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Gerhart Hauptmann, Buch der Leidenschaft

Ist Leidenskraft gleichbedeutend mit Erlebniskraft? Fast könnte man es glauben, wenn man Hauptmanns neuestes Werk liest. Es ist mehr ein Buch der leidenden Liebe als der tätigen. Ob man es als Teil einer gewaltig konzipierten Selbstbiographie oder ob man es (mit größerer Wahrscheinlichkeit) als eine Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen nimmt – auf jeden Fall strömt eine fast unabsehbare Fülle des in allen Bezirken des Menschlichen Erlebten, also des Erlittenen, aus dem großen Werk. Aber auch diese geistige Fülle, so berauschend sie ist, erscheint mehr auf den Mann und Helden dieses Buches von außen eingeströmt zu sein als von ihm ihren Ausgang genommen zu haben. Vielleicht liegt diese Eigenart in dem Umstand begründet, daß hier Hauptmann mit keinem klaren Wort sein zeugendes Schaffen, seine künstlerische Tätigkeit, seine Bühnengestalten, seine Menschenschöpfungen berührt hat. Wenn wir also den Helden dieses Buches, der nie mit Namen genannt wird, mit dem Dichter personifizieren, so werden wir hier nur etwas (nein, nicht etwas, sondern fast alles) über den Privatmann hören, wir werden eher seinen Schatten sehen, den er wirft, als das Licht, das er verbreitet. Leidenschaft in allem: gewiß. Aber hier nicht die Leidenschaft sozialen Mitleids, sondern die Leidenschaft eines der Welt hingegebenen, vor der Welt sich hinwerfenden Mannes, der sich ohne einen Augenblick des Zögerns verliert. Und sich, mehr einer Gnade folgend als einem männlichen Entschluß, an jedem Ende, das ist, an jedem frohen Anfang, wiederfindet. Tasso – es bleibt dabei, aber ein Tasso ohne einen Antonio. Kein Antonio – denn die Freunde wechseln, und die Freunde aus dem Blut, Vater und Bruder, bewähren sich nicht. Menschlich ergreifend ist dieses Dasein, Sprechen, Bauen, Schenken und Kämpfen in jedem Augenblick.

Drei ungeheure, von bloßer Menschenkraft kaum zu meisternde Konflikte entrollen sich aus dem immensen Panorama eines leidenden großen Herzens: das erste, das an der Oberfläche liegende Problem, die am leichtesten zu heilende Wunde: ein Mann zwischen zwei Frauen, beiden treu und untreu zugleich. Melitta, Gattin, Mutter der Kinder, die gesicherte Ordnung hier – und dort Anja, das ewig werdende, niemals zu fassende und ebendeshalb stets innigst ersehnte Wesen; herbe Knospe, mit dem ganzen Sommer im keuschen Herzen. Und da das Werdende immer und überall dem Seienden voraus ist, wandert das Leben des Helden dieses Buches von Melitta zu Anja. Melittas sture Teufelei, ihre moralischen Erpressungsversuche aber machen den Mann zu ihr hin schwanken. Hier erkennt man, wie tief dem Wesen Hauptmanns das Mitgefühl mit jeder leidenden (wenn auch noch so teuflischen, diabolischen) Seele angeboren ist. Er folgt der bösen Frau, weil er ihr Leiden so bis ins Innerste, Bitterste nachfühlen kann, er folgt ihr gegen seinen Willen, gegen sein besseres Wissen, gegen seine Natur. Anja ist ja seine Natur, das Selbstverständliche, die holde, helle Frau ohne hervorstechende Eigenschaften, die er liebt, weil sie auf der Welt ist, die er mit seiner Liebe nur bestätigt, sie nicht vergötternd, sie nicht aufwühlend und zerstörend. Aber die andere ist viel tiefer erlebt, weil viel tiefer erlitten – Leidenskraft, soll sie dasselbe sein wie Erlebniskraft? Bei Männern wie Hauptmann vielleicht.

Der zweite Schicksalsabgrund, schon viel schwerer zu überspringen, vielleicht nur mit dem Aufgebot aller virilen Kräfte, ist der Kampf mit dem Bruder, mit dem Mann mit dem rotblonden Schnurrbart und dem dürftigen Ziegenbärtchen, mit dem ewig Wollenden, nie Befriedigten. Eine in Bitternissen verlorene Seele, um die er, der glückliche Bruder, der von Erfolg gekrönte, immer wieder mit keuschester Liebe wirbt. Vergebens. Schon dieser Konflikt ist hier kaum angedeutet in seiner ganzen Lebensschwere. Eigenartig bezeichnend nur die Abschiedsszene, die Abschiedsatmosphäre, die letzten Worte des umfangreichen Buches: So ist es: Der Held hat den ersten Konflikt glücklich gelöst, er hat – und nach welcher Odyssee des Leidens und der himmlischen Last – Anja geheiratet. Sein Haus ist gegründet, er, seine Frau, sein Kind haben »eine Bleibe«. In der Halle seiner palastartigen Villa (Palast und Villa müssen es sein) hat die Trauung stattgefunden. Es folgt das kleine Hochzeitsmahl. Klein in der großen Halle, wie er ausdrücklich sagt. Doppelt groß, weil er sich vielleicht jetzt, an dem Glanz- und Triumphtag seines Lebens besonders einsam fühlt. Denn, das ist des langen Liedes Schluß: »Eine Teilnahme meiner Familie fand nicht statt.« Vater? Mutter? Bruder? Freunde. Niemand. Odysseus allein.

In nüchterneren Worten hat niemals ein gewaltiger Lebenskämpfer seine Niederlage festgestellt. Aber es ist und bleibt nur eine Feststellung. Keine Anklage. Sie ist seine Sache nicht. Er ist kein Tragiker, dieser Hauptmann, sowenig wie Goethe einer war. Äschylos war es. Kleist, der Dichter des Hiob, dessen Hauptmann hier oft Erwähnung tut, aber er selbst ist es nicht. Das ist sein Glück, seine Schwäche auch wie so oft. Das ist das dritte Problem, das unüberbrückbare, unlösliche, der letzte Knoten. »Nicht anklagen, niemand anklagen!« sagt er erschütternd an einer Stelle. »Auch sich nicht anklagen, auch sich nicht verklagen. Überhaupt nicht im ewig Gestrigen wühlen, wie in einem beizenden Rauch ausbrodelnden, heißen Sumpf! Verzeih auch dem, der dir nicht verzeiht: Ich will auch meinem Bruder verzeihen, was zu verzeihen und was nicht zu verzeihen ist...« Schwer wiegt hier jedes Wort: Nicht nur der Bruder ist der Angeklagte, sondern auch der Held selbst steht vor dem Gericht seines eigenen Gewissens. Verzeihen, was nicht zu verzeihen ist? Darf man dies? Darf man es, weil man es muß? »Du sollst lieben, nicht urteilen«, sagt er. »Urteilen heißt nichts anderes als richten und meistens zugrunde richten ... Ich fasse Vorsätze ...«

Hier nähert sich das Werk dem eigentlichen Kernpunkt, dem schwierigsten, dem heimlichsten Punkt der grandiosen Beichte, die damit auch auf dem unheimlichsten Punkt angelangt ist: auf das Sichselbstanklagen, das Sichselbstsehen und Sichselbstrichten, Richter, wo er versagt, gemessen an seinem eigenen Maß. Er liebt zwei Frauen, einer nur kann er gehören. Er liebt den hassenden, mißgünstigen Bruder, und doch kann er sein aufdringliches Licht nicht so unter den Scheffel stellen, daß es den neiderfüllten Kain nicht störe. Und er selbst: er ist, selbst-bewußt, ein echter Sohn der Götter. Zu irdischen Staubgeborenen steigt er (hochgesinnt oder hochmütig?) herab, seiner selbst bewußt bis in den Traum. Grandios in seiner michelangelesken Melancholie, dieses Sich-selbstbewußt-Werden, das Erkennen des Staubes und Dreckes, unter dem er wandelt, und das, an das er sich hängt und das sich an ihn hängt. Weil er sich, der Lichtgeborene, mit allem Staubgeborenen gepaart hat, glaubt er, alle Welt müsse ihm diese Erniedrigung, diesen Fall Hauptmann ansehen, er will sich verkriechen, ein neuer Adam nach seinem Soana. Nein, nicht als Ketzer, nicht als der fünfte Apostel Emanuel Quint will er dastehen, aber als gefallener Erzengel lebt er dahin. Durchaus nicht immer von aufrauschendem Schwunge himmelwärts getragen, sondern oft genug über grobe Ackerschollen stolpernd; nur den Blick am Himmel hangend, und selbst das nicht immer. Ein reicher Mann. Ein aus der Fülle aussäender, ein üppiger Verschwender mit geschlossenen Augen, der Seligkeit des Sich-Verlierens hingegeben, und dieses grandiose Gebenwollen ist sicher das Geheimnis seiner Zeugungskraft. Aber den quellenden, den üppigen, reichen sieben Jahren folgen zeitlose Räume innerer Leere, fast unvorstellbarer Verzweiflung. Vergeudung, Reue, Vernichtung, Selbstqual, erbitterter Kampf gegen sich selbst, ein Rütteln an den Voraussetzungen seines Wesens, denen er unbarmherzig gegenübersteht – Richter und Angeklagter zugleich. Er liebt sich selbst. Wer könnte denn auch leben und schaffen wie dieser Mann, ohne sich selbst aus tiefstem Herzensgrunde zu bejahen. Aber wie er einmal sehr tief sagt: Der Liebende neigt zur Selbstquälerei.

Wer den Anblick dieses prometheischen Menschen ertragen kann, wie er mitten in der Fülle des Lebens und des Glückes verdurstet und mitten in der Gnade an der Gnade verzweifelt und dann tapfer, stolz und gütevoll wieder sich ermannt – wie er steigt, irrt und fällt – der lese dieses Buch. Es gehört zu den echtesten Dokumenten eines ewig geprüften und ebendeshalb ewig sich bewährenden großen Herzens.


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