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Anton Tschechow, Der schwarze Mönch

Ein berühmter russischer Schriftsteller hat das Wort geprägt: Wir kommen alle aus Gogols Mantel. Herrlich das Wort; herrlicher, über den tiefen Sinn dieses Wortes hinaus, die leibhaftige Vorstellung, wie aus den Falten des Mantels, des in seiner Demut berühmten, des in seiner Dürftigkeit unnachahmlich schönen Gewandes, wie aus den Falten dieses trésor des pauvres heraus die unzähligen Figuren der russischen Dichter steigen, nicht nur aus dem pelzbesetzten rauhen Stoffe sich entwirren, sondern auch aus dem Halsausschnitt des Mantels frei emporwehen und anderen sich zugesellen, die aus den Fußsäumen hervorgleiten und aus den breit und schräg angehefteten Taschen herabfallen. Alle diese Gestalten in der Fülle der unnachahmlich stolzen Demut, der herrischen Sklavennatur, wie sie vielen Figuren und Seelen dieses gestaltenreichsten Volkes bewohnter Erde eigen ist.

Wie aber versteht man den Sinn des Wortes? Was ist der Mantel? Ist es etwas Einmaliges, einmalig für den Dichter, einmalig für den Leser, einmalig für die Nation? Ist je in historischem Sinne die Zeit dagewesen, da man die Russen das Volk der Akaki Akakiewitsch nennen konnte? Ist denn dieser Mantel ganz von russischen Händen zugeschnitten, entworfen, geheftet und genäht, sind seine Säume, um besseren schärferen Kniff zu gewinnen, sämtlich durch die niedrigen, eher sand- als elfenbeinfarbenen Zähne des nationalen Verfassers gezogen worden?

Immer bleibt es schwierig, so sehr bezeichnend auch die künstlerischen Leistungen für eine Nation sein sollen, den gerechten Anteil der Nation an dem einmaligen Kunstwerk zu bemessen. A posteriori will man alle Eigenheiten der großen, volksmäßigen Gesamtheit mit mikroskopischer Genauigkeit den großen, »repräsentativen« Kunstwerken der Nationen anmerken: A priori aber sind die Charakterisierungen schon weniger mikroskopisch, weniger sicher und weniger voll von unbedingtem Eigenlob. Alle völkischen Propheten wollen Historiker sein, Richter und Dichter; keiner aber Seher und Künder.

Sicher ist, daß Gogols Mantel einer ganzen auch heute noch nicht abgeschlossenen literarischen Epoche den Stempel aufgedrückt hat: Zum erstenmal war es ein »Mühseliger und Beladener«, ein kleiner Held, ein namenloser, ein bürgerlich gekreuzigter, ein winziger Christus hinter dem Aktentisch. Vielleicht nur christlich, und nicht Christus – ein aus dem Komischen ins Tragische, aus dem Heroischen ins Groteske gewendeter Mensch, ein leidender und doch lächerlicher Mensch. Dies ist das Neue, dies das Bleibende.

Zum erstenmal ist das Kleine, das lächerlich Reale, die »Rangklasse«, groß gesehen, mit allem Ernst angefaßt, und in diesem Ernst liegt seine Güte. Dieser Ernst hebt auch das »Zauberische« in dem »Mantel« aus dem einfach Phantastischen, dem E. T. A.-Hoffmannartigen in eine andere Sphäre.

Dieser neuen, eigenartig russischen, realen, greifbaren, rauhen Phantastik sind die späteren russischen Meister nicht alle treu geblieben, wohl aber dem Ernst, der Würdigung des Kleinen und Kleinsten. Daher ihre Liebe zur Natur, keine Liebe zur heroischen Natur, wie sie selbst Stifter nicht verleugnet (Wüste im »Abdias«, Schneesturm und Hochwasserkatastrophe in der »Mappe meines Urgroßvaters«), sondern es zieht auch die Naturliebe der Russen das Kleine, das Alltägliche vor, der Russe beugt sich auch nicht vor der Natur, noch auch scheut er sie, sondern er sieht, vielleicht als der erste in der Weltliteratur, in der Natur etwas Lebendes, weil Leidendes.

Von Gogol zu Tschechow ein weiter Weg, aber doch einer. Von Gogol, dem Negerblütigen, Urrussischen zu Tschechow, dem Westeuropäischen, »Angekränkelten« – oder darf man sich einmal erlauben, das Russische nicht als Quell ewiger Gesundheit und Jugendfrische, das Europäische nicht als Pandorabüchse aller Leiden, Verirrungen und Laster zu sehen? Einerlei, Tschechow liegt an der westlichen Grenze Rußlands, wie Gogol in dessen asiatischem Zentrum.

Man muß dem Wiener Verlag Zsolnay dankbar sein dafür, daß er uns in dem Bande »Der schwarze Mönch« ein Werk Tschechows zugänglich gemacht hat, das uns diesen Dichter von einer neuen, eben der phantastischen Seite zeigt, einer Seite, die nicht für ihn so sehr bezeichnend ist wie für die Nation, aus der er hervorgegangen und in die er eingegangen ist, für immer, wie wir glauben. Zwar: welcher Schätzung er sich in dem jetzigen leninistischen Rußland erfreut, ist mir nicht bekannt. Möglicherweise keiner außerordentlichen, denn das Bürgerliche, geben wir sogar zu, das Kleinbürgerliche verleugnet sich bei Tschechow nie. Und doch! Welche Weite, welch ein Herz, welch eine Fülle! Auch das Phantastische ist bei ihm kleinbürgerlich, vorsichtig, zart, es schlägt die Augen scheu auf und macht sich nichts wissen, darin liegt seine scheue, seine verhaltene, phrasenlose, »gedeckte «, eben kleinbürgerliche Liebe. In der Hauptnovelle des Bandes, in der Titelnovelle, kommt ein Gespenst vor, ein Schemen, romantisch in die Tracht eines Mönches gekleidet. Es erscheint nicht wie aus einer Gewitterwolke, einer geisterbleichen, in die schemenhafte Seelenverfassung eines auf immer vereinsamten Menschen hinabgeschauert, wie Maupassants »Horla«; sondern es kommt, freundlich eher als feindselig, mehr begütigend als drohend mitten in ein Liebesidyll; unter den Schatten von blühenden Obstbäumen duckt es sich, im Dunstkreise an Spalieren prachtvoll reifender Pfirsiche entfaltet es sich, ein Gespenst, sicherlich, aber nicht die Ankündigung von Tod und Verderben auf den papierfarbenen Lippen tragend, sondern sich ohne Gewaltsamkeit dem Leben angleichend; ein Spiegelbild, sicherlich, aber nicht das des ewig isolierten einzelnen, sondern eher ein Zeugnis dessen, daß der Mensch nie allein sei. »Hinter den Fichten eines Gutsparkes kommt es hervor, lautlos ohne das leiseste Geräusch. Ein Mann von mittlerem Wuchse, mit unbedecktem grauem Haupt, ganz in Schwarz, barfuß, ähnlich einem Bettler. Auf seinem bleichen Gesichte zeichneten sich scharf schwarze Augenbrauen ab. Dieser Bettler oder Sonderling nickte freundlich, kam lautlos zur Bank und setzte sich. Kowrin erkannte in ihm den schwarzen Mönch. Eine Minute lang betrachteten beide einander. Kowrin erstaunt, der Mönch zärtlich, von Zeit zu Zeit ein bißchen listig, mit einem Ausdruck von Selbstzufriedenheit. ›Aber du bist doch ein Spiegelbild‹, sprach Kowrin, ›warum bist du hier und sitzest an dieser Stelle? Das paßt nicht zur Legende.‹« Hier zeigt sich der Faden, noch von dem Gewebe, woraus Gogols Mantel gearbeitet. Das Nicht-zur-Legende-Passen, das Irdischsein und himmlisch zugleich, das Leiden und Lächerlichsein in einem.

Man muß diese zarte, ganz mit erdhaften und doch nirgends wirklich faßbaren Farben gemalte Schilderung eines blühenden Obstgartens mit seinem ganzen Überfluß an Früchten, Raupen und zusammengedrängter, duftender Schwüle ganz in sich aufgenommen haben, um das tief Gespenstige dieses kleinen, geduckten, jenseitigen Gastes nachzufühlen. Und dann ein Stück Leben, ein Stück Rußland von 1900 oder 1910. Was ist? Was bleibt? Der Garten bleibt nicht, nicht die Schwüle der Nachtluft im Pfirsichblütenduft, nicht die Jugend, die seelenhafte, unversiegliche. Alter, Enttäuschung, Wirklichkeit, Sorgen und Mühen, die ganze Schwere des Daseins, die komische Tragik des Kleinbürgerlichen wird von Tschechow wie eine erst wegzuwehende, dann aber immer schwerere Wolkenschicht darübergeschoben. In den alltäglichen Gang eines bürgerlichen Schicksals begleitet der schwarze Mönch seinen Helden, ohne von ihm zu weichen, sein alter ego, das heißt sein Gegen-Ich, sein metaphysisches Teil, die Verkündigung seiner »wirklichen«, seiner bleibenden, seiner seligen, weil göttlich anerkannten Existenz.

Auch in der zweiten Erzählung des Bandes der Kampf zweier »Ich«. In der ersten Erzählung war es der Kampf zwischen dem irdischen und dem bleibenden Ich, in der zweiten Erzählung ist es der Kampf zwischen dem Besseren und Schlimmeren, zwischen dem Echteren und dem Sittlicheren. Hier ist nichts mehr von Mönchen: freilich auch nichts mehr von blühenden Obstgärten. Keine Jugend mehr und keine Illusion, nur noch Wirklichkeit. Aber welche Wirklichkeit! Welch ein Leiden, welch eine Lächerlichkeit! Welche Mißverständnisse zwischen dem guten Wollen und dem bösen Wirken. Wie hier ein liebender Mann mit den Augen der hassenden Frau gesehen ist und sich bis in die innersten Herzensfalten entschleiert, wie hier eine hassende Frau mit den liebenden Augen eines alternden Mannes gesehen wird – es schauert einen, wenn man es liest. Manche Seiten sind mit solcher Größe, solcher Schlichtheit geschrieben, daß sie als persönliche Konfession des lebenden Dichters wirken. Dieser Paul, diese Natalie sind Heilige, wenn das Leiden den Heiligen macht, leidend sind sie und lächerlich zugleich. Wahr vor allem und unvergeßlich für jeden, der sie gesehen hat und sich selbst in ihnen.


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