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Sergej Tretjakow, Den-Schi-Chua

Der bekannte russische Schriftsteller Tretjakow leitet sein letztes höchst merkwürdiges Buch (»Den-Schi-Chua. Ein junger Chinese erzählt sein Leben. Bio-Interview.« Malik-Verlag) mit folgenden Worten ein: »Das Buch Den-Schi-Chua haben zwei Menschen gemacht. Den-Schi-Chua selbst hat den Rohstoff der Tatsachen geliefert, und ich habe sie ohne Entstellung gestaltet. Ein halbes Jahr unterhielten wir uns täglich vier bis sechs Stunden. Er stellte mir freigebig die Tiefen seines wunderbaren Gedächtnisses zur Verfügung. Ich wühlte darin herum wie ein Bergmann. Ich war abwechselnd Untersuchungsrichter, Vertrauensmann, Interviewer, Gesprächspartner und Psychoanalytiker.«

Den-Schi-Chua: junger chinesischer Student am russischen Seminar der Nationaluniversität in Peking. Stammt aus Setschuan, einem kleinen Provinzbezirk mit nur 70 Millionen Einwohnern. Seine Sprache ist nicht rein chinesisch, sondern setschuanisch; als er in Peking eintrifft, muß er die Sprache der Weltstadt lernen. Er lernt sie. Er lernt auch Russisch, vielleicht nicht »perfekt«, die chinesische oder setschuanische Zunge kennt das R nicht – aber er lernt genug, um sich mit dem russischen Schriftsteller und Politiker aussprechen zu können, und das Ergebnis dieser Geistesehe auf Zeit ist dieses Unikum.

Ein Jugend-, ein Erziehungsroman größten Ausmaßes, in dem. sich der Geist des östlichen Menschen fast restlos durchsetzt gegen den des westlichen. Für uns liegt Rußland östlich, hier in. diesem auch weltanschaulich ganz einzigartigen Werke sieht jemand Rußland aus der Tiefe der jahrtausendealten chinesischen Überlieferung als das moderne, aufgeschlossene Gebiet des Westens an, das Land der gefestigten Tradition, während China noch das gigantische, jahrtausendealte Kind ist, das eben zu erwachen sich anschickt.

Ein Kunstwerk im Sinne des kunstmäßigen Aufbaues ist dieses Buch nicht. Der Held ist kein Charakter – eher ein menschlich bezauberndes, viel vermögend es Talent, aus der Stille kommend, der letzte Sproß mächtiger Schwert-Ahnen, nie frei von den Banden und Bündnissen der Familie. Ein zarter, fein empfindender Sohn eines starken, herben, kaltherzigen, idealistisch strengen, jeder Sentimentalität abholden Vaters.

Ein einziger Sohn. Ein einziger – und sein Eigentum. Der Russe kann, soweit man aus der etwas gekürzten, aber jedenfalls sehr sprachgewandten Übersetzung schließen kann, die Berichte des jungen Studenten nur »eingerichtet« haben. Dafür sei ihm gedankt. Er hat den zarten Schmelz dieser Jugendbeichte eines Schwächlings, dem aber Grausamkeiten nicht seelenfern sind, nicht angetastet.

Es ist ein persönliches Dokument. Aber dieser einzelne, der hier persönlich von sich, seinem Vater, der Mutter und der Stiefmutter, der Schwester, der Frau, von seinen Kameraden, von den Mönchen eines Bettelklosters ebenso plastisch wie von der »Studenten-Bohème« der Universität berichtet, er gibt uns das ganze China von heute. Kein Winkel des häuslichen wie auch des politischen Lebens, der hier nicht mit wenigen, aber meisterhaft gesetzten, scheinbar mühelos hingewischten Zügen seines Pinsels (Chinesen malen die Schrift mit dem Pinsel, sie schreiben sie nicht mit der Feder) uns deutlich vor Augen gebracht wäre – und mehr als das, es gibt in diesem Buche viele Stellen von unvergeßbarer Eindringlichkeit, etwas, dem die abgebrauchte Bezeichnung des »Allgemeinmenschlichen« in Wahrheit zukommt. Das heißt, es gibt Partien (immer nur Einzelheiten, gewiß, aber was für Einzelheiten!), die zum schönsten gehören, das ein Sohn von seiner Mutter, was ein Kind von seinem Vater, ein Freund vom Freunde, ein Auge von der Landschaft, was überhaupt ein Dichter von den Verwicklungen, Entwicklungen, Leiden und Freuden seines Herzens sagen kann und was jedem verständlich ist, was jeden an seine eigene Jugend, an seine eigene Einsamkeit, an sein Einsiedeltum und Eineinhalb-Siedeltum erinnert. Tage der Wehmut, Tage der Erinnerung.

Vielleicht hat jeder Mensch eine Epoche in seinem Leben, in der er am meisten er selbst ist, in der er, ich möchte sagen, sein »klassisches Ich« entfaltet. Hier, wie zum Beispiel bei dem großen Dänen J. P. Jacobsen (auch dieser ein zarter, lungensüchtiger), Sohn eines brutal gesunden Vaters, ist es die Zeit des Knaben, die Epoche der keuschen Ermannung, ja, das ewig Jünglingshafte, das streng geschlossene Ephebenhafte, worin er uns am tiefsten ergreift, womit er uns am holdesten bezaubert, womit er sich zu Ende lebt, um in späteren, blasseren Jahren stiller werdend hinter seinem Jugendbildnis zurückzutreten, bevor er dann ganz im Flusse der Zeiten verschwindet.

Das ist es, was dieses Buch so einzigartig macht. Nicht die revolutionäre Wirtschaftslehre, nicht das »Kommunistische Manifest« und die Bauernbefreiung im fernen Rußland. Diese Sprache kann der junge Mensch nicht verstehen. Versteht er doch, in einer aristokratischen Einsamkeit höchster Bildung aufwachsend, nicht einmal die Sprache der Bootsleute auf dem. Flusse, die doch Fleisch von seinem Fleische sind. »Die Bootsleute singen ein Lied. Die Worte, die sie singen, findet man in keinem Wörterbuch. Das ist die einfache Bauernsprache, die mir, dem Gelehrten, unverständliche Sprache der Kulis, die keine Hieroglyphen kennen ...« Aber eine andere Sprache gibt es, und die ist es, die ich unter dem »Allgemein-Menschlichen« verstehe, mögen auch die Gebräuche und Sitten des täglichen Lebens hier und dort verschieden sein wie West und Ost – und eine von den unzähligen derartigen Stellen möchte ich hier anführen als das Monument einer Mutter, gesetzt im Herzen des früh verlassenen Sohnes. Der Dichter beschreibt das Leichenbegängnis und die Trauerzeremonien seiner in Arbeit, Elend und Einsamkeit gestorbenen Mutter: »... Quer durch den Gebetssaal ist ein weißer Vorhang gezogen. Er trennt den Altar und den Sarg, der vor dem Altar steht, vom Eingang ab. Neben den Räucherfässern brennen zwei Ewige Lämpchen. Hinter ihnen sollte auf dem Tisch Mutters Porträt stehen. Aber es fehlt. Mutter hat sich immer geweigert, sich porträtieren zu lassen. ›Erstens‹, hat sie gesagt, ›sind jetzt schwere Zeiten, wir haben Revolution, und es ist gefährlich, Bilder im Hause zu haben. Das Glück kann uns untreu werden, und man kann uns nach den Bildern ausfindig machen. Und zweitens: wenn ich sterbe, dann gehen die Kinder zu meinem Bild und weinen, und ich will nicht, daß sie weinen ...‹« Kann es Schöneres geben? Einfacheres, Wahreres? Um solcher Sätze willen lese man dieses Buch, ein Buch, wie es nur die Wirklichkeit schreibt, die Wirklichkeit, gesehen durch ein großes Herz.


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