Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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29

Oberst Gregory war bereits am frühen Vormittag nach London gekommen und hatte sich eine Weile in seiner Wohnung aufgehalten, wo er kurz nach seiner Ankunft den Besuch eines Herrn empfing, der vermutlich ein Arzt war.

Der sichtlich interessierte Nutt schloß dies aus der geheimnisvollen Tasche, die der Fremde mit sich trug, und aus dem leichten Geruch von Desinfektionsmitteln, der nach seinem Weggang im Ankleideraum verblieben war. Auch hatte der Oberst plötzlich einen neuen Verband, und es schien, als ob seine verletzte Hand bereits etwas beweglicher wäre.

Etwa nach einer Stunde befahl Gregory seinen Wagen, und Nutt erfuhr zu seiner Erleichterung, daß diesmal nicht William, sondern er zu chauffieren habe.

Gregory schien viel zu erledigen zu haben, denn es ging kreuz und quer durch Westend, und Nutt hatte Mühe, sich die verschiedenen Gebäude zu merken, vor denen er halten mußte. Zuweilen machte dies auch deshalb Schwierigkeiten, weil der Oberst dann noch eine ziemliche Strecke zu Fuß zurücklegte und irgendwo verschwand, um nach einer Weile aus einer ganz anderen Richtung zurückzukehren.

Es ging bereits auf ein Uhr, als Nutt den Befehl erhielt, beim Piccadilly Hotel vorzufahren, in dem Gregory zu speisen pflegte, und er beschloß, diese Gelegenheit zu nützen.

Kaum war der Oberst im Vestibül des Hotels verschwunden, als der Chauffeur den Wagen verließ und zur nächsten Telefonzelle eilte. Er hatte die Nummer, die er wünschte, im Kopf, aber trotz wiederholter Versuche bekam er diesmal keine Verbindung. Er war sehr betroffen, denn er wußte, wie rasch und zuverlässig diese Nachrichtenstelle sonst zu erreichen war, und es überkam ihn plötzlich ein unangenehmes Gefühl, das ihn gedrückt und nachdenklich zu seinem Wagen zurückkehren ließ.

Als Oberst Gregory seine Mahlzeit beendet hatte, blickte er auf die Uhr und überlegte eine Weile. Dann begab er sich in das Vestibül und rief Vane an, den er in seiner Wohnung in Bayswater erreichte.

»Wenn es Ihnen paßt, Mr. Vane, komme ich in ungefähr einer Viertelstunde bei Ihnen vorbei und hole Sie ab . . . Wollen Sie mir bitte sagen, wo sich das Kontor Ihres Anwalts befindet . . . Wie? Drury Lane . . . Jawohl. Lincoln's Inn. Gewiß . . . Würden Sie vielleicht mit mir einen kleinen Umweg machen? Ich möchte vorher gern noch eine dringende Angelegenheit in Kilburn erledigen, und wir könnten von Ihnen aus direkt hinfahren. Die Sache würde nur ganz kurze Zeit in Anspruch nehmen . . . Sie sind einverstanden . . .? Sehr nett. Also, auf Wiedersehen.«

Als Gregory vor dem Haus des Bankiers vorfuhr, trippelte dieser bereits wartend auf den Gehsteig auf und ab. Er begrüßte den Oberst mit überschwenglicher Herzlichkeit.

»Ich mache mir Vorwürfe, Oberst Gregory«, sagte er, als er sich mühsam in den Wagen gezwängt hatte, »daß ich Sie derart in Anspruch nehme, aber ich kann mir nicht anders helfen. Sie als Junggeselle wissen nicht, was es in solchen Fällen alles zu tun gibt, noch dazu, wenn sich die Ereignisse so überstürzen. Dabei bereitet mir das Befinden vor Mrs. Mabel ernste Sorgen, und ich werde wirklich aufatmen, wenn alles glücklich vorüber ist.«

Der Bankier machte tatsächlich einen abgehetzten Eindruck, und Gregory hörte ihm mit verbindlicher Anteilnahme zu.

»Nun«, meinte er tröstend, »es dauert ja nicht mehr so lange. Übermorgen um diese Zeit befinden Sie sich bereits auf See.«

Vane trocknete sich den Schweiß von der Stirn und nickte lebhaft.

»Ja, Gott sei Dank. Auch Mrs. Hughes kann den Augenblick schon nicht mehr erwarten, und ich hoffe, daß dann alles besser werden wird. Sie ahnen ja nicht, wie sie das traurige Ereignis mitgenommen hat. Sie ist förmlich menschenscheu geworden, und selbst ich muß mich damit begnügen, sie täglich höchstens eine Viertelstunde sprechen zu dürfen. Sonst hält sie sich ununterbrochen eingeschlossen, und nicht einmal die Dienerschaft darf zu ihr. Aber ich kann das verstehen, denn auch ich kann mich wirklich nur mit aller Mühe aufrecht halten.«

Er trocknete sich wieder die Stirn und blickte den Oberst unsicher von der Seite an. »Es ist ein Herzschlag gewesen, wie ich gehört habe«, sagte er dann nach einer Pause.

Gregory neigte leicht den Kopf. »Ich habe nie daran gezweifelt«, meinte er und brach damit das Gespräch ab.

Die Fahrt durch Kilburn dauerte ziemlich lange, aber Vane war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um darauf zu achten.

Erst als der Wagen den Gleiskörper der Londoner Nordbahn erreicht hatte, fühlte sich Oberst Gregory veranlaßt, dem Bankier eine Erklärung zu geben.

»Der Weg ist doch länger, als ich gedacht habe. Mir ist hier nämlich ein Haus angeboten worden, und man wollte mir bis heute nachmittag das Vorrecht lassen. Deshalb war mir die Sache so dringend. Die Gegend ist zwar nicht gerade günstig, aber das Haus soll sehr wohnlich und preiswert sein.«

Der Oberst dirigierte den aufmerksamen Chauffeur mit knappen Anweisungen durch eine Reihe von Seitengassen, bis sie in eine kurze Allee einbogen, deren Abschluß eine hohe Gartenmauer bildete.

»Wir sind am Ziel«, sagte Gregory, indem er auf die Uhr sah. »Von Bayswater Road genau fünfundzwanzig Minuten Fahrzeit. Eine hübsche Strecke.«

Nutt öffnete den Schlag, und der Oberst schickte sich an, auszusteigen.

»Darf ich Sie bitten, einige Augenblicke auf mich zu warten, Mr. Vane? Ich werde mich sehr beeilen. Oder würden Sie mir den Gefallen erweisen, mitzukommen und mir zu raten?«

Der Bankier kletterte bereits aus dem Wagen. »Mit Vergnügen, Oberst«, meinte er eifrig. »Von Häusern verstehe ich nämlich zufällig etwas.«

Gregory schien bereits erwartet worden zu sein, denn in diesem Augenblick wurde das Gitter von einem großen, starken Mann in einfacher dunkler Kleidung geöffnet. Der Mann begrüßte die Besucher mit einer stummen Verbeugung und führte sie schweigend durch den Garten bis zu der einfachen Villa. Das Haus lag völlig versteckt inmitten einer dichten Baumgruppe und machte in seiner öden Verlassenheit einen etwas unheimlichen Eindruck.

Vane überkam plötzlich ein Gefühl der Beklemmung, und als der schweigsame Führer die Haustür öffnete, blieb er unwillkürlich zögernd stehen.

Aber Gregory machte eine einladende Handbewegung, und der Bankier trat in eine düstere Halle, deren dumpfe Luft verriet, daß das Gebäude bereits seit langer Zeit unbewohnt war.

Der große Mann öffnete eine Reihe von Türen, aber der Oberst warf nur einen flüchtigen Blick in die dunklen Zimmer und schien nicht sehr entzückt zu sein.

Erst am Ende eines langen Ganges betrat er einen halbdunklen Raum und sah sich eine Weile um.

»Was meinen Sie, Mr. Vane?« wandte er sich rasch an den Bankier, aber dieser schüttelte lebhaft mit dem Kopf.

»Eine Gruft, Oberst Gregory, aber kein Wohnhaus.«

»Ganz meine Meinung«, sagte der Oberst und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung durch die Tür, die im nächsten Augenblick dröhnend ins Schloß fiel.

Vane fuhr zusammen und starrte einige Sekunden betroffen um sich. Dann aber schien er sich plötzlich seiner Lage voll bewußt zu werden. In seine Miene trat ein Ausdruck wahnsinnigen Entsetzens, und er warf sich mit einem verzweifelten Schrei gegen die Tür, die er mit Händen und Füßen zu bearbeiten begann, jedoch ohne irgendeinen Erfolg. Im Gang blieb alles völlig still, und als der Bankier gehetzt nach einer anderen Möglichkeit des Entkommens suchte, sah er, daß auch die Fenster durch starke Läden verschlossen waren.

Mit einem Mal erinnerte sich Vane an das Ende von Milner und Crayton und an den Tod Fleshs, und der Gedanke, daß nun die Reihe an ihm sei, ließ ihn bewußtlos zusammenbrechen.

Oberst Gregory stand mittlerweile in der Halle und wartete gelassen, bis das Toben des Eingeschlossenen sich gelegt hatte.

Zu dem schweigsamen Führer hatte sich ein zweiter gleich handfester Mann gesellt, und beide verharrten regungslos wie Statuen.

»Sie bürgen mir dafür, daß alles genauestens so geschieht, wie ich es angeordnet habe«, sagte Gregory in seiner kurzen, scharfen Art. »Und nun den Chauffeur.«

Einer der Männer eilte zu Nutt, der ungeduldig vor dem Gitter auf und ab schlenderte und von Zeit zu Zeit einen neugierigen Blick in den Garten warf.

»Sie sollen zu Ihrem Herrn kommen«, bestellte ihm der Mann mürrisch, indem er das Gitter öffnete, und Nutt beeilte sich, der Aufforderung, die seinen geheimsten Wünschen entsprach, Folge zu leisten.

Gregory ging mit kurzen, leisen Schritten in der Halle auf und ab, und in seinem Gesicht spielte ein eigentümliches, kaltes Lächeln.

Nutt wollte dieses Lächeln plötzlich nicht gefallen, da sich der Blick Gregorys durchdringend auf ihn heftete.

»Ich kann mir denken, daß Ihnen dieses Haus viel Kopfzerbrechen verursacht hat, Nutt, und ich will Ihnen daher Gelegenheit geben, es genau kennenzulernen.«

Der Oberst hob leicht die Hand, und in demselben Augenblick fühlte sich der Mann von vier gewaltigen Fäusten gepackt, gefesselt und geknebelt.

Gregory nickte den beiden schweigsamen Gesellen kurz zu und ging eiligen Schrittes durch den Garten zu seinem Auto, an dessen Steuer in steifer Würde und mit unbeweglichem Gesicht William wartete.

Um dieselbe Zeit, da der Wagen Oberst Gregorys wieder nach Westend rollte, packte Burns in der ›Queen Victoria‹ umständlich seine alte Handtasche, wobei ihm Webster etwas unruhig zusah.

»Gedenken Sie längere Zeit in London zu bleiben, daß Sie das alles mitschleppen?« fragte er endlich interessiert.

Burns nickte. »Ich will es hoffen. Und Sie täten auch gut daran, Ihre Siebensachen zusammenzupacken, denn hier wird es für uns kaum noch etwas zu tun geben. Auf jeden Fall brauche ich Sie heute abend. Sehen Sie sich vor, denn es kann heiß hergehen.«

»Schon wieder diese verdammte Geheimnistuerei«, knurrte der Inspektor. »Und natürlich wird wieder nichts dahinterstecken«, fügte er mit einem boshaften Lächeln hinzu.

»Auch möglich«, meinte Burns sanft. »Dann miete ich mich neben Ihnen in der ›Queen Victoria‹ ein und mache Ihnen aus Verzweiflung Mrs. Benett abspenstig.«

Webster fand es angezeigt, darauf nichts zu erwidern, sondern begnügte sich mit einem giftigen Blick.

Burns guckte noch einmal in alle Laden, ob er nichts vergessen hätte, dann stellte er die Tasche sorgsam auf den Tisch, legte seinen Hut und seinen Mantel daneben und klopfte einige Augenblicke später an Reffolds Tür.

»Ich komme mich verabschieden, Mr. Reffold, denn wenn alles so verläuft, wie ich hoffe, sieht mich Newchurch nicht mehr wieder.«

Er zögerte einige Augenblicke, dann dämpfte er seine Stimme noch mehr und sah Harry mit einem bedeutsamen Blick an.

»Wenn Sie dabeisein wollen – ich schlage heute nacht unbedingt los. Geht es gut, wird es der großartigste Erfolg meines Lebens – geht es schief, so gibt es eine Blamage, wie sie noch selten da war. Also, wenn Sie wollen, um neun Uhr in meinem Büro.« Er zwinkerte mit den Augen und sah noch harmloser drein als sonst. »Sie wissen ja wohl, wo Scotland Yard ist, und wenn Sie nach mir fragen, wird man Sie schon zu mir bringen.«


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