Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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22

Mrs. Benett war außerordentlich in Anspruch genommen, denn sie mußte nicht nur unausgesetzt in der Küche und im Eßzimmer Nachschau halten, sondern sich natürlich auch Mr. Reffold widmen, der heute an dem Platz in der Halle besonderen Gefallen gefunden zu haben schien. Er rührte sich nicht vom Fleck und starrte vor sich hin.

Das konnte sie auf die Dauer nicht ertragen.

»Haben Sie Sorgen, Mr. Reffold?« Sie ließ sich bei ihm nieder und lächelte ihn mit dem einen ihrer schwarzen Augen zärtlich an. »Kann ich Ihnen irgendwie dienlich sein?«

»Allerdings, Mrs. Benett. Sie scheinen heute einen neuen Gast bekommen zu haben . . .«

Mrs. Jane verstand sofort. »Ah, Sie meinen Oberst Gregory. Zimmer dreiundzwanzig«, flüsterte sie. »Interessieren Sie sich für ihn?«

»Sehr. Wenn Sie mir hie und da eine Mitteilung machen könnten . . .«

Die rundliche Frau spitzte den üppigen Mund und lächelte schalkhaft. »Ich verstehe . . .«

»Sie sind sehr lieb, Mrs. Benett . . .«

»Und Sie sind sehr garstig, Mr. Reffold«, schmollte sie. »Sie haben seit einiger Zeit kein Vertrauen mehr zu mir. Glauben Sie, ich merke das nicht? Früher waren Sie ganz anders. Nicht so« – sie suchte verlegen nach den richtigen Worten – »verschlossen und viel liebenswürdiger . . .«

Harry legte seine Hand begütigend auf die ihre, und sie fühlte sich im siebenten Himmel.

»Verzeihen Sie, Mrs. Benett. Sie dürfen mir glauben, daß ich Sie nach wie vor herzlich verehre und daß ich nie vergessen werde, was Sie für mich getan haben. Aber mit einunddreißig Jahren unterliegt man eben noch gewissen Stimmungen . . .«

Mrs. Jane empfand plötzlich einen heftigen Stich.

»Mit einunddreißig Jahren . . .?« stammelte sie bestürzt. »Ich . . . ich . . . hätte Sie für älter gehalten, Mr. Reffold . . .« Harry schüttelte wehmütig mit dem Kopf.

»Es stimmt, Mrs. Benett«, sagte er etwas kleinlaut. »Leider bin ich einige Jahre zu spät auf die Welt gekommen. Gerade vor acht Tagen habe ich meinen einunddreißigsten Geburtstag gefeiert.«

Mrs. Jane hatte keine Zeit, weiter zuzuhören, sie rechnete fieberhaft.

Wenn er heute einunddreißig Jahre alt war und sie noch nicht ganz fünfundvierzig, also eigentlich erst vierundvierzig, so war sie, wenn er fünfunddreißig war, achtundvierzig, und wenn er vierzig war, war sie dreiundfünfzig, und wenn er fünfundvierzig war, war sie achtundfünfzig . . .

Mrs. Benett brach das interessante Rechenexempel ab und drückte Harrys Hand so heftig, daß dieser überrascht in ihr plötzlich so blasses Gesicht sah.

»Sie müssen mich entschuldigen, Mr. Reffold«, sagte sie, und es kam ihm so vor, als ob ein leises Beben in ihrer Stimme läge, »aber es gibt heute besonders viel zu tun. Wegen Oberst Gregory können Sie sich also auf mich verlassen . . .« Sie nickte ihm mit etwas gequälter Koketterie zu und eilte davon.

»Sooft ich diesen frechen Burschen sehe, juckt mir die Hand«, brummte Webster, als er mit Burns aus dem Eßzimmer trat und Reffold gewahrte. »Aber an dem Tag, an dem ich ihn trotz Scotland Yard zu fassen kriege, soll ihm das Lachen gleich für einige Jahre vergehen.«

»Sie könnten eigentlich vorausgehen, Webster, und den Londoner Sergeanten abpassen«, meinte Burns, indem er plötzlich stehenblieb. »Er muß jeden Augenblick auf der Polizeistation eintreffen. Wenn er Post für mich hat, so nehmen Sie diese einstweilen an sich. Und sagen Sie ihm, daß ich heute abend gegen neun Uhr in Scotland Yard sein werde. Smith soll sich also bereithalten. Er weiß schon, worum es sich handelt.«

Nachdem der Inspektor mit einem letzten giftigen Blick auf Reffold fortgestapft war, schob sich Burns einen der bequemen Sessel heran.

»Sie gestatten wohl, Mr. Reffold. Es ist schon einige Zeit her, daß wir miteinander geplaudert haben. Damals gab es, glaube ich, ein kleines Mißverständnis.«

»Nicht von meiner Seite, Mr. Burns«, meinte Harry mit einem sehr verbindlichen Lächeln.

Der Oberinspektor nickte und legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander.

»Ich weiß«, bekannte er etwas verlegen. »Sie waren damals sogar so liebenswürdig, mir einen Rat zu geben. Einen ausgezeichneten Rat. Sie wissen, mit dem Wildhüterhaus . . .«

Er machte eine Pause und warf seinem Gegenüber einen raschen Blick zu, aber Reffold spielte interessiert mit seinem Monokel und machte ein Gesicht, als ob er von der Geschichte zum ersten Mal hörte.

Aber Burns war hartnäckig. »Eine seltsame Sache, das. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, und wenn Sie mir nun noch beiläufig andeuten könnten, wessen sterbliche Überreste wir dort gefunden haben, würde ich mich gern erkenntlich zeigen. Unsereiner weiß ja hie und da auch ganz interessante Dinge. So könnte ich Ihnen zum Beispiel etwas über einen Besuch des Oberst Gregory im Kastanienhaus erzählen . . .«

Reffold schnellte mit einem jähen Ruck aus seiner lässigen Haltung auf. »Was hatte denn der dort zu suchen?«

»Etwas sehr Merkwürdiges. Aber wir wollen der Reihe nach vorgehen, Mr. Reffold. Wer also, glauben Sie, könnte zu der kritischen Zeit im Wildhüterhaus gewesen sein?«

Harry überlegte einen Augenblick.

»George Thompson und Sam Dickson.«

»Soso . . . Thompson und Sam . . .« Burns verdrehte die Augen und legte sein Gesicht in wehmütige Falten. »Dann waren es also die Gebeine des Halunken Thompson. Glauben Sie, daß Mrs. Benett sehr erschüttert sein wird, wenn sie davon erfährt? Sie wissen doch . . .? Natürlich, Sie wissen ja so verschiedenes. Aber Sam haben Sie wohl noch nicht wiedergesehen? Sie würden staunen, wie der sich hergerichtet hat. Er sieht jetzt aus wie eine rasierte Bulldogge. Ich habe ihn heute kaum wiedererkannt, als er dem Mann, der Ihnen den Brief in die Tasche schob, so geschickt die Mauer machte. Es muß wohl eine sehr wichtige Mitteilung gewesen sein? Na, das ist schließlich Ihre Sache. Ich möchte Sie nur bitten, mir noch eins zu sagen: Wo sind die Juwelen?«

Reffold nagte unschlüssig an der Unterlippe. Der Mann, in dem offenbar weit mehr steckte, als man nach seinem unscheinbaren Äußeren vermuten konnte, begann ihm zu imponieren. Aber er hielt es trotzdem nicht für angebracht, seine Rolle aufzugeben. »Nehmen Sie an, sie seien in Sicherheit«, erwiderte er ausweichend.

»Ausgezeichnet, Mr. Reffold«, flüsterte der Oberinspektor und rieb sich die Hände. »Das ist mir eine große Beruhigung und erspart mir gewisse Rücksichten. Dafür sollen Sie nun auch erfahren, daß Oberst Gregory sich für alte Uhren zu interessieren scheint. Er war heute, während Sie mit Miss Ann einen Spaziergang unternahmen, im Kastanienhaus und hat sich dort an der Wanduhr im Arbeitszimmer zu schaffen gemacht. Und Nick, der ihn einließ, hat dafür ein so fürstliches Trinkgeld bekommen, daß er sich sofort sternhagelvoll betrunken hat. Seltsam, wie? Vielleicht gehen Sie der Sache nach. Und wenn Ihnen die Abende hier draußen gar zu langweilig werden, so versuchen Sie an Mr. Vane heranzukommen. Sie haben ja sicher verschiedene Beziehungen, und ich glaube, Sie würden in seinem Landhaus eine recht interessante Gesellschaft finden. Aber seien Sie vorsichtig und muten Sie sich nicht zuviel zu. Ich spreche aus Erfahrung, denn wie Sie vielleicht wissen, bin ich gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen.«


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