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Heinrich Mann, Die große Sache

Der in den letzten Jahren sehr rührig gewordene Verlag Kiepenheuer in Berlin, der sich mit besonderer Liebe und Treue die fördernde Pflege der jüngeren Generation, also der etwa Dreißig- bis Vierzigjährigen, angelegen sein läßt, bringt jetzt einen großen umfangreichen Roman von einem der wenigen, überragenden älteren Meister der deutschen Epik heraus, das letzte Werk desselben Heinrich Mann, dem wir die große Trilogie der »Herzogin von Assy«, »Die Jagd nach Liebe«, »Professor Unrat«, »Zwischen den Rassen«, »Die kleine Stadt«, »Flöten und Dolche« verdanken.

Und den »Untertan«, ein Buch von unheimlicher, geradezu hellseherischer Erkenntnis der politischen Gegebenheiten im alten Deutschen Reich. Wobei »Gegebenheiten« das Ineinanderwirken von seelischen Charakteranlagen und sozialen Rangordnungen bedeuten sollen.

Bedeuten werden. Bloß ein flüchtiger Blick in das alte, aber nie veraltende hinreißende Buch, und schon steigt über die Vergänglichkeit von Dynastien das Unvergängliche eines typisch gezeichneten Charakters empor. Das ewig Sulbalterne im Menschen, wie es Mann im »Untertan« mit unwiderstehlicher Kraft (der Liebe und des Hasses zugleich) wiedergibt, ist dann nicht mehr rein deutsch. Der brutale Absatz, der über dem runden Köpfchen des geduckten Untertanen seinen Schmutz abwischt, braucht nicht mehr einer Dynastie anzugehören, die inzwischen vom Schauplatz ihres historischen Seins abgetreten ist; er gehört zu der herrschenden Macht im allgemeinen europäischen Sinne. Das heißt: Werke wie »Der Untertan« werden bleiben, sie werden so lange noch gültig sein, solange das gegenwärtige Gefüge des europäischen Charakters aufrecht bleibt. Das heißt also, vorläufig auf unabsehbare Zeit.

Wenn man Heinrich Mann von dieser Seite sieht, steht er ganz unerreichbar, er ist sozusagen der einzige Vertreter seiner Sonderklasse. Man kann ihn nur an sich selbst messen, und das will ich auch tun, wenn ich sein neues Buch, »Die große Sache«, als Einzelwerk eines überragenden Dichters und Zeitkritikers betrachte. Worum geht es nun in dem umfangreichen, mit virtuosen Mitteln geschriebenen Werke? Um die Verwertung einer Erfindung, die ein alter Idealist, der Oberingenieur Birk, Vater von Margo, Inge und einigen jüngeren Kindern, in aller Heimlichkeit gemacht hat. Über den Wert dieser Erfindung hört man phantastische Gerüchte. Niemand, außer dem stillen, infolge eines Betriebsunfalls bettlägerigen Birk, hat zwar dies Sprengmittel »von unerhörter Brisanz« wirklich und wahrhaftig vor Augen gehabt, niemand außer ihm hat es analysiert und auf die Leistung abgeschätzt. Die Erfindung fällt noch dazu aus dem Arbeitsrahmen des verdienstvollen Ingenieurs, dessen geniale Begabung dahin zielt, Eisenbahnbrücken von 42 m Höhe zu bauen, den man aber niemals im chemischen Laboratorium an der Arbeit sieht und dem diese Erfindung als Gnade des Himmels zugefallen sein muß. Aber wir glauben sie dem Dichter als Voraussetzung und folgen ihm gerne, auch wenn er sich zu einer Schätzung von nicht weniger als 40 Millionen M für diese »Bombe« versteigt, die inzwischen sich in der Rocktasche von Birks Schwiegersohn Emanuel befindet, als dieser ausgeht, um sie in Gold zu verwandeln. Bei diesem Beginnen fangen bereits die Konflikte an. Die Erfindung ist gemacht worden in den Arbeitsräumen eines großen Konzerns, den ein sagenhafter Generaldirektor, »Karl der Große« genannt, beherrscht. Gehört sie also dem kapitalistischen Kollektiv, dem Konzern oder dem halb proletarischen Individuum, dem Erfinder und dessen Familie? Kaum sind diese Fragen aufgeworfen, als sich ein Dritter meldet, um nach tausend andern unredlichen Gewinnen auch diesen Gewinn an sich zu raffen, auf welche Weise immer.

Denn, wie immer die Rechtslage sei, dieser Dritte, Karl August Schattich, Dr., Reichskanzler a.D., Direktor des Konzerns, hat nicht den mindesten, ehrlich zu begründenden Anspruch auf die Ausbeutung der problematischen Sprengstofferfindung. Aber schon werden vor ihm alle Hebel auf volle Fahrt umgelegt, die Motoren werden auf höchste Touren gebracht. Es setzt eine rasante Hetzjagd auf diese Erfindung ein, deren ohne Unterlaß und ohne Motivierung wechselnde Phasen auch nur annähernd zu entwirren, ein detektivisches Genie erfordern würde. Ein Treiben, Jagen, Intrigieren, Mine und Kontermine, Explosion auf Explosion. Wobei an Wahrscheinlichkeit und Lebensechtheit, man muß es leider sagen, ebensoviel verlorengeht als die Geschichte an Abenteuerlichkeit, an äußerer brutaler Spannung gewinnt – oder nur gewinnen möchte. Ein Wildwestroman. Wie anders soll man es nennen, wenn zum Beispiel ein schwachsinniger Mensch aus dem Sportpalast, Mulle genannt, der immer das Kernwort »Wanze« im Munde trägt, von der Frau Schattichs aus Niedertracht und aus Neid gegen den erfolgreichen Gatten zum Morde an dem ehemaligen Mitglied der Regierung gedungen wird. Man weiß nicht, ist es freiwillige Komik oder unfreiwillige, wenn dieses Geschöpf Mulle dem gewesenen Reichskanzler in dessen Wohnung auflauert, ihn mit einem langen Messer bedroht, von dem ebenfalls bösartigen, rachegierigen Portier Sukkurs von rückwärts erhält und sie nun beide den großen Herrn in den Monbijoupark hinausjagen, der eine Mensch mit dem Messer, der andere mit Erpressungsmanövern drohend. Und dabei hat sich der üble Schattich bereits im Geiste gewandelt, aus einem Saulus ist er eben, von einem andern Schieber übertölpelt und geprellt, zum Paulus geworden: »Hier und jetzt beschloß er, in Sachen der Erfindung sich ganz und gar umzustellen und fortan anständig, ja christlich zu handeln. Er empfand die aufrichtige Neigung, seinem alten Freunde Birk den vollen Wert der Erfindung einzugestehen und ihren Ertrag redlich, ja sogar einfältig mit ihm zu teilen.« Ist es Ironie? Der zuckersüße Schluß, ist er eine groteske Karikatur im Sinne Daumiers? Oder soll es doch ernst sein? Wahrhaftig, der reitende Bote aus der »Dreigroschenoper« taucht in Gestalt eines Depeschenboten auf mit der Beförderung aller Familienmitglieder durch »Karl den Großen«. Denn dieser Grande aus der Industrie war es, dessen Privatflugzeug die mutige Tochter Birks, Margo, in Pilotenuniform verkleidet, heimlich durch die Lüfte nach Berlin-Tempelhof gesteuert hat, um mit ihrem ahnungslosen Fluggaste wider Willen (denn er hätte sich den Flugkenntnissen der Frau niemals anvertraut) wichtige Eröffnungen auszutauschen. Aber was ist dieses Abenteuer gegen die Abenteuer ihrer schönen Schwester, die sich als Nackttänzerin zur Generalversammlung des Schattichschen Konzerns einfindet, um in aller Unschuld die Nachtischgespräche der hohen Herren über »die große Sache« zu belauschen? Solcher Eifer kann nicht ohne Erfolg bleiben.

So muß sich alles in Wohlgefallen auflösen: »Gut gemacht«, sagt der alte Vater Birk auf seinem Sterbebette, »gut gemacht, Liebling! Vielen Dank, mein Lieblingskind! Das konnten wir alle brauchen. Jeder hat das Seine bekommen, dank deinem Mut und deinem reinen Sinn – jeder, worauf er irgend Anspruch hatte, und noch mehr. Ich werde in die unmittelbare Nähe unseres höchsten Chefs versetzt, das hätte ich nie erwartet.« Dies gesagt, schließt er seine Augen und geht in Frieden in den Himmel der anständigen Leute ein.

Schattich ist eine weniger schöngefärbte, er ist eine wahrscheinlichere Gestalt. Aber ist es darum wahr? Er hat Züge, die historisch sind. Es soll einen Reichskanzler der deutschen Republik gegeben haben, auf den möglicherweise die eine oder andere Anspielung paßt. Die grotesken Anspielungen sind deutlich. Eine um so größere Verantwortung übernimmt ein Dichter, der Tatsachen und Wirklichkeit aus der Historie des Tages entlehnt.

Der Dichter des »Untertan« ging der Historie hellseherisch voran. Bedeutend. Deutend. Dasselbe wird man von dem Gestalter der »Großen Sache« nicht sagen können. Man kann nur hoffen, daß eine so grandiose, trotz allem unverwüstliche Erzählungs- und Gestaltungskraft wie die eines Heinrich Mann sich wieder findet. Uns findet er immer wieder als die Bewunderer seiner großen Sache von einst.


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