Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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24

»Guten Abend, Doktor Shipley«, sagte Burns und schüttelte dem Arzt die Hand. »Ich bin eben für einige Stunden nach London gekommen, und mein erster Weg war zu Ihnen. Großartig haben Sie das gemacht, Doktor – ohne Sie hätte ich diesmal wohl daran glauben müssen.«

Er nahm gemächlich Platz und betrachtete Shipley mit forschenden Blicken. Der Doktor sah etwas spitz aus, und in seinem sonst so frischen Wesen lag eine verdrießliche Müdigkeit.

»Ich bin froh, daß ich zur rechten Zeit gekommen bin, um Ihnen noch helfen zu können. Im übrigen war die Sache ein glücklicher Zufall. Wenn mir damals nicht der Mann auf der Revierwache unter die Hände gekommen wäre, hätte ich mir wahrscheinlich keinen Rat gewußt.«

»Ja, so hat es angefangen«, nickte Burns. »Ein verdammt feiner Zufall für uns und ein verfluchtes Pech für die andern. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber doch der Punkt, um den sich später alles andere gedreht hat.«

»Sind Sie also bereits weitergekommen?« Die Frage klang etwas zögernd, und Shipley schien die Antwort mit einer gewissen Spannung zu erwarten.

»Nun, ich bin ganz zufrieden«, meinte Burns. »Vor allem kann ich Ihnen nun genau sagen, wie die Dinge im Kastanienhaus und im Büro Craytons vor sich gegangen sind. Es muß in beiden Fällen so eine Art Teppich gewesen sein, von dem die tödliche Wirkung ausging, denn ich habe hier wie dort die gleichen Spuren auf dem Fußboden gefunden. Halten Sie das für möglich?«

»Gewiß. Nach diesen Fasern, die ich in der Hand des Kranken entdeckte, habe ich gleich auf so etwas Ähnliches geschlossen.«

»Sehen Sie. Das dürfte also stimmen. Wie der Teppich in Milners Arbeitszimmer gekommen ist und wer ihn dann wieder weggenommen hat, kann ich allerdings nur vermuten, aber im Fall Crayton weiß ich bestimmt, daß er durch einen Spalt in der Wand aus dem Nebenzimmer hereingeschoben und auf demselben Wege auch wieder entfernt wurde. Ich habe die schmale Durchbruchstelle genau feststellen können, obwohl sie auf der anderen Seite wieder verschmiert worden war. Und als ich dann an dem Spalt in Craytons Zimmer herumtastete, bin ich wahrscheinlich mit einigen Stäubchen dieses mörderischen Zeugs in Berührung gekommen. Es muß eine furchtbare Wirkung haben, wenn schon so wenig davon einen Menschen so zurichten kann.«

Er sah Dr. Shipley fragend an, und dieser nickte bestätigend. »Es ist eines der stärksten und eigenartigsten Gifte, die ich je kennengelernt habe. Wahrscheinlich besteht das ganze Gewebe aus Fasern giftiger Pflanzen, wie sie in den Tropen zu Hunderten vorkommen, ohne daß die Wissenschaft sie bisher auch nur zu katalogisieren vermocht hätte. Nur die Eingeborenen kennen sich darin aus und wissen damit umzugehen. Jedenfalls genügte es, wenn von dem Ding, mit dem wir es zu tun haben, winzige Teilchen unter die Haut oder in die Atmungsorgane gelangen oder wenn man den auf irgendeine Weise zum Verdunsten gebrachten Giftstoff eine Weile einatmet. Die Wirkung . . .«

»Halt, Doktor, halt«, unterbrach ihn Burns mit zappeliger Lebendigkeit. »Das müssen Sie mir genauer erklären. Ich glaube nämlich, daß ich da vielleicht etwas hören werde, worauf ich bisher nicht gekommen bin. Also, wie stellen Sie sich die Wirkung dieses Teufelszeugs vor, wenn man mit ihm nicht in Berührung kommt, wenn beispielsweise dieser Teppich nur in einem Raum liegt, in dem gerade jemand weilt?«

»Nun, ich stelle mir das so vor, daß die giftigen Stoffe entweder bereits auf Wärme reagieren und verflüchtigen oder daß sie aber durch eine vorhergehende Befeuchtung zur Verdunstung gebracht werden.«

Der Oberinspektor sprang strahlend auf und klopft Dr. Shipley auf die Schulter.

»Ausgezeichnet, Doktor. Das habe ich wissen wollen. Sie sind ein Genie. Jawohl . . .« Er brach plötzlich ab, und sein Gesicht bekam wieder einen melancholischen Ausdruck. »Ich habe gehört, daß Mrs. Carringhton verreist ist«, sagte er nach einer Weile unvermittelt und blickte Shipley ganz harmlos an. »Wann kommt sie denn zurück? Und wo ist sie überhaupt hin?«

Dr. Shipley hatte sich jäh verfärbt, und um seinen Mund waren zwei scharfe Falten erschienen. Er wußte nicht, was die Frage bedeuten sollte, und beantwortete sie daher nur mit einem Schulterzucken.

»Was, das wissen Sie nicht?« meinte Burns erstaunt. »Schade. Ich dachte mir nämlich, daß Sie Mrs. Carringhton schleunigst zurückholen sollten. Vielleicht ist sie bei Lady Crowford auf Holway Castle. Mir ist es, als ob ich so etwas gehört hätte. Es wäre auch gut für Sie, wenn Sie einmal einen Tag ausspannen würden. Sie gefallen mir nicht. Uns allen hat die verdammte Geschichte ziemlich mitgespielt. Nur der gute Webster gedeiht bei der Sache besser denn je. Überhaupt ein netter Kerl. Nur wenn er auf eigene Faust arbeitet, mag ich ihn nicht recht, denn da stellt er hie und da eine kapitale Dummheit an.«

Dr. Shipley hatte überrascht den Kopf gehoben und starrte den Oberinspektor an.

»Glauben Sie wirklich, Mr. Burns?« fragte er nach einer Pause.

»Glauben«, erwiderte Burns sanft und wiegte mit dem Kopf. »Ich weiß es leider bestimmt. Und Sie werden sich auch noch davon überzeugen.«

Als der Oberinspektor mit einem leichten Schmunzeln in die Halle kam, stand John steif und eisig an der Haustür und würdigte ihn kaum eines Blickes. Seit dem letzten Besuch Websters haßte er alles, was Polizei hieß, und machte kein Heil daraus. Burns sah sich in der Halle um und zog mißbilligend die Mundwinkel herab.

»Es sieht bei euch lange nicht mehr so nett und behaglich aus wie früher«, bemerkte er leichthin. »Höchste Zeit, daß Mrs. Carringhton zurückkommt. Sorgen Sie nur dafür, John, daß sie alles in Ordnung findet, wenn sie morgen oder übermorgen eintrifft.«

Über Johns steinernes Gesicht ging plötzlich ein Lächeln.

»Sehr wohl, Mr. Burns«, versicherte er hastig und riß mit einer tiefen Verbeugung die Tür auf.

*

Es war etwas vor der verabredeten Zeit, als der Oberinspektor in seinem Büro eintraf. Aber Sergeant Smith war bereits da und wartete auf ihn.

»Nun, wie weit sind wir?« fragte Burns gutgelaunt.

»Es geht vorwärts, Sir. In der letzten Nacht sind die Leute an den Leitungen bis knapp an das Eiserne Tor herangekommen, aber es wird natürlich immer schwieriger.«

Burns nickte bedächtig. »Haben Sie bisher etwas Verdächtiges gefunden?«

»Gewisse Drähte geben zu denken«, meldete der Sergeant wichtig. »Und Card, der etwas davon versteht, meint, da sie alle gegen einen Punkt im Eisernen Tor zusammenlaufen scheinen, möchte er darauf wetten, daß etwas nicht richtig ist.«

»Schön. Sorgen Sie also dafür, daß die Leute bei ihrer Arbeit nicht gestört werden. Wieviel Mann haben Sie dort?«

»Über Nacht vierzehn. Und die üblichen Polizeiposten.«

Der Oberinspektor marschierte eine Weile auf und ab und rechnete nach.

»Heute haben wir Donnerstag. Von Sonntag früh an lassen Sie die vierzehn Mann ununterbrochen Dienst tun. Suchen Sie sich die Tüchtigsten aus, die wir haben. Aber alles muß ganz unauffällig vor sich gehen, verstanden? Also weiter: Was ist mit Flesh?«

»Flesh scheint sich nicht recht sicher zu fühlen, Sir. Er ist seit zwei Tagen nicht mehr im Kontor gewesen, sondern hält sich meistens zu Hause auf, und er läßt niemanden vor. Sogar Miss Morland vom Crockley-Theater wurde gestern an der Pforte abgefertigt, was sie sehr übelgenommen hat. Um das Haus herum lungern einige Kerle, die sich Flesh als eine Art Leibwache beigelegt zu haben scheint, und wenn er ausfährt, hat er außer dem Chauffeur immer auch noch den Diener mit. Er ist aber nur zweimal fort gewesen. Gestern vormittag in der Bank von England, wo er sechsundfünfzigtausend Pfund abgehoben hat, und dann in Belgravia, Dawson Street. Dort hat er den Wagen an der Ecke halten lassen und ist dann bis zur Nummer 19 gegangen . . .«

Burns stieß einen leisen Pfiff aus.

»Oh . . . Oberst Gregory . . .«

»Jawohl. Flesh ist wenigstens eine Viertelstunde auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab gegangen und hat das Haus betrachtet. Und heute ist er wieder dort gewesen und hat einen von seiner Leibgarde mitgebracht. Ich glaube, ich habe diese Visage schon in unserem Album gesehen.«

Das Schmunzeln des Oberinspektors ging in ein schadenfrohes Grinsen über.

»Hören Sie, Smith«, sagte er lebhaft, »da mischen wir uns nicht ein. Lassen Sie dort geschehen, was geschieht, nur wissen müssen wir davon.« Burns sah auf die Uhr. »Schicken Sie sofort zwei Mann nach Dawson Street 19 und instruieren Sie die Leute. Oberst Gregory ist in Newchurch. Und ich fahre mit dem Zehnuhrzwanzig-Zug auch wieder hinaus . . .«

 

Als Oberst Roy Gregory am nächsten Morgen zu ziemlich früher Stunde, mit der Angelrute und einer eleganten Fischtasche ausgerüstet, beim Frühstück erschien, trat Burns höflich auf ihn zu.

»Oberst Roy Gregory . . .?«

Der Oberst hob befremdet den Kopf und sah der. Detektiv an.

»Bitte . . .?«

»Oberinspektor Burns von Scotland Yard«, stellte sich dieser mit einer linkischen Verbeugung vor. »Ich habe Ihren Namen im Fremdenbuch gelesen und möchte Ihnen nur eine Meldung mitteilen, die ich eben erhalten habe. In Ihrer Wohnung in der Dawson Street 19 ist heute kurz nach zwei Uhr nachts ein Einbruch verübt worden . . .«

»Ah . . .« Der Oberst zog nur ein wenig die Brauen hoch, und seine Stimme verriet keine allzu große Bestürzung. »Und mein Diener?«

»Der gibt an, geschlafen zu haben.«

»Natürlich. Und wie ich ihn kenne, glaube ich es auch. Ich danke Ihnen, Oberinspektor.«

Der Oberst wollte sich mit einer kurzen Bewegung verabschieden, aber Burns ließ sich dadurch nicht beirren.

»Die Diebe scheinen ziemlich böse gehaust zu haben. Der ganze Inhalt Ihres Schreibtisches ist auf den Boden geworfen, und auch alle anderen Laden sind durchwühlt.«

»Wie kann man sich so viel unnütze Arbeit machen?« meinte Oberst Gregory lächelnd. »Ich pflege in meinem Schreibtisch keine Wertsachen aufzubewahren.«

»Aber vielleicht andere Dinge?« fiel Burns rasch ein und richtete seinen Blick fest auf Gregory.

»Auch diese nicht, Mr. Burns«, erwiderte der Oberst nachdrücklich und ließ sich nach einer abgemessenen Verbeugung an seinem Tisch nieder.

Der Oberinspektor war von dem Verlauf dieser kurzen Unterredung nicht gerade befriedigt, und als Webster eine Weile später mit hochrotem Kopf hereinpolterte, hob er nicht einmal den. Blick, sondern rührte gedankenvoll in seiner Teetasse. Webster öffnete bereits den Mund, um mit der Sache, die er offensichtlich auf dem Herzen hatte, herauszuplatzen, als er im letzten Augenblick Oberst Gregory gewahrte, der eben im Aufbruch begriffen war. Er ließ die kräftigen Kinnladen rasch wieder zuklappen und nahm gewichtig, aber schweigend neben Burns Platz.

Auch als der Oberst bereits das Zimmer verlassen hatte, blieb Webster noch eine Weile stumm, aber er glich immer mehr einem überheizten Dampfkessel, der in der nächsten Minute explodieren muß.

Endlich brachte er seinen Mund ganz nahe an Burns' Ohr. »Haben Sie schon Gregorys Chauffeur gesehen?«

Der Oberinspektor schüttelte gleichgültig seinen Kopf.

»Schauen Sie sich ihn an«, flüsterte Webster dringlich. »Er wäscht eben im Hof den Wagen.«

»Was ist mit dem Mann?« fragte Burns ungeduldig, da er von umständlichen Wichtigtuereien nicht viel hielt.

»Was mit ihm ist? Er ist der Kranke, den man mir damals weggeschnappt hat.«

Webster lehnte sich tief aufschnaufend zurück, und Burns zeigte sich nun doch interessierter.

»Ist das auch gewiß?«

»So gewiß wie meine Nase, die ich im Gesicht habe«, bekräftigte Webster. »Und wenn ich mich vielleicht auch in dem Gesicht irren könnte, die Narbe an der Hand gibt es kein zweites Mal. Sie geht vom Daumen quer über den Handrücken und ist wenigstens einen halben Zoll breit.«

»Nun, wir werden ja sehen«, sagte Burns. »Bleiben Sie hübsch ruhig hier, bis ich zurückkomme, sonst könnte der Bursche, wenn er ein schlechtes Gewissen hat, Lunte riechen.«

Der Inspektor ließ sich das nicht zweimal sagen, denn eben erschien eines der Mädchen mit seinem Frühstück, gefolgt von Mrs. Benett, die ihm bereits unter der Tür freundlich zulächelte. Webster warf zunächst einen prüfenden Blick auf die reiche Platte, wobei ihm das Wasser im Munde zusammenlief.

»Fein, Mrs. Benett. Lauter Lieblingsspeisen von mir. Sie verwöhnen mich. In meinem ganzen Leben ist es mir noch nie so gut gegangen wie bei Ihnen . . .«

Über Mrs. Janes Gesicht, das heute etwas blaß und leidend schien, ging ein geschmeidiges Lächeln, und sie blickte schüchtern zu Boden.

»Das höre ich gern, Mr. Webster. Und ich würde mich freuen, wenn Sie« – ihre Stimme begann etwas zu vibrieren – »die ›Queen Victoria‹ immer in guter Erinnerung behalten würden . . .«

»Natürlich«, beteuerte der Inspektor. »Die ›Queen Victoria‹ und Sie . . .«

Mrs. Benett war es, als ob die letzten Worte einen besonders weichen Klang gehabt hätten, und sie schlug schmachtend das eine Auge auf.

Aber Webster schien sich die Sache plötzlich überlegt zu haben, denn er brach unvermittelt ab, machte ein sehr bärbeißiges Gesicht, und sein Organ dröhnte, daß die Wände zitterten.

»Wie meinten Sie, Mrs. Benett? In guter Erinnerung? Daß ich nicht lache . . . Ha . . . ha . . . ha . . . Was hätte ich denn von der Erinnerung, he«? Er beugte sich rasch zu der fassungslosen Herrin der ›Queen Victoria‹ und blinzelte sie schalkhaft an. »Was ist denn schon eine Erinnerung, wenn man es besser haben kann? Bin ich nicht, Gott sei Dank, ein freier Mann, wenn ich mich zur Ruhe setze? Und wäre ich nicht ein kompletter Narr, wenn ich mich anderswo niederließe als in der ›Queen Victoria‹? Mit hundertzehn Pfund Rente und meiner Pension kann ich mir das erlauben. Sie geben mir das Zimmer, das ich jetzt habe, Mrs. Benett . . .«

Mrs. Jane saß mit geschlossenen Augen da und atmete sehr schwer.

»Oh, Mr. Webster«, flüsterte sie nach einer kleinen Pause und sah ihn strahlend an, »wo denken Sie hin! In diesem Fall sollen Sie bei mir ganz anders aufgehoben sein . . .«

»Um so besser«, meinte der Inspektor, der schon wieder eifrig zu kauen begonnen hatte, und tätschelte ihre kleine fleischige Hand.

»Lassen Sie sich, bitte, nicht stören«, sagte Burns schüchtern, indem er wieder seinen Platz einnahm. »Im übrigen, Webster, können Sie recht haben. Aber wenn Sie glauben, daß wir dadurch klüger geworden sind, so irren Sie sich sehr. Im Gegenteil . . .«

Es war am Freitag vormittag, und das Wetter schien umschlagen zu wollen. Der Himmel hatte sich stark bewölkt, und ein starker Wind trieb immer neue Wolkenfetzen zusammen.

Vane interessierte sich sonst nicht im geringsten für das Wetter, aber heute warf er während der Fahrt nach Newchurch immer wieder einen besorgten Blick zum Himmel.

Wenn das plötzlich losbrach, war es mit den schönen Herbsttagen gründlich zu Ende, und Mrs. Mabel würde gewiß schon nach den ersten Stunden die Flucht ergreifen.

Er fand sie in der kleinen Bibliothek.

»Oh, ich langweile mich gar nicht«, versicherte sie auf seine Frage. »Nun komme ich wenigstens einmal wieder dazu, etwas für meine Bildung zu tun.«

»Hätten Sie nicht Lust, mit mir nach London zu fahren, Mrs. Mabel?« fragte er. »Vielleicht haben Sie einige Besorgungen zu machen. Wir könnten zusammen speisen, und dann bringe ich Sie zurück.«

Die schöne Frau überlegte eine Weile. »Das wäre eigentlich ganz nett. Wann haben wir unsere Party?«

»Morgen. Ich werde mir erlauben, Ihnen bei dieser Gelegenheit Oberst Roy Gregory vorzustellen . . .«

Mrs. Hughes nickte zustimmend. »Ist er sehr alt und sehr steif?« fragte sie besorgt.

»Im Gegenteil«, versicherte Vane eifrig, »ein ausgezeichneter Gesellschafter. Ferner habe ich mir erlaubt, Mr. Harry Reffold einzuladen, einen jungen, sehr netten Menschen, der mir eben heute von einer hochstehenden Persönlichkeit empfohlen worden ist. Der junge Herr geht hier augenblicklich irgendeinem Sport nach, und ich kann verstehen, daß er mit den Abenden nichts anzufangen weiß. Und schließlich werde ich Ihnen noch Mr. Flesh bringen, einen meiner näheren Bekannten aus dem Klub. Auch eine ganz interessante Persönlichkeit. Er hat zwar noch nicht zugesagt, aber ich zweifle nicht, daß er mit Vergnügen kommen wird.«

»Nun, wenn die Herren wirklich so sind, wie Sie mir sie schildern, so dürfte es sehr nett werden«, meinte Mrs. Mabel befriedigt, und ihre dunklen Augen glänzten erwartungsvoll. »Und weil Sie alles so hübsch arrangiert haben, fahre ich jetzt mit Ihnen.«

Der Wagen hatte Newchurch bereits hinter sich gelassen, als der Bankier endlich den Mut fand, die etwas stockende Unterhaltung auf das zu lenken, was ihn unausgesetzt beschäftigte.

»Verzeihen Sie, Mrs. Mabel«, begann er zögernd und kurzatmig, »ich möchte Sie absolut nicht drängen, aber vielleicht können Sie mir heute schon Bescheid sagen.« Er sah sie unsicher von der Seite an, und seine Stimme zitterte. »Wenn Ihre Antwort auch ein ›Nein‹ sein sollte, so . . .«

Er verstummte erwartungsvoll, denn die schöne Frau, die angelegentlich durch die Scheiben blickte, schüttelte leicht mit dem Kopf, und er wußte nicht, wie er das deuten sollte.

»Ich gedenke nicht ›nein‹ zu sagen, Vane«, bemerkte sie nach einer Pause und wandte ihm ihr Gesicht zu, »Aber ich müßte einige Bedingungen stellen.«

Er haschte glückselig nach ihrer Hand. »Sprechen Sie, Mrs. Mabel. Ich füge mich jedem Ihrer Wünsche.«

»Also, die Sache müßte rasch und in aller Stille vor sich gehen. Ich weiß, daß es für mich gut ist, nicht weiter allein zu sein, und ich möchte daher nicht lange der Versuchung ausgesetzt bleiben, meinen Entschluß noch widerrufen zu können. Vielleicht fürchte ich auch«, fügte sie mit einem schalkhaftem Lächeln hinzu, »daß Sie sich die Sache noch überlegen. Stellen wir also uns und die Welt so schnell wie möglich vor vollendete Tatsachen. Meine Dokumente stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung, und ich überlasse es völlig Ihnen, den Termin festzusetzen.«

Vane befand sich förmlich in einem Rausch. Während der ganzen weiteren Fahrt entwarf er Pläne und verbreitete sich darüber, wie er die notwendigen Formalitäten zu beschleunigen gedächte.

Als er Mrs. Hughes vor ihrem villenartigen Haus in Tyburnia abgesetzt hatte, entschloß er sich, zu Flesh zu fahren, und sich dessen Bescheid auf die Einladung zu holen.

Es befremdete ihn, daß Flesh bisher nichts von sich hatte hören lassen, und sein Befremden steigerte sich, als er bemerkte, welche Umständlichkeiten es machte, bei ihm vorzukommen.

»Hören Sie, Flesh, was ist denn mit Ihnen los?« fragte er verwundert. »Sie haben sich ja hier förmlich verbarrikadiert.«

Flesh, der sehr nervös schien, lächelte gezwungen. »Ich fühle mich seit einigen Tagen nicht recht wohl.«

»Nun, Sie sehen allerdings etwas angegriffen aus«, gab der Bankier zu, »aber es wird wohl nichts Ernstes sein. Sie wollen mir doch hoffentlich deshalb nicht für morgen absagen?«

»Ich bin wirklich nicht in der Stimmung«, entschuldigte sich Flesh.

»Ach was, Stimmung«, fiel Vane lebhaft ein. »Das lasse ich nicht gelten. Sie würden mich in Verlegenheit bringen, mein Lieber, denn mir liegt sehr viel an diesem Abend.« Er schmunzelte geheimnisvoll und blinzelte Flesh ermunternd zu. »Es wird sehr nett werden, und es würde Ihnen nachher sicher leid tun, nicht mit dabeigewesen zu sein. Ich nenne Ihnen nur einen Namen: Mrs. Mabel Hughes. Sonst werden nur noch Oberst Gregory und ein Mr. Reffold dasein.«

Trotz seiner Selbstbeherrschung vermochte Flesh nicht zu verbergen, daß diese Mitteilung ihn aus irgendeinem Grunde in Bestürzung versetzte.

»Was haben Sie denn?« meinte der Bankier betreten. »Sie machen ja ein so sonderbares Gesicht . . .«

Aber Flesh hatte sich bereits wieder in der Gewalt und schüttelte seinen Kopf.

»Ich habe nur daran gedacht«, sagte er langsam, indem er den Mund zu einem eisigen Lächeln verzog, »daß ja dann alle wieder beisammen sein würden, die bei Milner an seinem letzten Abend waren – soweit wir eben noch übrig sind.«

Der Bankier warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Hören Sie mir doch schon damit auf«, kreischte er ärgerlich. »Ich habe ohnehin lange genug gebraucht, um die schreckliche Geschichte ein wenig zu vergessen.«

»Läßt Sie also die Polizei bereits in Ruhe?« fragte Flesh leichthin, aber etwas in seinem Blick verriet, daß er an der Antwort besonderes Interesse hatte.

»Die Polizei? Wieso? Wie meinen Sie das?« Vane machte ein sehr erstauntes Gesicht, dann erinnerte er sich. »Ach so . . . Offen gestanden habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Ich habe jetzt Gott sei Dank, an ganz andere Dinge zu denken.« Er lächelte schon wieder geheimnisvoll und hatte plötzlich große Eile. »Also seien Sie nett, Flesh, und kommen Sie.« Er hielt Flesh die Hand hin, doch dieser starrte zur Seite und schien sich nicht schlüssig werden zu können. Dann aber warf er plötzlich trotzig den Kopf zurück und schlug ein.

»Gut«, sagte er, »ich komme.«

Der Bankier wußte nicht, was es dabei so höhnisch und trotzig zu lächeln gab. Der gute Flesh mußte mit seinen Nerven vollständig fertig sein.

Reffold hatte die Einladung Vanes am gleichen Morgen erhalten, aber sie war ihm, obwohl er sich so darum bemüht hatte, nichts weniger als gelegen gekommen.

Seit seiner letzten Aussprache mit Ann war die Aufgabe, der er sich Monate hindurch gewidmet hatte, für ihn völlig in den Hintergrund getreten. Aber er war nicht der Mann, eine einmal begonnene Sache aufzugeben, sondern er wollte das, was er sich vorgenommen hatte, zu Ende führen. Dann allerdings . . .

Er lächelte geheimnisvoll vor sich hin, fuhr aber plötzlich mit der Hand energisch durch die Luft, denn er hatte jetzt keine Zeit, sich solchen Träumereien hinzugeben.

In etwa zwölf Stunden stand ihm das Zusammentreffen mit dem geheimnisvollen Unbekannten bevor, und er mußte sich in jeder Hinsicht völlig in der Gewalt haben, wenn dieses Wagnis nicht verdammt übel ausgehen sollte.

Während Reffold den kurzen Weg von der ›Queen Victoria‹ zum Bahnhof zurücklegte, hielt er unauffällig nach Sam oder einem anderen Verfolger Umschau, denn er war überzeugt, daß man ihn in diesen Stunden nicht aus den Augen lassen würde.

Am Schalter löste er eine Karte nach London, und als der Zug einfuhr, schwang er sich in ein Abteil Erster Klasse und sah vom geöffneten Fenster aus gelangweilt auf den Bahnsteig. Auch auf den Stationen zwischen Sunbury und Twickenham sah er jedesmal aus dem Fenster, und als der Zug in St. Margarets das Abfahrtszeichen erhielt, zog er sich mit einer Miene zurück, als ob ihn das Tempo dieses Bummelzuges zur Verzweiflung brächte.

Der Zug war bereits im Rollen, als Harry die Tür auf der dem Bahnsteig abgekehrten Seite öffnete und mit einem Sprung zwischen die Geleise glitt.

Er landete unmittelbar vor einem Eisenbahner, der ihn mißtrauisch anstarrte.

»Übertretung der Eisenbahnvorschriften, Sir«, knurrte er mit hochgezogenen Brauen. »Fünf Schilling Strafe, bitte.«

Er gab Harry einen kategorischen Wink, ihm zu folgen, und stelzte würdevoll zum Stationsgebäude.

»Bitte«, sagte dort Reffold verbindlich, indem er einen Zehnschillingschein auf den Tisch legte. »Ich finde das sehr billig und möchte Sie ersuchen, den Rest für sich zu behalten.«

Bevor der Mann noch dazu kam, sich von seiner Überraschung zu erholen, hatte Reffold bereits die Tür hinter sich zugedrückt und war zum Ausgang geeilt.

Unmittelbar vor dem kleinen Stationsgebäude hielt ein Rolls-Royce, dessen Chauffeur den Kragen hochgeschlagen hatte und unbeweglich wie eine Statue schien.

Mit einem Satz war Reffold im Wagen, und als der Schlag zufiel, sprang auch schon der Motor an. Das Auto schoß mit einer Geschwindigkeit davon, die jede Verfolgung mit einem landläufigen Benzinkarren aussichtslos erscheinen ließ. Es ging über Isleworth nach Nordwesten. Der regungslose Chauffeur nahm den Weg mit einer Sicherheit, als ob er ihn bereits unzählige Male gefahren wäre.

Als der Wagen Cranford passiert hatte, sah Harry nach der Uhr und schob dann die Glasscheibe zum Führersitz etwas beiseite.

»Stop. – Hast du alles richtig besorgt, Bob?«

»Oh, alles fein gemacht, Sir«, kam die Antwort von vorne, ohne daß der Mann den Kopf auch nur um einen Zentimeter zur Seite gewandt hätte. »Bob wissen, wo sein gestern hin Mann mit Auto und wer sein . . .«

»Nun?« fragte Reffold gespannt.

»Heißen Tonio Perelli und machen gut kaputte Auto in Eiserne Tor . . .«

Reffold nickte befriedigt. »Schön. Und was ist mit den Pistolen?«

»Pistolen, was machen nur pffft«, der Schwarze stieß die Luft mit einem kurzen Knall zwischen den wulstigen Lippen hervor, »sein richtig, Sir. Bob schießen viel und gut und nix Krach, aber viel Loch im Holz.«

»Nun, wir werden sehen«, meinte Reffold bedächtig. »Wenn du heute nicht deinen Mann stellst, kann es uns beiden übel bekommen. Du mußt Augen und Ohren aufsperren, und wenn du etwas Verdächtiges bemerkst, so drückst du los. Aber vergreife dich nicht. Zuerst mit der Luftpistole, und wenn ich schieße, kannst auch du den Revolver gebrauchen.«

Zum ersten Male wandte der Neger den Kopf, und ein verschlagenes Lächeln legte sein mächtiges Gebiß bloß. »Oh, nix übel bekommen Sir, und nix übel Bob. Bob nix brauchen Licht, daß sehen, und Bob hören kriechen Schlange.« Sein Gesicht strahlte, als ob ihm eine köstliche Belustigung bevorstünde. »Und wenn Bob was hören, dann Bob schauen und dann gleich machen pffft.«

Reffold lächelte vergnügt. Er wußte, daß er sich auf diesen Burschen verlassen konnte wie nicht sobald auf einen zweiten. »Also jetzt nach Drayton. Das Weitere werde ich dir noch sagen.«

Bob saß schon wieder kerzengerade und drückte auf den Anlasser.

»Und wie ist es mit deinem Lieblingsgericht, Bob? Ich habe es schon wieder vergessen.«

»Oh, gehackt Steak, Sir. Mit gelbe Sauce, Sir, und Senf, viel Senf und viel Zwiebel«, gluckste der Neger mit nassem Munde.

»Und natürlich zwei Portionen?«

»Oh, Bob auch essen zwei Portionen«, meinte er lebhaft, und ließ den Wagen mit voller Geschwindigkeit anlaufen.


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