Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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33

Als Ann Learner um die Mittagsstunde in ihrem kleinen Kontor über der Korrespondenz saß, wurde sie plötzlich durch den Eintritt von Mr. Brook unterbrochen, dem der Juniorchef Mr. Grapes auf dem Fuße folgte.

Ann sah etwas überrascht auf, denn Mr. Brook machte ein ungemein feierliches Gesicht, und Mr. Grapes strahlte vor untertäniger Höflichkeit und sooft Anns Blick auf ihn fiel, knickte er zu einer respektvollen Verbeugung zusammen.

»Es tut uns herzlich leid, Miss Learner«, begann der alte Brook mit ehrlicher Bewegung, und Mr. Grapes nickte dazu sehr lebhaft, »aber Sie können natürlich in Anbetracht der besonderen Verhältnisse Ihre Stellung sofort aufgeben.«

Ann starrte den Chef mit großen Augen verwundert an.

»Was soll das heißen, Mr. Brook?« fragte sie verständnislos.

Brook rückte an seiner Brille und schmunzelte diskret.

»Wir haben gehört, daß Sie zu heiraten gedenken, Miss Learner, und da . . .«

»Oh, ich gedenke gar nichts«, unterbrach ihn Ann ehrlich empört, wurde aber dann feuerrot und begann etwas weniger entschieden zu sprechen. »Das heißt, es ist noch lange nicht soweit. Aber selbst, wenn es dazu kommen sollte, werde ich Sie vielleicht bitten, mich weiter zu behalten . . .«

Mr. Grapes kicherte so amüsiert, daß ihn das junge Mädchen ganz verdutzt ansah, und auch Mr. Brook wiegte höchst belustigt seinen Kopf.

»Das wird nicht gut gehen«, meinte er lächelnd.

»Ausgeschlossen«, krähte Mr. Grapes und krümmte sich vor Heiterkeit, soweit dies die Ehrerbietung zuließ.

»Weshalb?« fragte Ann unsicher, und es schien, als ob es in ihren hübschen Augen feucht schimmerte.

»Aber Miss Learner«, sagte Brook verzweifelt, »ich kann doch eine Lady Russell nicht gut als Korrespondentin beschäftigen.«

»Unmöglich«, bekräftigte Mr. Grapes und verdrehte entsetzt die Augen.

»Übrigens«, fuhr Brook hastig fort und zog sich nach der Tür zurück, »wird Ihnen dies vielleicht ein anderer besser auseinandersetzen können.«

»Jawohl«, bestätigte Grapes und folgte dem Seniorchef, indem er unter ungezählten Verbeugungen rückwärts schritt.

Ann wußte nicht, was um sie vorging, und nur so konnte es geschehen, daß sie sich von einem großen jungen Mann, der fast bis an die Decke des niedrigen Kontors reichte, in die Arme nehmen und ohne Widerstreben minutenlang stürmisch küssen ließ.

»Das war eine Unverschämtheit«, sagte sie, als sie nach einiger Zeit wieder zu sich gekommen war, und ordnete sich das etwas zerzauste Haar. »Wie konnten Sie überhaupt auf den unerhörten Einfall kommen, mich hier aufzusuchen und meinen Chefs solche Dinge zu erzählen?«

Harald Russell setzte das impertinenteste Lächeln Harry Reffolds auf. »Einmal mußten es ja die Leute doch erfahren«, meinte er unschuldig.

Ann sah dies schließlich ein und sprach daher nicht weiter davon. Dafür aber interessierte sie nun etwas anderes.

»Und was ist das für ein alberner Witz mit der Lady Russell?« fragte sie mit zusammengezogenen Brauen. »Wieder ein neuer Schwindel?«

»Nein, diesmal ausnahmsweise nicht«, beteuerte Harald und zeigte seine Zähne. »Und nun wird sich Harald Russell erlauben, seine Braut zum Lunch zu führen.«

»Nein«, sagte Ann sehr entschieden, »nun wird Sir Harald Russell zunächst einmal seiner Braut behilflich sein, die Korrespondenz zu erledigen. Hier . . .«

Sie drückte ihm ein mit verschiedenen Korrekturen bedecktes Briefblatt in die Hände und deutete auf eine Stelle. »Diktiere!« Dann setzte sie sich an die Maschine.

Sir Harald Russell klemmte mit einem Seufzer das Monokel ein und begann gehorsam: ». . . und im Vertrauen, daß Sie den höchsten Preis dafür erzielen werden, unterlassen wir es, Faktura über die Sendung beizufügen. Zu Ihrer Kenntnisnahme sei indes bemerkt . . .«

Ann Learner tippte mit großer Geläufigkeit, aber sie kam nicht recht von der Stelle, weil sie alle Augenblicke die Hand heben mußte, da sie bald am Halse, bald an den entzückenden kleinen Ohren ein seltsames Kitzeln verspürte.

 

»Meine Liebe«, sagte einige Wochen später Mrs. Emily zu der aufgeregten Mag und blickte dabei hoheitsvoll auf die Menge, die sich vor dem Hauptportal der Stiftskirche von St. Peter anzusammeln begann, »das habe ich schon lange kommen sehen. Wenn einmal die Karten so liegen, so wird unbedingt etwas daraus.«

Mrs. Emily nickte bekräftigend, und die wallenden Straußfedern auf dem breiten Hut machten noch immer einen sehr pompösen Eindruck, obwohl bereits Generationen von Motten an ihnen gezehrt hatten. Ihre bisher ganz leidliche Laune schien sich zu verflüchtigen, denn sie sah Mag plötzlich mit einem Blick an, der nichts Gutes verließ.

»Mir scheint, der Teufel hat mich geritten, daß ich auf deine Seidenstrümpfe hereingefallen bin«, brummte sie verdrießlich. »Das Zeug sieht ja ganz gut aus, wenn man, wie ich, ordentliche Beine hat, aber ich traue dem Plunder nicht recht, und es wäre sicher besser gewesen, wenn ich meine wollenen angezogen hätte. Ich glaube nämlich, ich kriege einen Schnupfen, wie ich ihn im Leben noch nicht gehabt habe, und wenn ich es dann auch noch in den Knien wieder bekommen sollte, dann wirst du etwas erleben.«

»Aber Mrs. Emily, ich habe gemeint, zur Hochzeit von unserer Miss . . .«, versuchte sich Mag ängstlich zu rechtfertigen.

Mrs. Emily mußte jedoch schon wieder niesen, und das verschlimmerte ihre Laune noch mehr.

»Du kannst schon ›unserer Lady‹ sagen, du Trampel. Und so etwas bekommt noch ein Legat von hundert Pfund«, entrüstete sie sich.

»Sie haben doch fünfhundert Pfund bekommen«, erwiderte Mag etwas spitz.

»Jawohl, fünfhundert, aber ich hätte tausend bekommen sollen, wenn solche Nichtsnutze wie du und Nick jeder hundert Pfund bekommen haben. Du wirst das schöne Geld doch wieder nur auf Fetzen vertun, und Nick wird es versaufen. Übrigens, wenn er sich heute betrinkt, will ich nichts weiter sagen, denn so ein Tag muß schließlich gefeiert werden, aber das nächste Mal fliegt er, denn Lady Russell hat mir aufgetragen, im Kastanienhaus Ordnung zu halten.«

Mrs. Emily hatte keine Zeit, sich länger mit Mag abzugeben, denn von der Victoria Street und von Whitehall her begann Auto auf Auto vorzufahren, und sie mußte gewaltig den Hals recken, damit ihr nichts entging.

Aus einem der ersten Autos half ein kleiner, älterer Herr einer älteren, großen Dame, und als Lady Crowford auf den Füßen stand, tippte sie dem kleinen Herrn mit dem Hörrohr ziemlich kräftig in die Seite und sagte höchst mißmutig: »Eigentlich werden mir diese ewigen Hochzeiten schon furchtbar zuwider, und ich bin froh, daß ich Cicely und Harald auf einmal abtun konnte. Aber daran bist nur du schuld. Wenn wir Kinder gehabt hätten – meinetwegen sogar acht –, so hätte ich sie einfach verheiratet und wäre nun sicher schon fertig. So aber muß ich die ganze Verwandtschaft unter die Haube bringen und das nimmt kein Ende.«

Sie stützte sich mit dem einen Arm auf den kleinen Herrn, mit dem andern auf ihren großen Stock und stapfte zum Portal.

Mr. Vane stürzte durch das dichte Gewühl auf Oberst Gregory zu und schüttelte ihm lange und herzlich die Hände. Er sah sehr frisch aus und war sicherlich bei bester Laune. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich bei dieser Hochzeit mittue?« fragte er verschmitzt und blinzelte den Oberst vielsagend an.

»Solange Sie nur auf fremde Hochzeiten gehen, ist dabei wohl keine Gefahr«, gab Gregory lächelnd zurück.

Mittlerweile schoben sich zwei Herren in etwas struppigen Zylindern die lange Autokolonne entlang, aber weder Burns noch Webster schienen sich unter dieser Kopfbedeckung sonderlich wohl zu fühlen.

»Kommissar«, sagte Webster mit Ehrerbietung und Nachdruck, »Sie wissen, daß ich Sir Harald Russell schon für einen tadellosen Gentleman gehalten habe, als er sich noch Harry Reffold nannte, aber daß er uns jetzt auch noch die hübsche Prämie für die Juwelen zugeschanzt hat, das finde ich einfach großartig.«

Burns nickte gedankenvoll und streichelte zärtlich seine Nase. »Sie sehen, Oberinspektor«, erwiderte er ebenso ehrerbietig und nachdrücklich, »daß es manchmal auch sein Gutes haben kann, wenn ein Mann, den man mit aller Gewalt ins Loch bringen möchte, nicht hineinkommt.«

Webster antwortete darauf nicht, sondern drehte den Kopf lebhaft nach links und rechts und reckte seinen gewaltigen Körper suchend über die Menge.

»Erwarten Sie jemanden?« fragte Burns harmlos.

»Jawohl«, gab Webster verlegen zu. »Mrs. Jane hat . . . wollte . . .«

In diesem Augenblick schwebte Mrs. Jane Benett in einem fabelhaften Kostüm und einer wunderbaren Pelzstola heran, und Mr. Burns und Mr. Webster schwenkten mit höflichem Gruß ihre Zylinder.

»Mrs. Benett«, sagte Kommissar Burns und sah mit einem bedenklichen Blick auf seine Kopfbedeckung, die er noch immer in der Hand hielt, »bitte beeilen Sie sich, mit Oberinspektor Webster einig zu werden. Ich bemerke nämlich eben, daß mein Zylinder nicht mehr lange aushalten wird, und einen zweiten kaufe ich mir in meinem Leben nicht mehr.«

»Oh . . .«, girrte Mrs. Jane verschämt, »Herr Kommissar . . .«

Aus dem großen, eleganten Wagen, der eben in langsamer Fahrt an ihnen vorüberglitt, sah das frohe Gesicht eines jungen Mannes, und als er die Gruppe bemerkte, winkte er lebhaft mit der Hand und zeigte mit einem strahlenden Lächeln seine weißen Zähne.

Burns und Webster grüßten respektvoll, Mrs. Jane Benett aber nahm mit einem letzten, liebevollen Blick Abschied von dem herrlichsten Traum ihres Lebens und schlug die Augen tränenschwer zu Boden.

Dann suchte ihre Hand ganz unwillkürlich eine Stütze in Websters Arm, und der Oberinspektor drückte die Hand mit solcher Gewalt an sich, daß sich Mrs. Jane für immer geborgen fühlen konnte.

 

Ende

 


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