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Sinclair Lewis, Der Erwerb

Was die Madame Bovary für Frankreich war, könnte dieses Buch für Amerika sein: die lückenlose Darstellung eines typischen Menschenwesens, wie es bis jetzt in der Literatur dieses Landes nicht erschienen ist. Je mehr man von den Werken dieses großen amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis, eines würdigen Schülers (nicht Epigonen) des größeren Charles Dickens, kennenlernt, desto tiefer die Verehrung für dieses die Welt tief umfassende, wenn auch in seinem Stoffgebiet eng begrenzte Talent.

Um was geht es in diesem Roman? Um eine neue Type Amerikas, um einen Durchschnittsmenschen wie Babbitt, wie im Grunde auch Dr. Arrowsmith. Diese Durchschnittswelt ist nun einmal die Domäne des Sinclair Lewis, so wie die bunte Abenteuerwelt von Alaska bis zur Südsee das Jagdgebiet des früh verstorbenen Jack London, war, und ebenso wie die tiefgründige, wenn auch oft quälende, aber immer geniale Seelengründung des »zweideutigen Menschen« das Gebiet des bei uns noch viel zu unbekannten Joseph Conrad ist. Wäre ein und derselbe Geist imstande, eine solche Fülle des Lebens in sich aufzunehmen, wie es das »Genie der Vitalität« Jack London vermochte, und sie so tief aufzuhellen wie das »Genie der Zergrübelung« Joseph Conrad – und dabei auch die unscheinbarste, anscheinend langweiligste Figur mit solch einem wunderbaren zarten Nebelhauch von männlich-väterlicher Liebe zu umgeben, wie es Sinclair Lewis, der Mann des gütigen Alltaglebens vermag – was täte sich dann vor unsern Blicken auf! Aber schon das, was diese drei großen Geister, von denen heute Sinclair Lewis allein noch lebt, uns jeder in seiner Art gegeben haben, ist bewundernswert in mehr als rein literarischem Sinn.

Ich bin überzeugt, mehr als eine von den Menschentypen, die dieser unscheinbare Amerikaner Lewis geschaffen hat – geschaffen mit unendlicher Kleinarbeit, mit mühseligster Einzelbeobachtung, mit vorsichtigster soziologischer Einordnung, mit zurückhaltendster Keuschheit im Aufdecken verborgener Heimlichkeiten – mehr als eine dieser Typen Babbitt, Arrowsmith, Una Golden wird bleiben, ebenso wie die Typen des Dickens lange noch bleiben werden. Meines Wissens ist es der erste weibliche Charakter, den Lewis als Hauptfigur geschildert hat. Bis jetzt hat seine Liebe mehr den Männern gehört, auch dort, wo in dem bezaubernden Roman »Mantrop« die Frau eine gewisse Rolle spielt. Nun begibt sich aber das Merkwürdige, daß diese Frau, Una Golden, ich nannte sie schon, die Lewis hier mit seiner ganzen Herzensfülle, seiner meisterhaften Komposition vor uns hinstellt, sich »hundertprozentig« von dem Bilde der Amerikanerin unterscheidet, wie man es sich bis jetzt bei uns in Europa vorgestellt hat – dafür aber gleicht sie »hundertprozentig« den unzähligen alleinstehenden, ihren Lebensunterhalt an der Schreibmaschine oder Nähmaschine erwerbenden Frauen, den Frauen des erwerbenden Mittelstandes, Weib plus Job, Seele plus Erwerb, wie wir sie hier in Europa in den großen Städten sehen. Es handelt sich um ein nicht gerade häßliches, junges Mädchen ohne sex appeal, ohne besondere Klugheit, ohne ein Übermaß an Gefühlswärme, ohne Hang zum Sinken, mit einem ordentlichen Trieb zum Aufsteigen in eine höhere Kaste, mit einem bestimmten Beharrungsvermögen, sich nicht fallen zu lassen. Sie will sich hingeben, aber sich nicht verlieren. Sie ist eben nur ein kleines Weib in der Masse, nur mit dem psychologischen Mikroskop erkennbar. Ein nettes junges Ding aus guter Familie mit einem Augenglas von ungefaßten Gläsern, dessen goldenes Kettchen sich hinter ihrem kleinen Ohr in eine Fülle blonden schönen Haars verliert. Sie kommt aus Panama, ihr Vater nennt sich Kapitän, ist aber höchstens Kapitän bei der freiwilligen Feuerwehr gewesen. Er stirbt früh nach einem ebenso emsigen als erfolglosen Leben, ganz eine Figur mit der feinen Feder eines Dickens gezeichnet. Mit derselben künstlerischen Noblesse ist die Figur der Mutter umrissen, einer Mutter, wie ihrer Tausende und aber Tausende zwischen Wedding und Friedenau leben, Pensionistinnen, Beamtenwitwen, Kleinrentner, Kleinseelen, die nicht nur das Brot essen, das die Tochter, bitter genug, verdient, sondern die sich auch geistig, menschlich mit ihrer ganzen Existenz über die Existenz der Tochter legen, ihr »keine Luft lassen«, ohne daß man ihr Gefühl, Mutter – Vampyr, als reinste Liebe oder als reinsten Egoismus umreißen könnte.

Wer nicht glaubt, daß dieser Sinclair Lewis ein Dichter von höchsten Graden ist, der lese die Partie dieses Buches, in der geschildert wird, wie diese Tochter nach ihrer mühseligen Arbeit eines Abends mit einem »Lunapark«-Programm heimkehrt und, wie schon so oft, die Wohnung unaufgeräumt findet, die Mutter unter immer wieder zerlesenen Magazinheften vergraben, mit weinerlicher Stimme ihr Leben bejammernd, immer neue Forderungen stellend, sich hinter einer Krankheit mit ihren Schwächen, ihrer Trägheit versteckend. Aber gerade diesmal ist es nicht Trägheit, nicht ungezieferhaftes Saugen – es ist plötzlich Schicksal, eine schwere Krankheit, ein durch alle liebevolle Pflege nicht aufzuhaltender Tod. Wie da in dieser kleinen goldblonden kurzsichtigen Seele sich alles umkehrt, wie sich alles wendet, das Innerste nach außen dringt, wie dieses winzige Wesen wächst und mit dem letzten Ernst ihres Daseins sich an eine Mutter klammert, die nie mütterlich gewesen ist – wie diese Tochter weint – wie sie Mensch wird an dem Tod dieser glatten, weinerlichen alten Frau – das vergißt sich nicht! Es ist nicht reine Sentimentalität. Es ist Gefühl und dennoch reine Wirklichkeit. Es ist Gefühl mitten im Job, ein Herz im Getriebe der Büromaschinen in der großen Stadt Amerikas.

Nicht ganz so überzeugend wie diese Mutter und diese Tochter sind Sinclair Lewis diesmal die Männergestalten gelungen. Es sind zwei, die den Weg dieses unscheinbaren Frauchens streifen: ein etwas romantisch angehauchter »Dichter«; im »Job« ist der Propagandachef bei einer Automobilfachzeitung. Er liebt Una, von ihr wird er geliebt. Er verläßt sie mißverständlich, um sie zwecks happy end wiederzufinden auf Seite 383 dieses Buches. Und dann ein Durchschnittsamerikaner, Alkoholiker, Autobesitzer und Feind von Romanen, 100 v. H. reiner Job, Herr Schwirtz; schon in dem vertrackten Klang seines Namens die Unleidlichkeit seines zugleich hohlen und selbstbewußten Daseins ausdrückend. Nicht gelungen, man fühlt es bei dem ersten Wort, das aus dem Munde dieser Type kommt – unwahr bei aller Gewöhnlichkeit, während Una, nicht minder Durchschnittsmensch, nicht weniger gewöhnlich, doch in jeder Äußerung wahr ist – man fühlt es, man erlebt es mit; »es ist so«. Vielleicht fehlt dem Autor die Unbarmherzigkeit, die Welt unbarmherzig wiederzugeben – ohne Widerruf. Das verblühende Leben. Die Verfettung. Die mit jedem Jahre besser werdende Automobilmarke – die Art und Weise, wie das moderne Leben (jedes Leben in der Zivilisation) den Menschen frißt, so wie er gebacken ist. Und gerade das muß dem Dichter vorgeschwebt haben. Deshalb ist er bewußt von dem Sweet-heart-Typ der heutigen Amerikanerin abgewichen. Aber weshalb blieb er sich nicht treu? Was soll der Zufall, der hier Menschen der inneren Verwandtschaft nach zusammenführt, wo es doch der Wirklichkeit entspricht, daß man gerade dort am meisten sich mißversteht, wo man einander ganz nahe sein könnte. Irgendwie ist die Langeweile des Alltags dessen furchtbarste Tragödie. Das dauernde Auf-der-Suche-Sein. Tausendfache Begegnungen ohne Folge. Der unzureichende Reiz, der Zauber, der verblüht, bevor er geblüht hat. Die Flasche wird geschüttelt. Medizin ist deshalb doch nicht drin. Man muß die Kraft haben, die Nichtigkeit des Individuums in dem industrialisierten Zeitalter zu erkennen. Und wenn sie erkannt, sie folgerichtig zu zeichnen. An solcher Erkenntnis fehlt es Sinclair Lewis, einem der klarsten Soziologen Amerikas, nicht. Klarer als in dem Typus einer Una Golden kann man die Situation eines mittellosen, untalentierten Massenwesens in einer Viermillionenstadt nicht darstellen.


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