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Alfred Wolfenstein, Hier schreibt Paris

Alfred Wolfenstein, ein Lyriker von Rang (seine »Gottlosen Jahre« sind noch nicht vergessen), ein Übersetzer von außerordentlichem Einfühlungsvermögen und prachtvoller, männlicher Sprachgewalt (seine Rimbaud-Übertragung ist in ihrer Art unübertrefflich), hat es versucht, die größten Geister des jetzt lebenden Frankreich in charakteristischen Äußerungen zu sammeln. Es sollte ein Gegenstück zu dem Sammelwerk »Hier schreibt Berlin« werden, und ist es auch geworden.

Kaum einer der repräsentativen Männer Frankreichs hat Wolfenstein seine Mitarbeit verweigert, es sind Lyriker und Politiker, Romanschriftsteller, Musiker, Regisseure und Architekten vertreten. Die Beiträge sind nicht gleichwertig, aber keiner steht unter dem Durchschnitt, und einige sind überragend, sind wahre Dokumente, sind Stimmen des Volkes jenseits der Vogesen. Man kann diese Sammlung kaum übergehen, wenn man sich über den Stand des geistigen Lebens in Frankreich 1931 orientieren will. Aber auch der Leser, der sich nur an einer vollkommenen Seite Prosa laben will, wird das Buch, das sich ab und zu etwas schwer, aber nie schwierig liest, nicht vor der letzten Seite aus der Hand legen.

Nüchterner Idealismus – das ist die geistige Haltung fast aller Beiträge. Nirgends zügelloser Rausch, nirgends verschwommene Sentimentalität. Am klarsten kristallisiert sich diese heilige Nüchternheit sonderbarerweise in zwei herrlichen Erzählungsfragmenten heraus, deren eines wir Gide verdanken, während das andere dem in Deutschland noch viel zu unbekannten Julien Green zugehört. Julien Green spricht über den Schlaf – er erzählt in wenigen Worten, die durch eine in ihrer gehaltenen Kraft unbeschreibbar geheimnisvolle Suggestion ausgezeichnet sind, eine Geschichte zweier Menschen. Zweier Völker? Zweier Zeiten menschlicher Entwicklung? Wer weiß es. Julien Green ist ein Mann, bei dem es keine Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Mythos gibt – nicht leicht dem breiten Leserpublikum zugänglich und doch einer der ganz wenigen, die der zungenlosen Masse Sprache, der maßlosen Menschengeschichte Sinn geben – oder wenigstens geben könnten. Vielleicht ist dieser Julien Green nur Wahlfranzose – sein englischer Name deutet darauf hin –, aber seine sechs Seiten sind mit noch zwei Beiträgen das Französischste, was dieser innerlich und äußerlich recht umfangreiche Band enthält.

Außer Gide, den ich schon nannte, hat noch ein kleiner Aufsatz von Marcel Aymé starken Eindruck auf mich gemacht. Der Titel lautet: »Die Studenten«, und ganz harmlos fängt diese Skizze damit an, daß sich ein junger Student: äußert: »Ich bin im November vorigen Jahres nach Paris gekommen, um mich für das philologische Examen vorzubereiten. Auf dem Bahnsteig meiner kleinen Stadt Auxerre gab mir mein Vater wichtige Ermahnungen auf den Weg mit ...«, und so geht es fort, in schlichtester, fast einfältiger, absolut sachlicher und phrasenloser Sprache. Im Verlauf weniger Minuten wird – nicht allein die ganze materielle Lebenssphäre eines Studenten von heute aufgerollt bis zu den Preisen und der Qualität der Mahlzeiten – sondern darüber hinaus werden drei soziologische Schichten wie durch den einfachen, glatten, aber unnachahmlich treffenden Schnitt eines genialen Anatomen klargelegt: der indifferenten, zweckbewußten Mittelmäßigkeit (des Schreibers des Aufsatzes) eines kommunistischen und eines nationalistischen Studenten, Mitglied der Action francaise. Genau wie bei Julien Green ist die Perspektive dieser kleinen Prosaskizze umfassender – ja, das Wesentliche der menschlichen Koexistenz viel schärfer aufhellend als tausend Seiten Bädeker, klitternder Welthistorie oder blutlos analysierender Seelenkunde oder vager ethnographischer Psychologie.

Ein kleines Beispiel macht dies klarer als lange Worte: Der Student spricht an einer Stelle über einen bestimmten Punkt in Paris – und sofort wird das Wesen der »massenhaften« Menschenansammlung mit dem Wesen des Unersetzbaren, des alleinzigen Individuums kontrapunktiert und stellt beide Seiten gegeneinander und dadurch auch an sich fest: »Einige Minuten nachher verließ auch ich die Terrasse, und der Zufall eines Spazierganges führte mich nach Montparnasse. La Rotonde, le Dôme und la Coupole waren zum Platzen voll, drei dichtgedrängte Caféhaufen, damit beschäftigt, ihre Apéritifs zu schlürfen, und in einem Behagen hindösend, dessen Geheimnis ich zu ergründen suchte. Ich ließ mich auf der Terrasse der Coupole nieder, mitten in einer Reihe trinkender Menschen, die dicht aneinandergepreßt waren. Da begriff ich, all diese Leute waren in dem Bewußtsein glücklich, eine ungeheure Masse zu bilden, die auf die Bürgersteige überquoll. Ich begriff, warum Montparnasse besonders bei Ausländern beliebt ist, die diesen Stadtteil nach ihrem Geschmack gestaltet haben, um sich aneinander zu wärmen. Franzosen wäre dies nie eingefallen ...« Gibt diese doch an sich ganz unscheinbare Bemerkung des unbekannten Franzosen nicht zugleich eine ganz tiefe, das heißt, ins Weite weisende Perspektive des politischen Franzosen? Des Menschen der Grenze, der gewollten Isolierung?

Solche Meisterleistungen der französischen Schriftsteller wären in einer anderen Literatur, ohne große und lebenskräftige, fast durch nichts zu unterbrechende Tradition, nicht leicht denkbar. So sieht man zahlreiche Beiträge hier, welche die erlauchten Namen eines Pascal, eines Voltaire, eines Flaubert tragen könnten. Besonders stark und deutlich ist die Nachfolge Prousts. Kleine in sich abgeschlossene, gedichtartige, aber von allem tönenden Lyrismus befreite Kunstwerke, welche den kleinen »Aufsätzen« gleichen, wie sie schon der ganz junge Proust unter anderem in »Tage und Freuden« hervorgebracht hat und die vielleicht wieder auf La Fontaine zurückgehen. Hier sieht man die meisterhaften, komprimierten Prosaskizzen von Marcel Jouhandeau: Bilder: Die Natur / Der Gefangene / Spiele / Blumenhändlerin / Säuferin / Verhaftung / Nächtlich / Ruhm / Die schwarze Ährenleserin / (und zum Schluß, wie bei Julien Green) Schläfer.

Viele dieser Beiträge sind so von Paris imprägniert, sind so in Paris aufgegangen, daß jede Distanz fehlt, auch die Distanz der Liebe, der Freude, der Bewunderung. Am stärksten hat sich diese Distanz daher logischerweise bei einem Nichtdichter, bei dem genialen Architekten Le Corbusier erhalten, dessen herrlicher, emporschwingender, aber ebenso wie seine Bauten ganz schmuckloser, nahezu klassischer Aufsatz an die grandiosen Grabreden der großen Rhetoriker zu Zeiten Ludwigs des Vierzehnten und Fünfzehnten erinnert. Bossuet von 1931. Aber nicht um die Grabrede eines verstorbenen Monarchen handelt es sich bei Le Corbusier, sondern um den Preis und den Lobgesang einer blühenden Stadt, die sich lange dem Liebenden, dem Wollenden, dem Mann versagt. »Ich möchte meine Liebe zu Paris in Worte kleiden«, sagt er, »Paris, ein Ort zitternd von Leben und doch mit der Atmosphäre einer großen Leere, in der die Kräfte wie im Wettkampf um Reinheit aufeinanderprallen. Die reine Idee allein ist Siegerin: wieviel Leichen ringsumher, wieviel Halbheiten, die unterliegen. So heiß ist der Kampf, so übermächtig die Masse säkularer Wahrheiten, mit denen man die neue Idee erdrücken kann, daß nur diejenigen Kämpfer widerstehen, die lachen, die trotz allem singen, die mit dem klaren Wissen um ihre völlige Uneigennützigkeit wirken ... Cartesianisches Paris, das keine Verwirrung kennt. Klares Paris ...« Dies ist die heilige Nüchternheit, hier ist der Ausdruck des männlich herben, kompromißlosen Idealismus – hier spricht vielleicht am verständlichsten die Stimme dieser Stadt, dieses Landes, dieses in seiner Klarheit vielleicht am dunkelsten Volkes, das zu gleicher Zeit wie Diamant zu leuchten und wie Kohle zu brennen weiß.


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