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Franz Kafka, Der Prozeß

Der erste der nachgelassenen Romane des Franz Kafka, »Der Prozeß«, ist eben im Verlage »Die Schmiede« erschienen. Schon bei Lebzeiten des Dichters wob sich um dieses Werk ein geheimnisvoller Schleier, und man muß zugeben, es ist kein alltäglicher Fall, wenn ein bedeutender, anerkannter, ja als großer Meister gerühmter Dichter eines seiner bedeutendsten Werke – als das kann man den »Prozeß« jedenfalls betrachten – durch Jahre verborgen hält und wenn er von der Absicht, sein Werk selbst zu zerstören, nur durch milde Gewalt abgebracht werden kann. Wir kennen zwar Ähnliches. Gogol hat den zweiten Teil seiner »Toten Seelen« vernichtet, Werke von Kleist fanden dasselbe Schicksal. Hier begegnet das gleiche uns wieder. Max Brod, einer der wenigen Menschen, die Kafka in seinem Leben wahrhaft nahegestanden haben, hat das Buch dem Dichter im Jahre 1920 fortgenommen und es so, in einer zwar unvollständigen, aber doch das Bild des Ganzen in großen Zügen entwerfenden Fassung gerettet.

Auf jeden Fall sind also in Kafka wie in Gogol zwei Grundkräfte wirkend geblieben: Ein gewaltiger tektonischer Trieb, ein Wunsch aufzubauen, Welten in die Welt zu stellen. Und ein zweiter, sie zu zerstören, und wenn es sein mußte, auch sich selbst. Der erste Wunsch war so unbesiegbar, daß Kafka nach seiner mühseligen Tätigkeit als Beamter einer Arbeiterversicherungsgesellschaft nachts den notwendigen Schlaf nicht fand, sondern sich zu einer Schöpfung hingerissen und gezwungen sah, die sich mit der äußersten Schärfe, traumwandlerisch, aber nicht verschwommen, ja nicht einmal mit der »natürlichen« Verschwommenheit des alltäglichen Lebens in Szene setzte. Nachts in Szene setzte, um am Tage verleugnet, geringgeschätzt, vernichtet zu werden. Solche selbstzerstörenden Kräfte sind dem Genie nichts Fremdes. Sie mit Bescheidenheit zu verwechseln bleibt einer gar zu handgreiflichen Psychologie vorbehalten. Denn mit Bescheidenheit hat dies nichts zu tun. Kafka empfand sich nicht als zu klein. Er sah sich mit Recht, mit Recht wie jedes Individuum und mit doppeltem Recht, wie jedes geniale Individuum im Mittelpunkt der Welt. Er wußte, wer er war. Er wollte es nicht sein. Damit hat er aber die Tatsache seiner Existenz nicht ausgelöscht, sondern in höherem Sinne erst bestätigt. Er ist der einzige Held seiner Werke. Alles, was bei ihm Biographie ist, ist Autobiographie. Alles, was bei ihm begrenzt ist, ist an sich selbst, eben an Franz Kafka begrenzt. So versteht man es, daß er in den späteren Jahren seines Lebens auf das Nationale verfiel. Er fiel, im wahrsten Sinne, darauf. Da er Jude war, hieß es für ihn Zionismus und jüdisch-national. Die Tendenz war klar. Das Individuum auf eine breitere Basis zu stellen, mit einem höheren Grade von Sicherheit im Leben zu ruhen und womöglich zu wirken. Man kann allgemein annehmen, daß der große Zug zum Nationalismus, der seit 1914 einsetzt, darin begründet wird, daß die Völker in ihrem Bestände problematischer geworden, sich auf die Rasse, die Ahnen zu stützen versuchen. Das Soziale geht auf eine ähnliche Quelle zurück. Der einzelne verzweifelt an seiner Lebensmöglichkeit, an dem Sinn des Daseins, ja an dem Sinn der Frage nach dem Sinn. Was er bei sich nicht finden kann, will er in der Gemeinschaft, in einem soziologisch erfaßten Menschheitsgebilde finden, und hier sieht er sich wenigstens eine längere Daseinsdauer, ein größeres Format zugewiesen, er ist von den Fesseln des Ich bis auf Reichweite entledigt. Diese Vorbemerkungen führen uns dem Kern des Buches von Kafka näher. Zwar ist hier nicht das Nationale, noch auch das Soziale ganz zum Durchbruch gekommen, es ist der Prozeß eines einzelnen, eines bis aufs äußerste isolierten Individuums. Ja, der Held ist so sehr aller sozialen und aller nationalen Eigenschaften entkleidet, daß er weder Eltern noch Brüder besitzt, daß er keinen eigentlichen Namen hat, einfach Joseph K. genannt wird. Etwas Ähnliches wurde vor kurzem versucht in einem Roman eines namenlosen Menschen, der ohne Erinnerung seiner selbst plötzlich erwacht. Kafka ist noch weiter gegangen. Sei es, daß er wirkliche Menschen nicht schildern wollte, sei es, daß er's nicht konnte (aber im »Heizer« gibt es doch wirkliche Menschen), es fehlen jedenfalls im »Prozeß« dem namenlosen Manne mit kleinbürgerlicher Haltung, dem Joseph K., alle eigentlich menschlichen Züge. Man erkennt ihn nicht wieder, vorausgesetzt, daß man ihn nicht, in seltenen, aber doch existenten Augenblicken, als sich selbst in einem imaginären Spiegelbilde erkennt. Hier ist die große Stärke des Werkes, nämlich seine Allgemeingültigkeit, seine prachtvolle, groß gezeichnete, heldenhaft durchgeführte Symbolik. Hier liegt auch seine Schwäche. Denn es ist nicht Fleisch, nicht Blut, es ist nicht Seele, sondern es ist Gespenst, gezeichnet gegen eine Welt von Gespenstern. Der erzählbare Inhalt dieses Buchs würde keinen Begriff von dem Wesen geben. Man muß es kennenlernen, man muß es zu erleben versuchen. Ein Bankprokurist wird eines Morgens aus dem Bette geholt, von zwei Wächtern aufgescheucht mit der Nachricht, er sei verhaftet. Es ist nicht das wirkliche Gericht, sondern ein anderes, das sich nach Art der Freimaurer in die letzten Winkel der Gesellschaft hineingewuchert hat. Dieses Gericht, dessen höhere Instanzen unerreichbar sind, dessen Akten niemand lesen darf, das im geheimen tagt und Recht über den einzelnen spricht, ohne daß man weiß warum – vielleicht nur kraft der allen Menschen innewohnenden Schuldgefühle –, dieses Gericht hat den Joseph K. nun in seine Fänge genommen, läßt ihm zwar seinen Beruf, aber seine Freiheit nicht. Wohin er kommt, überall begegnen ihm Abgesandte dieses unsichtbaren Gerichtshofes. Immer und auf allen Stadien seiner Bahn wird ihm der Prozeß gemacht, der durch ein Urteil abgeschlossen, aber nicht beendet werden kann, und da es ein Lebensprozeß ist, kann er nur mit einem Todesurteil schließen. Kein Widerstand ist möglich. Keine Klarheit. Form bis in die letzten Verästelungen. Sinn aber nirgends. Überall Akten, nirgends Blut, oder doch, dort, wo am Ende dem Joseph K. durch zwei freiwillige Henker das Herz von einem Messer durchbohrt wird. Joseph K. wehrt sich nicht mehr, er hat sich dem Prozeß hingegeben, er ist selbst Teil des Gerichtes geworden, er sieht und erlebt die Welt nur mit den Augen des Prozesses. Der »Prozeß« ist doppelsinnig. Prozeß heißt auch Krankheitsprozeß und ist sicher von Kafka auch so gemeint. An solchen Doppelbezeichnungen mag sich oft das Genie eines Sprachschöpfers, wie Kafka es war, bewähren und entzünden. Hier ist das Begrenzende freilich auch schon umschrieben. Seine kleinbürgerliche, minutiös geschilderte Sphäre hat er auch hier weder verlassen wollen noch können. Man faßt aber eine danteske Phantasie nicht ungestraft in die Form der kleinbürgerlichen jüdischen Welt des Prag von 1920.

Dante ist ein großer Name. Wer aber eine Hölle schildern konnte, wie sie Kafka schildert, wer in dieser Hölle leben und nach seiner Art heroisch in ihr wirken und an ihr heroisch untergehen konnte, mag ohne Sakrileg mit jenem Riesen in einem Atem genannt werden. Es sind Szenen von infernalischer, beklemmender Gewalt in diesem Buche, und man wird es hoffnungsloser verlassen, als man die Gänge und Hallen und Schlupfwinkel dieses metaphysischen Prozeßlokales betreten hat.

Freilich sind wir von jener großen Natur- und Dämonenkraft im »Zeugen« und »Zeugnisablegen« weltenweit entfernt, selbst wenn man nicht an Dante, sondern nur an Dämonen wie Gogol oder Kleist erinnert. Bei Gogol wie bei Kleist schließlich der Sprung in den Abgrund des Nationalen, aber ein Sprung, der Kafka schon deshalb versagt blieb, weil ihm der Mut zur völligen Selbstvernichtung ebenso fehlte wie zur völligen Selbstbehauptung, allem zum Trotz! Nicht an Genie, an Mut hat es ihm gefehlt. An einer bestimmten Stelle des »Prozesses« zeigt sich Kafka unter dem Vorwurf seines Werkes. Er erreicht die Höhe seiner eigenen Idee nicht. Es ist die Stelle in der Halle eines Domes, wo er sich verwundert allein findet und mit dem »Gefängniskaplan« des »Prozesses« seinen Disput beginnt. Man zittert diesem ungeheuer hoch getriebenen Augenblick entgegen. Hier könnte, müßte Dostojewski einsetzen. Wunderbar, unnachahmlich, ewig ist die Szene eingeleitet mit dem Gleichnis vom Türhüter. Man kann dieses Gleichnis neben denen des Evangeliums nennen, neben denen des Dschuang Dsi, des Konfuzius. Bleibt hier dem Gestalter, dem Denker und Deuter nicht der Atem aus, dann ist die deutsche Literatur, nein, die Menschheitsliteratur um ein unsterbliches Werk reicher. Hier hätte Kafka geben müssen, was er hatte. Hier hat er geben wollen, was er hatte. Warum verschweigen, was bedrückt, was aufwühlt, was entscheidet? Kafka war diesem entscheidenden Augenblick nicht gewachsen. Er sah ihn entweder nicht, oder er hatte sich zu sehr an das Schwefellicht der Hölle gewöhnt. Was er gibt, ist nicht einmal Stein. Steine können verehrt werden; die Mohammedaner tun es. Staub aber kann es nicht. Kafka zerreibt dieses unvergeßbare Gleichnis, dieses nicht wieder zu ersetzende Erlebnis des Türhüters zu talmudischem Staub. Er zerknüllt die »Weise«, die wissende, vollendete Form zu sophistischen Worten, und nun erst wird die Verzweiflung vollständig. Nun versteht man es, warum Kafka dieses Werk nicht zeigen wollte. An den meisten Werken unserer Zeit gemessen, ist es immer noch ein Muster- und Meisterwerk. An sich selbst gemessen ist es ein Versagen. Und der Versagende steht beschämt allein, und all unser Trost kann ihn darüber nicht trösten, daß er uns versagt hat, wonach wir gehungert haben und was er allein, als der Türhüter des Gesetzes, seines Gesetzes, uns hätte geben können.

Und doch wäre es unrecht, zu sagen, daß er uns ganz ungesättigt entläßt, daß er uns nur quält, wie er sich selbst gequält hat. Das letzte Kapitel, zu dem der Übergang fehlt, das Kapitel vom Tode dieses Joseph K. ist ein Kapitel, zwar nicht der Erlösung, aber doch der Erleuchtung. Hier gibt es mildes Licht, tröstliche Helligkeit. Der Held liegt am Boden, das Messer des Todes sieht er über sich, aber nicht das Messer allein. Ich lasse die Stelle hier folgen: »Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.«

Von dieser erschütternden Schlußstelle fällt Licht auf die Wirrnisse des ganzen Buches und auf die Irrungen des ganzen Menschen. Löst sich nicht alles darin, daß hier einer als Ankläger, als einziger Zeuge, Prozeß führt gegen sich selbst? Ist hier nicht einer zu streng mit sich selbst ins Gericht gegangen? Hatte hier einer zu heiße, zu glühende Begierden, aber nicht den Mut, ihnen nachzugeben, noch die Kraft, sie zu unterdrücken, es sei denn, sie zu unterdrücken zugleich mit seiner ganzen Existenz? Dann ist der ganze Prozeß nichts anderes als der Prozeß der eigenen Gewissensstimme. Dann ist das Werk nichts anderes als der Detektivroman einer Seele. Ein Wesen suchend auf den halbverlöschten Spuren seiner selbst. Von sich selbst angeklagt und von sich selbst verurteilt. Und daß dieses Urteil wider den Willen dieses Richters und Angeklagten in einer Person, wider den Willen Kafkas an die Öffentlichkeit kommt, nachdem er sein ganzes Leben lang die Heimlichkeit des Verfahrens erlitten, das macht dies Werk zu einem echten Lebensdokument, zu einer erschütternden Tragikomödie.


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