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Eve Curie, Madame Curie

Die Lebensbeschreibung der Marie Curie und des Pierre Curie, die uns die jüngere Tochter des Ehepaares, Eve Curie, in einem breiten Band erzählt, darf nicht an den Maßen eines Kunstwerkes gemessen werden. Aber sie erhebt sich einzig und allein kraft des großartigen Gegenstandes über die »breite«, gefällige und private Darstellung eines Paares genialer Gelehrter, die zufällig an eine magische Substanz gerieten, das Radium. Denn es sind beispielhafte Lebensläufe, die ins Faustische aufragen.

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Lebenslauf der Frau. Nicht etwa, daß die Tochter das Wirken und Leiden der vieles prüfenden und viel geprüften Mutter überschätzt hätte auf Kosten des Vaters, den sie durch einen sinnlosen Unfall als Kind verloren hat. Sondern es liegt so, daß Marie Curie, geborene Skłodowska, vielleicht ihre ersten Entdeckungen nicht gemacht hätte ohne den Zauberhauch eines magischen Mannes, daß sie aber, unbestreitbar nach dessen Tode auf sich gestellt, aus ihrer wissenschaftlichen Forschertätigkeit neue und zwar unermeßliche Früchte abgeerntet hat, daß sie darüber hinaus (im Kriege) eine humanitäre Linie eingeschlagen hat, die der Bewunderung wert ist, und daß sie es sich niemals gegönnt hat, ihrem Schmerz zu leben, so wie sie es sich niemals gegönnt hat, ihrer Eitelkeit (die man vielleicht mit Unrecht als Haupteigenschaft der Frau ansieht) zu leben. Sie hat »wesentlich« weitergelebt, sie hat dem Weltruhm widerstanden, das heißt, sie ist niemals »weltlich« geworden, sondern ist dank einer einzigartigen Geschlossenheit eines von Natur aus edlen Charakters ausschließlich dem Herrlichsten in ihr treu geblieben, und zwar ohne es zu wollen und ohne es zu wissen.

Es sind zwei große Versuchungen, die an diese schöne, arme und fanatische Kleinadelige aus einem Nest Polens herangetreten sind, und die sie beide – und unter welchen Opfern und Schmerzen! – überwunden hat. Die erste war der nationale Fanatismus. Im Jahre 1863, nach achtzehn Monaten verzweifelter Kämpfe zwischen den aufständischen Polen und den siegreichen Russen, werden auf den Festungswällen von Warschau fünf Galgen aufgestellt, an denen die Körper der Insurgentenführer baumeln. Vier Jahre nachher, am 7. November 1867, wird Marie Skłodowska geboren. In der Schule, wo sie wie alle andern Kinder gezwungen wird, russisch zu sprechen, russisch zu beten, auf daß sie erlerne, russisch zu fühlen, sammelt man Geld, um eine Messe zelebrieren zu lassen, damit ihr aller »sehnlichster Wunsch« in Erfüllung gehe. Und was wünschen diese national gesinnten Kinder? Daß die typhuskranke Tochter des Schuldirektors, eines russischen »Spions« (in Wahrheit ist er ein mittelmäßiger Banause), bald sterbe!

Die zweite Versuchung war die (für uns) verständlichere: die Liebe, der Bund der Jugend. Als junges Mädchen, in einer demütigenden und opfervollen Zeit als Gouvernante (sie hat alles auf sich genommen, um der Schwester das Studium der Medizin in Paris zu ermöglichen), verliebt sie sich, wird geliebt – und scheitert. Wenn man ihren Briefen glaubt, ist sie gebrochen, und zwar auf immer: »Meine Zukunftspläne? Ich habe keine ... Mich durchschlagen, so gut es geht, und wenn es nicht mehr geht, dieser schnöden Welt adieu sagen ... Manche Leute reden mir ein, daß man eine gewisse Krankheit durchmachen muß, die man Liebe nennt. Dafür habe ich aber gar keinen Platz in meinen Plänen. Wenn ich früher einmal andere hatte, so sind sie in Rauch aufgegangen, ich habe sie begraben, eingesargt, versteckt und vergessen ...« So viele Worte für das einfache Nein! Man merkt wohl, daß die Wunde weiterblutet – und sie wird sich niemals dadurch schließen, daß Marie Skłodowska in der gleichen Weise ein zweites Mal liebt, sondern dadurch, daß sie in ganz anderer Weise, in höherer Weise, oder sagen wir, in kärglicher, bescheidener, nüchterner Weise liebt, daß sie sich der Wissenschaft ergibt, nachdem sie den Kelch der Liebe zu bitter gefunden hat. Ein Faust also, der zuerst die »Gretchenepisode« erlebt hat (welche Torheit, Gretchen, die entscheidende Wendung, die einzige Gefahr Faustens eine Episode zu nennen!), und der dann erst sich den Büchern, den Retorten hingibt, der also den Erdgeist bändigt, weil er ihn liebt und ihm auf diese Weise kraft der Liebe zur Sache seine Geheimnisse abgewinnt! Die Erde also hat sie ins Leben zurückgerufen, nicht die Osterglocke. Ihrer Schwester schreibt sie: »Ich möchte, daß Du Dein Doktorat machst. Es scheint, daß das Leben für keine von uns leicht ist. Aber was, man muß Ausdauer und insbesondere Selbstvertrauen haben. Man muß daran glauben, für eine bestimmte Sache geboren zu sein, und diese Sache muß man erreichen, koste es, was es wolle. Vielleicht wird alles in dem Augenblick, wo wir es am wenigsten erwarten, gut ausgehen.« Sie ist also, wo sie sich an die Erlösung durch den klaren Willen klammert, Optimistin. Sie kann nicht mehr wie Faust durch den nüchternen genießerischen Menschenverstand (und das ist Mephisto, keineswegs aber ein wahrhaft Böser) verführt werden. Anstelle dieses Teufels (des Gottes der guten Ausreden) tritt das magische Gute und Holde in ihr Leben, der Mann, der ihr alles bedeutet, was ihr von nun an ein Mensch sein kann, die Liebe ausgenommen. Er wirbt um sie. Sie weigert sich, obwohl sie durch seine Hilfe furchtbaren Entbehrungen, qualvollen, unbeschreiblichen, ein Ende bereiten könnte, und zwar aus zwei Gründen: Sie will dem Lande ihrer Geburt nicht untreu werden, »später einmal werde ich in Polen Lehrerin sein«, antwortet sie ihm auf seine scheue Werbung, »werde versuchen, mich nützlich zu machen. Wir Polen haben nicht das Recht, unser Land zu verlassen.« Und zweitens, weil sie ihn nicht liebt, wenigstens mit dem Blute nicht. Als er sie endlich überredet hat (wie könnte sie einem so herrlichen und so kraftvollen und so bescheidenen, fürstlichen Mann widerstehen?), schreibt sie ihrer Freundin: »Ein ganzes Jahr habe ich gezögert ... endlich habe ich mich mit dem Gedanken abgefunden, mich hier niederzulassen. Wenn Du diesen Brief erhältst, schreibe mir: Madame Curie, Schule für Physik und Chemie, 42, rue Lhomond. So werde ich von nun an heißen. Mein Mann ist Lehrer an dieser Schule.« Von nun an beginnt eine Ehe ganz neuer Art, es ist, wenn man das mißbrauchte Wort wiederbeleben darf, eine vollkommene Ehe, gerade weil sie auf einer ganz anderen Grundlage ruht als jene andere, von der uns heute eine ganze Weltumwälzung trennt. Was für ein Mensch ist dieser Pierre Curie, Sohn eines alten hochbürgerlichen französischen Gelehrtengeschlechts? Er sieht jung aus, ist aber schon fünfunddreißig Jahre alt. Auffallend ist der Blick seiner hellen Augen, eine »Spur von Lässigkeit« seines schlanken, knochigen Körpers. Langsam, bedächtig in der Sprechweise und doch noch recht unruhig, bedürfnislos. So von Genie angefüllt, daß er leise, scheinbar tatenlos, »schlafversunken«, wie er es nennt, sein darf und daß sich ihm dennoch die Welt entschleiert. Er zerreißt den Schleier nicht. Er durch-schaut ihn. Vielleicht ist es kein Zufall, daß ihn die Kristallisation, das große Problem Goethes, Stifters, Stendhals magisch anzieht. Auch er ist ein Monomane, aber einer von einer sehr gelösten, heiteren, krampflosen, verträumten Art. Er lebt jedoch nicht im Traum. Er ist sanft, nicht süß. Er sieht in der Frau den Gegner, wenn nicht den Feind: »Wenn wir Männer, von einem geheimnisvollen Gefühl getrieben, einen Weg beschreiten wollen, der uns den uns Nahestehenden entrückt, wenn wir alle unsere Gedanken einem Werk widmen, haben wir mit den Frauen zu kämpfen. Die Mutter will vor allem die Liebe ihres Kindes und sei es auf Kosten seiner geistigen Entwicklung. Die Geliebte will gleichfalls den Mann besitzen und würde es ganz selbstverständlich finden, wenn man den größten Geist der Welt einer Liebesstunde opferte.« (Gerade das hat Faust getan.) »Der Kampf ist fast immer ungleich, weil die Frauen die gerechte Sache für sich haben. Denn es geschieht im Namen des Lebens und der Natur, daß sie versuchen, uns zu sich zurückzuführen.« Es begegnen einander also in Pierre Curie und Maria Skłodowska zwei Menschen der gleichen Art, die sich keineswegs ergänzen, sondern, die sich viel eher, wenn man dem »Kampf ums Dasein« und dem »Willen zur Macht« glauben sollte, nach Strindbergscher Manier bis aufs Blut (und bis auf das Blut ihrer Kinder) bekämpfen und zugrunde richten müßten. Nichts davon! Eine glückliche – nein, Glück ist nicht das wahre Wort, es ist zu irdisch, zu heiß –, eine selige Ehe, das ist es, was sie erwartet. Und wie ist das möglich? Sind es denn nicht Wesen von Fleisch und Blut, das heißt von Leidenschaften befeuerte, von Enttäuschungen verhärtete Naturen wie wir alle? Nein, sie sind es nicht. Sie sind frei von Gewalttätigkeit. Sie lieben das Helle, das Dunkle ist ihnen verhaßt, sie kennen den Willen zur Nacht nicht, sie sind von Natur aus großmütig und gesund, sie sind mit den Urgründen der Welt von Natur aus vertraut, sie erklimmen infolgedessen den Gipfel ohne Schweiß, es sei denn der freudige Schweiß nutzvoller, glückhafter Arbeit. Sie genießen das Leben, versuchen aber nicht, den Becher, aus dem sie getrunken haben, nachher zu zerschmettern oder gar zu verschlingen. Sie eifern nicht. Was sie erreicht haben, gehört ihnen gemeinsam. Sie sind das vollkommene erste Kollektiv. – Nach dem stupiden, unzeitgemäßen Tode des Gatten durch einen Straßenunfall hat die Frau weitergearbeitet, stumm, fast ohne Klage, sie hat sich den Ausbruch einer lauten Verzweiflung nicht gegönnt; keine Träne. Alles bleibt in ihr. Sie hat dann zum zweiten Mal den Nobelpreis für ihre Arbeiten erhalten. Bei einem öffentlichen Vortrage sagt sie: »Es liegt mir daran, ... Ihnen in Erinnerung zu rufen, daß das Radium und Polonium von Pierre Curie in Zusammenarbeit mit mir entdeckt wurde.« So wenig sie die Habsucht in bezug auf Eroberungen des Geistes kennt, so wenig auch in bezug auf Geld. Sie hat ein Verfahren zur Gewinnung von Radium aus den Pechblendeschlacken unter unbeschreiblichen Mühen und unter Lebensgefahr, völlig auf sich und auf die physische Kraft ihrer beiden Arme gestellt, vom Staat, wenn nicht gehemmt, so doch keineswegs gefördert, herausbekommen. Wenn sie nun als Witwe dieses Geheimnis des Steins der Weisen patentieren ließe, könnte sie sich und den vaterlosen Kindern ein sorgloses Leben sichern. Sie lehnt es ab, ebenso verzichtet sie darauf, ein Gramm Radium, eine Million Dollar wert, das ihr Amerika generös zur Verfügung stellt, für sich zu behalten, sie gibt es weiter. Es ist ein Wunder, daß sie am Ende ihres Lebens etwas Weniges an Geld besitzt. So lebt sie einsam, allein zwischen ihren Kindern, fern von der Welt mitten im rauschenden Erfolg, eine Art geistliche Schwester, eine Nonne der Wissenschaft. Eine gewisse Kälte strahlt von diesem untadelhaften, diesem vollkommenen Menschen zum Schluß des Lebens aus. Man sieht es an den Porträts, es ist bei dem Bild aus dem Jahre 1929, sechs Jahre vor ihrem Tode, etwas »von der anderen Seite«, das aus den tiefliegenden Augen, aus den in sich versunkenen, glanzlosen »geistigen« Zügen zu uns spricht. So auch die Äußerungen ihres Lebens. Sie will die Welt nicht. Sie wehrt sich gegen den Ruhm. Sie will der Masse, die so jammervoll sehnsüchtig nach einem neuen Ideal, nach einem neuen lebenswerten Ziel, nach, sagen wir es offen, nach einem neuen Götzen hungert, das alles nicht geben. Sie will kein Götze sein, kein Führer, kein Stern. Das »bittere Klima der Armut« hat sie nie verlassen.

Faust endet. Er baut. Er baut für sich – und stirbt. Wie Faust ist sie der Blindheit nahe, eine schwere, aber glückliche Operation rettet ihr das Augenlicht, diese Augen soll nur der Tod schließen. Fühlt sie ihn kommen? Ihre Tochter schreibt: »Plötzlich stürzte sie sich in eine ausgebreitete Tätigkeit, sie, die seit Jahren die eigene Bequemlichkeit vernachlässigt hat, denkt nur an den Bau eines Landhauses in Sceaux, an Wohnungswechsel in Paris, sie beschäftigt sich mit Bauprojekten, läßt sich in große Ausgaben ein, ohne zu zaudern ...« Es scheint ihre letzte Freude gewesen zu sein. Der erste der zwei großen Jugendwünsche, die Heimkehr in das gelobte Land, der Mosestraum, ist unerfüllt geblieben, sie hat Polen nur durch das neuentdeckte »Polonium« ehren können. Und der zweite?

Aber mit ihrem Tode ist, sowenig wie bei Faust, ihr Leben zu Ende. Sie hat die Elemente gewaltig beschworen, sie hat sie in Aufruhr gebracht, oder, besser gesagt, sie hat ihrem ewigen Aufruhr, ihrem Dynamismus, unerschrocken ins Auge zu sehen gewagt. Sie ertrug den Geist, den sie rief und der ihr nicht glich. Die physikalische Welt, die Welt überhaupt, ist aus ihrem Schlaf durch diese kleine zarte Frau aufgestört worden, und bis zum heutigen Tage sehen wir diese Welt »gefährlich leben«, brennen, stürzen – und neu auferstehen. Aber der zweite Wunsch ihres Lebens? Sie hat sich einer fremden Rasse verbunden; jenseits der Lust, der sinnlichen Leidenschaft, nein, es muß gesagt werden, es ist so, jenseits jeder Liebe! Gegen Ende ihres Lebens schreibt sie ihrer Tochter: »Ich glaube, daß man sich leicht betrügt, wenn man alles höhere Lebensinteresse von einem so stürmisch bewegten Gefühl abhängig macht, wie es die Liebe ist...« Und sie sagt ein anderes, fürchterliches Wort weiter: »Die Liebe ist kein anständiges Gefühl.« Auch dies ist eine ungeheure Umwälzung der inneren Welt, eine moralische Revolution, eine Überwindung des christlichen Kosmos, der Sturz auf die Erde. Und so stirbt sie, die Katholikin, ohne Sakramente, ihre letzten Worte sind: »Hat man es mit Radium oder Mesothorium hergestellt?« – Und ob es jetzt Frieden war, der ihre grandiose Seele erfüllt hat, wer wollte es ergründen? Es liegt viel Unergründliches in ihr. Das Unwahrscheinlichste wird über ihren Tod hinaus Erscheinung.

Was man seit Urzeiten nicht gesehen hat, was einem Goethe versagt war, woran ein Napoleon zerschellte – von dem zum lallenden Kinde gewordenen, kinderlos sterbenden Nietzsche zu schweigen –, hier in dem Ehebund zweier bescheidener Menschen wurde es offenbar, sie überlebten sich großartig in ihren Kindern. Aus dieser ohne Liebe geschlossenen Ehe zweier grundverschiedener Rassen entsprangen zwei prachtvolle Kinder, von denen das ältere, einem Franzosen aus dem gleichen geistigen Breitengrade verbunden, bereits neue, ungeheuere Leistungen aufzuweisen hat, denen sich die Welt in freudiger Verehrung ohne Widerstand gebeugt hat: Irene Joliot ist mit ihrem Mann Leiterin des von der Mutter erbauten und eingeweihten Radiuminstitutes in Paris und Trägerin des Nobelpreises. Das neue Geschlecht, die neue Dynastie, setzt sich fort, das Ehepaar Joliot-Curie hat schöne, starke, gesunde Kinder. Sie haben in der Wahlheimat Wurzel gefaßt. Vielleicht wird dieses Geschlecht – es ist kein hoffnungsloses Geschlecht wie das von Bang – selbst in Äonen nicht untergehen.


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