Fein ziseliert, aber unbeirrbar kräftig, wuchs sie aus dem rein Persönlichen ins allgemein Menschliche; mühelos, mit Notwendigkeit. An diese Prosaskizze knüpft das »tragische Reiseerlebnis« an, wie der Untertitel der neuen Erzählung Thomas Manns lautet. Hier wie dort persönliche Erlebnisse. In »Mario und der Zauberer« besonders intim gefärbt durch die Erzählungsform, die sich an einen dem Autor bekannten Leser zu wenden scheint und ihn ab und zu mit »Sie« anredet. »Ich halte Ihnen keinen Vortrag«, sagt Thomas Mann an einer Stelle, »aber in der ganzen Welt hat sich das Verhalten zum Körper und seiner Nacktheit während der letzten Jahrzehnte grundsätzlich und das Gefühl bestimmend gewandelt.« Hier endet ein reizendes Feuilleton über ein norditalienisches Seebad, und es beginnt das Problem des Buches: Freiheit.

Der Erzähler und seine Angehörigen haben Anstoß erregt im faschistischen Italien, ein weibliches Wesen ist »zu frei gewesen«. Ein üppiger, die Sinnlichkeit der Masse aufstachelnder Frauenkörper? Keineswegs. Es ist etwas viel Zarteres, Winzigeres, was die moralische Würde des sittlich neu auferstandenen Italien verletzt hat. Es ist nur das (von »Unordnung und frühes Leid« her unvergeßbare) kleine Töchterchen des Erzählers, »achtjährig, aber nach ihrer Entwicklung ein gutes Jahr jünger einzuschätzen, und mager wie ein Spatz«. Eine Sekunde lang hat das arme, kränkliche Wurm gewagt, das nasse Badetrikot abzustreifen, und schon hat es Anstoß erregt im Paradies der patriotischen Kinder – denn schon die Kinder sind im neuen Italien einorganisiert in eine militärisch gedrillte Organisation und den Vierjährigen werden die Schwarzhemden ebenso prompt angemessen wie den Vierzigjährigen. Das liegt in der Natur der Sache? SACHE? Nein, eine geistige Bewegung ist es, die ein großes Volk bis ins letzte absorbiert hat und die für Europa von der äußersten Wichtigkeit ist.

Es wird nun mit wahrhaft souveräner Hand, nämlich mit einem Nichts an Farbe und Kontur die faschistische Haltung, dieser schauder- und lustvolle Seelen- und Körperkrampf geschildert, der nicht einen einzelnen, etwa unter dem Einfluß eines Hypnotiseurs, sondern ein ganzes Volk unter der Wirkung eines Führers beherrscht. Massenwahn, Massenwahrheit, Massentrug. Überpatriotismus, ein ins Religiöse sich versteigendes Nationalgefühl, Selbstvergottung, neuer Götzendienst am eigenen Altar. Gott und Gottesanbeter zugleich ist diese Nation. Der einzelne vermag sich kaum von außen hereinzuleben. Schon der »Patriotismus« deutet ja auf die Reihe der Ahnen, auf die Wirkung des Abgelebten, das erneuert wird, jeder praktischen Forderung des Tages entrückt. Anbetend religiöses Menschenopfer. Vertilgung der Freiheit. Irrationales Leben über dem Geiste – gegen den Geist.

Das alles in einer keine 150 Seiten starken Erzählung Thomas Manns, in einer niedlichen, von Meid reizend illustrierten Ausgabe sich dem Blick des Lesers darbietend? Und doch ist es so.

Im Lande der allgemeinen Willenlosigkeit, im totenstillen Sklavenhause des menschlichen Masochismus erscheint ein Meistersadist der Seelen. Zauberer im Willenzerbrechen. Selbstbehauptung bis zum Exzeß. Sich selbst und die kleinste Regung seines Willens behauptet dieser Herr der Geister: der Wachsuggestionist Cavaliere Cipolla.

Er gibt eine Vorstellung, aber in mehr als einem Sinn wird sie Wahrheit. Er läßt alle Gäste zahlen und pünktlich erscheinen, kommt aber selbst zu spät. Und dann steht er da. Nonchalant. Schamlos häßlich. Dennoch bezaubernd. Verlottert, verschlampt. Dennoch konzentriert. Gesammelt, auf der Höhe seiner selbst. So lümmelt er auf dem Podium zwischen Zigarette und Kognakglas, umschlottert von einem schäbigen Radmantel, bewehrt nur mit einem kleinen Peitschlein mit klauenartigem silbernem Griff – und bewehrt mit dem unerschütterlichen Bewußtsein, der Masse überlegen zu sein. Überlegen durch besondere Geisteskraft? Nein, nur durch den starren Willen – und vor allem durch die innerste Zugehörigkeit zu der Masse als solcher. Nur weil er Blut von ihrem Blute ist, dieser Cipolla, weiß er ihr zu schmeicheln. Er weiß alles so zu drehen, daß diese Masse glauben kann und glauben muß, auch sie, jeder einzelne unter Hunderten wie unter Hunderttausenden, habe teil an dem glücklich machenden Triumph des stärkeren Willens über einen schwächeren.

Jeder Zuhörer, so willenlos er an sich ist, glaubt mit dem großen Bataillonsführer zu führen, an der Spitze der stärkeren Bataillone zu stehen, auf denen angeblich der Segen der Götter ruht: Immer ist die Masse der Frösche auf der Suche nach ihrem Storchkönig, und hier, in diesem Zauberer, hat sie ihn gefunden, ihren Herrn und Meister. Wie läßt er, Übermussolini, seine Opfer lustig nach seiner Pfeife tanzen! Musterexemplare »prompter Entseelung und Willenlosigkeit« drehen sich im Kreise, glücklich in ihrer Erniedrigung, den andern armen Narren Anlaß zu Lachen und Spott.

Aber es gibt auch andere, Mario zum Beispiel. Aber ist er ein »Beispiel« gegen das System Cipolla? Man errät es nicht, und der Dichter verrät es nicht. An Mario zerbricht der Zauberer Cipolla. Mario hat sich zwar das Entwürdigendste still gefallen lassen, krampfhaft lachend muß er sich sein Heiligstes, sein Gefühl, in den Dreck ziehen lassen. Aber als er aus der Verneblung, der Verhexung herausgelassen wird (die andern Opfer tanzen noch ununterbrochen ihren Narrentanz weiter), da rächt er sich, zieht einen Revolver, schießt, mordet. Meisterschuß. Ja, ist es denn sicher, daß er in diesem Augenblicke bereits wieder Meister seiner selbst geworden ist? Oder ist dieser Mord nicht vielmehr Selbstmord des längst todesreifen Cipolla? Überdruß war dieser fragwürdigen Persönlichkeit von Anfang an eigen. Überdruß am eigenen Besitz, Ekel über das Wirkliche, Neid, allgemeine Welt- und Lebensunzufriedenheit. Diese neronische Übermacht wurde – nicht anders als bei Nero selbst – aus Langeweile geboren.

Ja, dieser schauerliche, dieser in seiner Verlogenheit wahre Mensch ist eine echte Erscheinungsform des im Jahre 1930 führenden Geistes. Aus dem kleinen Büchlein des Thomas Mann springt er heraus, leider nur zu flüchtig. Kaum hat er uns mit seinen falschen, aber beherrschenden, klugen, gierigen Augen angesehen, kaum hat er uns am schwächsten Punkt unserer Existenz gepackt, wie der Teufel am Rockzipfel, nämlich an unsern dummen Eitelkeiten – da ist er schon verschwunden. Ein Knall, ein übler Duft, und fort ist er. Wir bedauern es. Vielleicht ist nie Thomas Mann einem großen, die Gegenwart deutenden Geheimnis so nahe gewesen wie hier.


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