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Stefan Zweig, Joseph Fouché

»Bildnis eines politischen Menschen« nennt Zweig sein neues Buch und stellt damit sein höchst eigenartiges Werk in eine Reihe mit den biographischen Versuchen, die wir, in mehr oder minder großer Vollendung, in den letzten Jahren vorgelegt erhalten haben: Emil Ludwigs »Bismarck«, »Goethe«, »Kaiser Wilhelm Il.«, Lytton Stracheys »Queen Elisabeth«, Maurois' »Disraeli«. Sei es nun, daß die Jüngeren von den Älteren gelernt haben, sei es, daß die Wiener Schule dank ihres Einfühlungsvermögens, ihrer psychologischen Meisterschaft (nicht ohne Grund sind Freud und Adler Wiener – und Karl Kraus), dank ihrer stilistischen Darstellungskraft – auf jeden Fall erscheint dieses Werk Zweigs der Gipfel des auf diesem Gebiet bisher Erreichten zu sein, und ist, bis auf kleine, verbesserbare Schwächen, das klassische Beispiel dieser Art Geschichtsschreibung und zugleich das klassische Beispiel dieser Art Kunst. Denn um beides handelt es sich: Um die Historie, die Wissenschaft als Hauptsache, und nebenher um den Roman, ein Kunstwerk der Phantasie.

Die andere Mischung, bei welcher der Roman das Übergewicht hat und auf dem Boden wirklicher Tatsachen der Oberbau erdichteter Menschenfiguren und erfühlter Menschenseelen sich erhebt, hat bis jetzt, in Deutschland wenigstens, noch wenig Klassisches hervorgebracht.

Was an »Reportage der Weltgeschichte« geschrieben wurde, nahm immer den Durchschnittsmenschen zum Mittelpunkt, ein anonymes, gesichtsloses Wesen. Alle Kriegsromane, die hier einzureihen wären (Arnold Zweigs »Sergeanten Grischa« allein ausgenommen, der wohl auch als der einzige rein künstlerische Wirkungen, ganz von dem »Stoff abgesehen«, ausstrahlt), haben eine höchst interessante Umwelt, aber eine recht dürftige Innenwelt. Hier reihen sie sich den Abenteuerromanen vergangener Jahrhunderte an.

Aber die andere Gattung, die romanhafte Biographie, deren Schöpfung doch das Verdienst Emil Ludwigs ist? Hier war beispielsweise einmal der Ausgleich zu schaffen zwischen der überragenden Innenwelt eines Napoleon und seiner nicht minder überwältigenden Außenwelt: also die Tatsache und historische Weltwirkung der Schlacht bei Marengo – und die Innenwelt des Schlachtenlenkers.

Vielleicht sind die guten psychologischen, wirksamen Methoden, die wir Ludwig verdanken, auf einen Mann solchen gigantischen Übermaßes wie Napoleon überhaupt nicht integral anzuwenden – und da hat Zweig mit hellseherischem Blick und beneidenswertem Glück sich einen Akteur angeblich minderen Ranges gesucht, einen Mann, der im Hintergrunde steht, der durch Gaben und glücklich-unglückliches Geschick nur zu Episodenrollen in der Weltgeschichte ausersehen scheint. Aber das ist nur der Anschein. Was ist dieser Mann Joseph Fouché, und was ist er nicht? Ehemaliger Priester und Seminarprofessor, Gewaltmensch und »Mitrailleur von Lyon«, Mitglied des »Berges« im ersten Konvent, Mörder des Königs, Feind und Besieger des Moralfanatikers Robespierre, Winkelagent und Privatdetektiv des Direktorialmitgliedes Barras, Steigbügelhalter des ersten Konsuls und dessen erbitterter Feind bis zum Ende, ironisch zynischer Steigbügelhalter der alten Dynastie, Bettler, Schnorrer und Großgrundbesitzer, Millionär, Herzog von Otranto mit der goldenen Wappensäule und der falschen Schlange darum gewickelt, dieser Mann steht nur scheinbar im Hintergrund, er bleibt mit Willen und Wissen hinter den Akteuren, seinen Trabanten. In Wahrheit ist er der geheime Mittelpunkt, Souffleur, Dichter und Regisseur der Weltgeschichte. Eine Macht, mit der während zweier Jahrzehnte (und welcher Jahrzehnte!) in Frankreich jede Ohnmacht und Übermacht bis Napoleon rechnen mußte.

Eine Balzacsche Figur in ihrer strotzenden Fülle! Ja, der ganze Balzac selbst wird hier aus diesem Buch erst klar verständlich, das Herzblut seiner Figuren schlägt auch in den Pulsen dieses Fouché. Nicht minder stark ist bei Fouché die andere Seite: der Kopf, der Geist, der unbeugsame Wille, wie er die Hauptfigur Stendhals, den ehrgeizig-zerfressenen, trocken schleicherischen, geistvollen Helden von »Rouge et Noir« beseelt und ins Irre leitet trotz der ungeheuren Anspannung.

Zweig hat in unbestreitbarer Meisterschaft, völlig souverän, hier ein Seelenschicksal und ein Blutschicksal umrissen. Fouche: ein. Genie der Zwiespältigkeit, einen Meister der Bewegung, einen Politiker ersten Ranges, eine Persönlichkeit von anrüchigem Zauber, geschildert, anziehend und abstoßend zugleich in höchstem Grade.

Napoleon als Gegenspieler. Das quellende Genie gegen ...? – nein, auch Fouché ist genial, ist ein Mensch, der aus nichts alles macht. Aus nichts? Ja, aus dem Menschen, dem Individuum, das Fouché verachtet, da er es benutzt. Zweig kommt in seiner Biographie zu grandiosen Szenen, die des größten Romandichters würdig sind, aber es ist ja der größte Romandichter, die Wirklichkeit, die dieses Werk diktiert hat. Da ist eine Szene, in der das Ende der Französischen Revolution nachgezeichnet wird. Kein Pathos, kälteste Sachlichkeit. Der Geist Stendhals. Der letzte Klub der Jakobiner, die Fouché, Exjakobiner, überlebt haben. Nach zweitausend revolutionären Morden Polizeiminister in Amt und Würden. Er steigt die Tribüne herauf; nach vielen Jahren Schweigens, schweigen konnte er, dieser Fouché, das war ein Teil seiner Menschenbeherrschung – der andere seine Menschenverachtung! –, nach sechs Jahren Schweigen hören die zur Karikatur gewordenen, verzerrten Schatten von ehemaligen Machtmenschen seine eisige, nüchterne Stimme ... sie kämpfen nicht mehr gegen den alten Kampfgenossen, wehren sich nicht, er räumt den Saal, geht zur Tür, schließt sie ab und steckt den Schlüssel in die Tasche.

Außerordentlich zu rühmen und ein gewaltiger Fortschritt gegen Emil Ludwig ist, daß der Biograph nicht dem lieben Gott in die Karten sieht. Stefan Zweig gesteht es offen ein, daß er nicht allwissend ist. Nachdem er die Außenwelt mit aller Akribie erforscht hat, wie es seine Pflicht ist, gibt er zu, daß ihm das Innere seiner Menschen und Unmenschen manchmal ein Rätsel ist. Es sind prachtvoll komplizierte Charaktere. Männer von weichstem Herzen gegen die Ihren und von niederträchtiger Tücke gegen alle anderen, gierig nach Geld, aber durch Geld allein nicht zu befriedigen. Ihre Gegenspieler, ihre Feinde sind ihnen gewachsen. Ist Fouché in vielem ein Rätsel, ein Widerspruch, eine nicht auflösbare Gleichung für Zweig, so ist es sein Gegenspieler, Robespierre, oder später Napoleon nicht minder. Robespierre kann ihn, Fouché, eines Tages vernichten. Er sieht in Fouché seinen Todfeind mit Recht. Beide wissen alles voneinander. Aber er tut es nicht. Er schweigt. Schont. Warum? Zweig sagt hier in klassischer Ruhe: »Man weiß es nicht.« Gerade das gibt diesem Werk die innere Kraft. Zweig hat nicht geflunkert. Er ist so weit mit seiner Diebslaterne den Schlichen seiner Helden nachgegangen, die ihr Licht wahrlich nicht offen, sondern nur unter dem Scheffel leuchten ließen.

Was einzuwenden wäre? Man hätte hier und da den Wunsch, die historische Umwelt, etwa die Napoleonischen Glanzjahre, noch etwas breiter ausgeführt zu sehen – aus Gründen der künstlerischen Symmetrie, die sonst in großartiger Weise gewahrt ist. Was aber tiefer geht und der einzige ernste Einwand ist – das ist die Form, in der Zweig, dem bösen Beispiel anderer Biographen folgend, erzählt, nämlich in der Gegenwartsform. Alles im Präsens. Dadurch nimmt er dem Werk die innere Ruhe an vielen Stellen und steigert dessen Lebendigkeit an keiner. Das ewige Präsens ist unschön, klingt nicht rein, entwertet viele Schilderungen, nimmt dem Vergangenen sein edles Gewicht, indem es sie schwankend, aber nicht schwebend in die Gegenwart projiziert. Das Heute ist ein anderes. Das Heute, der September 1929, ist so ganz anders geartet, daß man das Präsens in diesem Buch nicht gern erträgt. Nur dieser eine kleine Schritt, eine grammatikalische Bagatelle trennt dieses Meisterwerk der historischen Biographie von der Vollendung, von dem Klassischen, dem dauernden Besitz. Besitz nicht einer Nation, sondern der europäischen Kulturgemeinschaft. Denn dieses Buch wird nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern gelesen und verstanden werden, da es Ewig-Menschliches, den immerwährenden Zwiespalt jeder größer angelegten Natur, enthüllt. Joseph Fouché – das enthüllte Menschenherz – le cœur devoilé.


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