Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Thomas Mann, der Zauberberg

Die deutsche Nation ist um ein episches Meisterwerk reicher. Thomas Mann legt uns in seinem Buche »Der Zauberberg« eine Arbeit vor, das Ergebnis langjähriger Mühe offenbar, das man, ohne der Majestät Goethes nahezutreten, mit dem »Wilhelm Meister« in einem Atem nennen kann. Es ist, wenngleich das Thema das gleiche ist wie in Goethes Roman, kein zweiter »Wilhelm Meister«, aber, gemessen an der herrlichsten, sichersten Darstellungskunst, an dem reichsten geistigen Gehalte, wird das Buch Thomas Manns seinen Wert nicht allzuweit hinter Goethe stets behalten; nicht nur durch das, was es ist, sondern auch dadurch, was es uns bedeutet. In seinem kleinen Vorwort spricht der Dichter von seinem Helden, den er einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen nennt, er charakterisiert die Linie der Darstellung so: »Die Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen«. Hier unterschätzt sich der Dichter. Sein »Zauberberg« ist und wirkt lebendiger als sonst ein literarisches Erzeugnis der letzten zehn Jahre, der »Zauberberg« ist aktuell im stärksten Maße, und damit wird ein Teil des Interesses, ja der Lesewut erklärt, die den Leser durch die zwei außerordentlich umfangreichen Bände dieses Buches treibt. Auch wenn, in Diskussionen .freilich mehr als in Erlebnissen, sich fast alle Probleme von 1914 bis 1923 in dem Werke aufrollen, Christentum, Heidentum, Judentum, Fleisch oder Geist, Rom oder Voltaire, Schauen oder Leben, Spiritismus und Nihilismus, Sozialismus oder Jesuitentum (in der feinsten Abstraktion), und vor allem Relativitätsproblem und Zeitbegriff, Schmerz, Leiden und Sterben, auch wenn diese in klarster Form vorgetragenen, ganz erleuchtet erfaßten Geisteskämpfe fehlten, auch dann würde das Buch zum Spiegel seiner Zeit und seines Volkes, fast wie Goethes »Wilhelm Meister«. Denn es ist der chaotische Bürger, um den es geht. Im wahrsten Sinne des Wortes geht es um ihn. Alles bewegt ihn, aber nichts bringt ihn aus der Ruhe. Er erlebt alles, und nichts ist ihm bestimmt: Und wenn der Mensch dieses Buches, Hans Castorp, zum Schlusse gewandelt ist, wissen wir nicht, ist er gesünder geworden oder nur schmerzgewohnter, ist er weiser geworden oder bloß älter. Ein junger Mann kommt auf den Zauberberg, die große Heilungs- und Sterbestätte der Lungenkranken, er hält sich für gesund, sein Besuch gilt einem lieben Vetter und Freund, der das militärische Element, das aristokratische vertritt, wie er, Hans Castorp das zivile, demokratische, edelbürgerliche.

Aber der Held erweist sich dem Zauberberg nicht gewachsen oder vielmehr nur zu sehr gewachsen, er ist krank wie alle anderen Gäste des Bergsanatoriums, er findet den Weg nicht zurück. Oder er findet den Weg nur in den Untergang, in den Weltkrieg, der flüchtig visionär den Abschluß des Buches, aber nicht den Abschluß der Lebensexistenz bildet. Hans Castorp kehrt, wenn er nach mühseliger, sieben Jahre langer Kurbehandlung sich in den Schützengraben widerstandslos stürzt, nur in sein eigentliches Element, in das chaotische zurück. Denn diese Seele, von außen gesehen, simpel, banal, alltäglich, hat es in sich. Sie bietet sich allem dar, was ist, und da die Summa summae unserer Zeit Chaos ist, da die Epoche eben zu groß für unsere Persönlichkeit ist, da die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in ihrer stumpfen Prägnanz kein ebenso starkes, scharfes, klares philosophisches Gegengewicht gefunden haben, schwankt unser Held in allen erdenklichen Abenteuern des Geistes, des Fleisches, des Krankseins, des Gesundheitsrausches, des Bewußtseins und der Verdunkelung, bis ihn der allgemeine Abgrund des Namenlosen (darf man sagen, die Pflicht gegen das eigene Volk?) aufnimmt und ihm ein ehrenvolles Begräbnis sichert. Dieser chaotische Grundcharakter scheint hier schärfer erfaßt als in Goethes Werk, wo er sich, fast gegen den Willen des Schöpfers, erst in den späteren Partien durcharbeitet. Mit großer Sicherheit hat Mann die Gegenpole erfaßt. Das Fleisch, die Anatomie, das rein Tatsächliche aller dieser sterbenden, leidenden Menschen, und er ist dabei, trotz seiner Urbanität, vor nichts zurückgeschreckt. Man findet Bilder des Lebens in diesem Buch, so strotzend, voller Kraft und Lust am Glanz, leicht beflügelt, zart blumenhaft wie die Russin Clawdia Chauchat, ein vollendetes Kunstwerk im Kunstwerk. Man findet die starke Persönlichkeit, halb Maske, halb zitterndes Fleisch, den Weltfürsten Peeperkorn, mit unerhört sicherm Strich angesetzt, leider nicht ebenso vollendet, Ebenbild des herrlichen, nie wieder erreichten Luckner in Wedekinds »Schloß Wetterstein«; den Mann, der an seiner Kraft erstickt und an seiner Gesundheit sich verblutet. Man findet so erschütternde, kleine Bilder des animalen Sterbens, wie das einer kleinen Dame, die sich vor dem Priester mit dem tröstenden Viatikum unter die Decken verkriecht und markerschütternd, unvergeßbar nach Leben schreit. Man findet Landschaften, zauberhaft erfühlt, nur mit Stifters Landschaften, mit seinen Hochgebirgen, Schneewehen, Bergwiesen vergleichbar. Hier ist alles persönlich, einmalig, namenhaft und nie wiederkehrend. Wie sich der Frack mit dem Totenhemd, wie sich das Elegante mit dem Schicksalmäßigen vermählt, wie die gut gekleidete, gut genährte, wenn auch von Tuberkelbazillen infizierte Existenz kosmisch wird, sich den Sternen angesellt, das ist so herrlich, so unnachahmbar gestaltet, daß es unvergeßbar wird; ich weiß es.

Zwei große, unmenschliche, übermenschliche Szenen, der Dialog des Helden mit der Russin (diese Szene hat Mann aus Zart- und Schamgefühl französisch geschrieben) und die Unterredung des Helden mit dem Indienfahrer Peeperkorn, diese Zusammenkunft müder Jugend mit einer allzu frischen, behenden, überlebendigen Greisenhaftigkeit, das sind Bewegungen zwischen Menschen, wie sie nur ein Genie der Erzählung zu gestalten vermag.

Es wäre nicht gerecht, zu sagen, daß sich das ganze, riesige Werk auf dieser Höhe hält. Von allen Problemen und Geistesabenteuern, die in dem Rahmen des Buches sich finden (mehr, als daß sie sich finden, kann man nicht sagen), ist bloß das Problem der Zeit organisch, notwendig, überzeugend, ja zwingend aus der Seele des Werkes hervorgewachsen. Zeit ist für einen Genesenden, für einen Sterbenden das wichtigste Problem; und da wir alle andern, mögen wir auch nicht auf dem Zauberberg weilen, in diese zwei Kategorien der Sterbenden und Genesenden eingereiht zu werden uns gefallen lassen müssen, ist das »Zeitliche« in dem Zauberberg gerade das Ewige. Alle anderen Probleme, die der Dichter mit Hilfe zweier Nebenfiguren, des romanischen Heiden Settembrini und des jüdischen Christen Naphta entwickeln läßt, sind; wohl für die Zeit charakteristisch, für den Helden indirekt auch, denn er schlittert in diese Probleme hinein und aus ihnen heraus, man weiß nicht wie, und er kann von Glück reden, daß er heil aus ihnen sich rettet. Aber nun macht es Mühe. Es beweist sehr viel für die absolute Erzählungskraft Manns, für das Tolstoische, um nicht zu sagen, Homerische an ihm, daß er sich diese Schwergewichte aufladen kann, ohne zusammenzubrechen. In der Hand eines geringeren Meisters wäre der »Zauberberg« Torso geblieben. Diese Abweichungen sind nicht zufällig, sondern gewollt, Thomas Mann sagt selbst darüber: »Schon Jahre, soviel ist sicher, sind wir hier oben, uns schwindelt, das ist ein Lastertraum ohne Opium und Haschisch – und doch stellen wir der schlimmen Umnebelung absichtlich viel Verstandeshelligkeit und logische Schärfe gegenüber. Nicht zufällig, das möge anerkannt werden, haben wir uns Köpfe wie die Herren Naphta und Settembrini zum Umgang erwählt ...« Nein, nicht Umgang! Nicht um den Menschen herum möge sich das gedankliche Gewirre und die Entwirrung der Seele begeben, sondern in ihm selbst. Aber wie kann es Handlung, Verhandlung, Entscheidung geben, bei chaotischen, fessellosen, grenzenlosen Naturen, schon darum fessellos, weil sie dem tätigen Leben des großen Goethe längst entsagt haben und, halb mit Willen, halb durch das sterbliche Teil bezwungen, mit einem Fuße (ihrer Seele?) im Grabe stehen. Bei Tuberkelbazillen im Sputum gibt es keine geistigen Entscheidungen, diese Menschen sind nicht mehr mögliche Subjekte der Welterfassung, sondern nur bestenfalls Objekte.

Hier liegt also nicht das Schwergewicht. Es muß auch gar nicht hier liegen. Hat ein hoher Meister eine Figur geschildert, wie sie ist, dann hat er, unausgesprochen auch gesagt, was sie bedeutet. Bei einer Figur ist dies Thomas Mann auch ohne trüben Rest gelungen, bei dem preußischen Vetter, Joachim Ziemssen, der in seinem keuschen und doch weit überspannten Leben und Streben, in seinem kühnen Wollen und Versagen, nicht sich allein als singulare Erscheinung darstellt, sondern seine ganze Klasse, ja sogar sein Volk. Seine letzten Tage, Stunden und Augenblicke sind so meisterhaft, so herrlich unvergeßbar, so männlich rührend und im tiefsten erschütternd geschildert, daß man es als Sakrileg empfindet – ich wenigstens –, wenn bei einer spiritistischen Seance ebendieser große, keusche Held, zu einem trügerischen, abenteuerlichen, aufregenden Schein und Schauerdasein wiedererweckt wird.


 << zurück weiter >>