Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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9

»Was meinen Sie also zu der Sache mit Doktor Shipley, Burns? Glauben Sie, daß er in eine Patsche geraten ist?«

Inspektor Webster fragte es nun schon zum dritten oder vierten Male während der Fahrt nach Newchurch. Er blickte den langen, dürren Mann an seiner Seite hilfesuchend an.

Seit Mrs. Carringhton mit ihrer aufregenden Mitteilung in sein Büro geplatzt war, hatte der Fall Newchurch jedes Interesse für ihn verloren, und er wäre am liebsten in London geblieben, um unverzüglich die Suche nach dem Verschwundenen aufzunehmen.

Aber zunächst mußte der Befehl von Scotland Yard ausgeführt werden, auch wenn noch so kostbare Zeit verstrich.

Der Inspektor hätte nun wenigstens gern von Burns einen Trost gehört, denn dieser galt in Scotland Yard als ein Mann, der durch die schwierigsten Probleme und Situationen nicht in Verlegenheit zu bringen war.

Über den Fall Shipley schien sich aber der tüchtige Burns noch nicht so recht im klaren zu sein, denn er zuckte auf die wiederholten dringlichen Fragen seines Begleiters nur mit den Achseln und lutschte an seinem dicken Tabakstengel, den er mit großem Behagen an seinem vorderen Ende als Zigarre und am rückwärtigen als Priem genoß.

Erst nach einer geraumen Weile, als Webster es bereits aufgegeben hatte, aus Burns ein Wort herauszubringen, bequemte sich dieser zu einer Antwort.

»War die Dame, die Sie aufgesucht hat, Dr. Shipleys Frau?«

»Nein«, erwiderte Webster und wunderte sich, daß für den Detektiv dies das Wichtigste zu sein schien. »Nur seine Hausdame . . .«

Burns wiegte nachdenklich den Kopf. »Sonderbar«, sagte er. »Ich an seiner Stelle hätte sie schon längst geheiratet.«

Als sie vor der Polizeistation in Newchurch vorfuhren, fanden sie den Kommissar bereits auf sie warten, und der Mann ließ es sich nicht nehmen, die kargen Ergebnisse seiner Nachforschungen in einen weitschweifigen Bericht zu kleiden, bei dem Burns in einem alten, bequemen Lehnstuhl ein kleines Schläfchen zu halten schien und Webster sich immer wieder fragte, weshalb man gerade ihn mit hergeschickt habe.

Im Hause Milners wurde dann Burns etwas lebendiger. Er überließ es Webster, dem unerschöpflichen Redestrom des tüchtigen Kommissars zuzuhören, und schlich selbst rastlos im Arbeitszimmer umher, wobei seine blinzelnden Augen jeden Zoll des Bodens, der Wände und der Decke absuchten.

Die beiden Toten waren in der Lage belassen worden, in der man sie gefunden hatte, und der Oberinspektor blieb vor der Leiche Milners stehen und betrachtete sie mit besonderer Aufmerksamkeit.

»Haben Sie bereits einen ärztlichen Befund, Kommissar?«

»Selbstverständlich«, beeilte sich dieser zu versichern, »sogar zwei. Herzschlag . . .«

Man wußte nicht, was Burns dazu meinte, denn er verzog keine Miene, sondern besah sich nun den zweiten Toten. Plötzlich wurde sein Gesicht lang, und über seine Lippen kam ein leises, gedehntes Pfeifen.

»Diesen Mann kennt hier niemand«, bemerkte der Kommissar wichtig. »Und man weiß auch nicht, wie er ins Haus gekommen ist.«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Kommissar, da kann ich Ihnen helfen«, meinte Burns. »Ein guter alter Bekannter von mir: David Stone. – Bei dem habe ich mich einmal geirrt«, fügte er nach einer kleinen Pause etwas wehmütig hinzu. »Ich habe ihm nämlich immer prophezeit, daß er im Zuchthaus sterben werde. Jetzt ist es damit leider vorbei.«

Webster fand den Fall ganz klar und alltäglich und konnte nicht begreifen, was die Polizei dabei tun sollte. Daß Burns trotzdem immer noch herumschnüffelte, kam ihm lächerlich vor, aber die Leute von Scotland Yard mußten sich ja bei jeder Gelegenheit wichtig machen, und deshalb konnte er sie auch nicht ausstehen.

Burns hatte eben den Schreibtisch untersucht und die herumliegenden Papiere Blatt für Blatt geprüft, als er mit einer raschen Bewegung nach einem kleinen Gegenstand griff und ihn mit zwei Fingern gegen das Licht hielt.

Es war eine große, wunderbar gefärbte Perle.

»Fein, was?« meinte er blinzelnd.

Der Inspektor besah sich das Prachtstück, aber irgendein Mordinstrument oder wenigstens ein Fingerabdruck wäre ihm unbedingt lieber gewesen.

Nachdem der Oberinspektor seinen Fund in der Brieftasche verwahrt hatte, setzte er die Suche noch eifriger als vorher fort, aber er konnte anscheinend nichts mehr finden, was ihn sonderlich interessiert hätte. Auch die Dinge, die er den Taschen der beiden Toten entnahm, schienen ihn nicht zu befriedigen, denn er legte Stück für Stück achtlos beiseite und ersuchte den Kommissar, ein Verzeichnis anzulegen.

Dann schlurfte er wieder durch das Zimmer, um plötzlich einige Schritte vor dem Kamin stehenzubleiben und scharf den Fußboden zu betrachten. Nach einer Weile kniete er vorsichtig nieder und wischte mit einem Finger behutsam über die rotgestrichenen Bretter.

»Hier hat etwas gelegen und ist dann geschleift worden«, sagte er. »Sie können das an den Spuren ganz deutlich beobachten. Das Zimmermädchen scheint nicht viel wert zu sein, denn der Staub ringsherum muß schon einige Tage liegen.«

Webster grinste spöttisch über diese Entdeckung.

»Halten Sie das für so wichtig? – Ich glaube, zuerst sollten wir uns doch einmal darüber klarwerden, ob hier überhaupt etwas geschehen ist«, fuhr er dann verdrießlich fort. »Mir kommt es so vor, als ob wir unnütz die Zeit vertrödeln, und der Kommissar ist ganz meiner Meinung. Das ist eine Sache für den Totenbeschauer, aber nicht für die Polizei, und ich möchte nur wissen, wer deshalb Scotland Yard alarmiert hat.«

Der lange Burns überließ es dem Inspektor, auf seine Frage selbst eine Antwort zu finden, und interessierte sich mit einem Mal lebhaft für die Gäste, die Milner am letzten Abend bei sich gehabt hatte. Der Kommissar nannte ihm ihre Namen, die er von Dr. Warner erfahren hatte, und Burns machte sich eifrig Notizen.

Dann stieß er plötzlich das Fenster auf und sprang mit jugendlicher Behendigkeit ins Freie.

»Kommen Sie, Webster, wir wollen uns ein bißchen im Garten umsehen.«

Während der Inspektor und der Kommissar ihm etwas steif und schwerfällig folgten, lief Burns bereits die Front des Hauses; ab, und seine Augen wichen nicht vom Boden. Als er wieder zurückkam, stieß er einige Schritte vom Fenster mit der Schnelligkeit eines Raubvogels auf einen Gegenstand, den er rasch in der Tasche verschwinden ließ. Dann erregten einige Fußspuren unmittelbar an der Mauer seine Aufmerksamkeit, und er machte sich äußerst umständlich an deren genaue Untersuchung. Besonders einer der Abdrücke schien ihm viel Kopfzerbrechen zu verursachen, und er nahm sich die Mühe, die Form auf einem Stück Papier mit peinlicher Genauigkeit nachzuzeichnen.

Als er damit fertig war, rannte er mit großen Schritten das eiserne Gitter entlang, das den Garten von allen Seiten einschloß. Er war bereits an der Rückseite des Gitters angelangt, wo der Fahrweg zur Themse vorbeiführte, ohne auf irgendeine weitere Spur gestoßen zu sein, als sein Auge plötzlich von einem weißen Fleck angezogen wurde, der sich wenige Schritte von der Einfriedung von der braungelben Blätterdecke abhob. Mehr mechanisch als bewußt, ging der Detektiv darauf zu und hob ein Kuvert auf, das er kaum in Augenschein genommen hatte, als sich in seinen sonst so ausdruckslosen Mienen grenzenlose Verblüffung widerspiegelte. Er drehte das Papier immer wieder hin und her, und wie um sich zu vergewissern, daß das, was er sah, keine Täuschung sei, las er halblaut vor sich hin: »An Oberinspektor Burns von Scotland Yard . . .«

Nach einer Weile öffnete er den Umschlag und entfaltete ein Briefblatt, das eine energische Männerhandschrift aufwies.

Wohl dreimal überflog Burns den Inhalt, und nach jedem der kurzen Sätze machte er eine Pause, um sich über den Sinn der Worte klarzuwerden.

Es war dies nicht so leicht, denn die Mitteilung klang ziemlich seltsam und rätselhaft:

›Wenn Dr. Shipley gekommen wäre, hätte es dieses Schreibens an Sie nicht bedurft. So aber müssen Sie, wenn Sie klarsehen wollen, Inspektor Webster nach dem Kranken befragen, den man ihm vor einigen Tagen vom Pier gebracht hat und den Dr. Shipley behandelte. – Lassen Sie die Toten nach London bringen, und sorgen Sie dafür, daß sie unter strenger Bewachung bleiben, denn sonst könnte mit ihnen dasselbe geschehen, was mit dem Kranken Inspektor Websters geschehen ist. – Kümmern Sie sich nicht um die Dinge, die im Garten vorgegangen sind, denn diese haben mit der Sache nichts zu tun und könnten Sie nur irreführen‹

Burns blickte lange nachdenklich vor sich hin, dann faltete er das Blatt bedächtig zusammen und schritt dem Hause zu.

Webster war bereits äußerst ungeduldig und machte daraus kein Hehl.

»Wenn wir hier nicht übernachten wollen, wäre es an der Zeit, daß wir uns auf den Weg machen«, empfing er den Oberinspektor. »Oder haben Sie vielleicht etwas entdeckt, daß es verlohnen würde, hierzubleiben?«

Er grinste Burns herausfordernd an, denn es bereitete ihm eine große Genugtuung, den Leuten von Scotland Yard bei Gelegenheit zu verstehen zu geben, daß sie auch nicht gescheiter seien als die anderen Polizeibeamten.

Burns verneinte mit einem resignierten Kopfschütteln. »Erzählen Sie mir doch lieber einmal die Geschichte von Ihrem Kranken, den Doktor Shipley behandelt hat«, sagte er dann plötzlich und sah Webster interessiert an.

Auf die Antwort, die er bekam, war er nicht vorbereitet.

Der Inspektor fuhr wie eine gereizte Bulldogge herum. »Mr. Burns«, er gab sich diesmal keine Mühe, seine Stimme zu dämpfen, und man konnte ihn daher bis an das Ende des Ortes hören, »das verbitte ich mir. Machen Sie sich über sich selbst lustig. Wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären, hätte man nicht nur den Mann, sondern auch Sie noch dazu gestohlen . . .«

Der Oberinspektor machte ein Gesicht wie ein Mensch, dem ein Kübel eiskalten Wassers über den Kopf gegossen wird.

Endlich ging Webster infolge des gewaltigen Stimmaufwands die Luft aus, und Burns kam dazu, ihm den Brief in die Hand zu drücken.

Als Webster mit dem Lesen fertig war, hatte sein Gesicht einen etwas verlegenen Ausdruck, und er sah den Oberinspektor sehr schuldbewußt von der Seite an.

»Na ja, das ist natürlich etwas anderes«, meinte er nach einem gründlichen Räuspern, »aber wenn Sie mich so ohne jede Einleitung nach dieser verdammten Geschichte fragen . . . «

Er erzählte nun ruhig und zusammenhängend die Geschichte von Dr. Shipleys seltsamem Fall, aber als er zu Ende kam, packte ihn sichtlich wieder der Grimm. »Ich möchte wünschen, daß die Bande wirklich hier die Hände im Spiel hat, denn dann kriege ich sie jetzt endlich doch zu fassen.«

Burns hatte wortlos zugehört und schickte sich nun an, wieder durch das Fenster ins Haus zu turnen.

»Was geschieht also jetzt?« fragte Webster plötzlich.

»Genau das, was in dem Brief steht«, erwiderte Burns und verschwand in dem Zimmer.

*

»Mr. Reffold«, empfing ihn Mrs. Benett hastig, als Harry von seinem Besuch im Kastanienhaus und von seiner Jagd hinter dem Mann mit dem Bart gegen ein Uhr nach Hause kam, »Sie sind bereits zweimal aus London angerufen worden, aber ich wußte leider nicht, wann Sie zurückkommen. Die Dame wird sich in einer halben Stunde nochmals melden . . .«

Harry hörte ihr höflich, aber ohne sonderliches Interesse zu.

»Und noch eins muß ich Ihnen mitteilen«, lispelte sie nach einigem Zögern, »Mr. Thompson hat mich abermals aufgesucht . . .«

Reffold hob gespannt den Kopf, und Mrs. Benett war höchst befriedigt über den Eindruck, den ihre Mitteilung machte.

»Natürlich habe ich ihn entsprechend empfangen«, beeilte sie sich zu versichern, »aber er kam eigentlich nur geschäftlich, wenn man so sagen darf. Er bat mich nämlich, ihm einen kalten Imbiß und etwas Wein und Whisky zu überlassen, da sich plötzlich Gäste bei ihm angesagt hätten und er heute anderwärts nichts bekommen könnte, da ja alle Geschäfte geschlossen sind. Diesem Gefallen mußte ich ihm schließlich tun; als er dann aber Miene machte, ein Gespräch zu beginnen, habe ich ihn schnell verabschiedet. Er schien sich mit einem Male für meine Gäste zu interessieren und wollte vor allem über Sie, Mr. Reffold, verschiedenes wissen . . .«

Mrs. Benett machte ein höchst verschmitztes Gesicht, und Harry begann immer interessierter aufzuhorchen. »Selbstverständlich überhörte ich seine Fragen, und als er das merkte, hat er sich sehr rasch empfohlen.«

Harry war nicht sonderlich erbaut, Thompsons Aufmerksamkeit erregt zu haben. Er hatte bei allem, was er bisher getan hatte, die größte Vorsicht beobachtet und war sich keines Versehens bewußt, das Thompson und seine Helfer auf seine Spur hätte führen können. Aber offenbar hatten sie ihr Augenmerk bereits auf ihn gerichtet, und es war ihm lieb, dies zu wissen, da er sich nun danach richten konnte.

Eben kam zum dritten Mal der Anruf aus London, und Mrs. Jane begleitete Reffold in ihr Kontor, zog sich aber sofort mit einem diskreten Lächeln wieder zurück.

Kaum hatte Harry die ersten Worte des Gesprächs vernommen, als sein Gesicht einen bestürzten und erschreckten Ausdruck annahm.

»Verschwunden . . .? Wann . . .? Etwa um elf Uhr . . .?« fragte er hastig. »In einem grünen Ford-Wagen . . .? Ist das sicher . . .? – Bitte, beruhigen Sie sich . . . Ja . . . ich hoffe es . . . Auf Wiedersehen . . .«

Reffold stürmte mit langen Schritten aus dem Kontor und wollte an der verwunderten Mrs. Jane vorbei aus dem Haus eilen, als er es sich plötzlich anders überlegte.

Er bat Mrs. Benett, ihm servieren zu lassen, und während er in dem großen Eßzimmer, das heute ziemlich stark besetzt war, ruhig und mit Appetit speiste, suchte er das, was er soeben erfahren, und das, was er selbst beobachtet hatte, in Übereinstimmung zu bringen.

Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß man sich Shipleys bemächtigt hatte, und nicht nur der dunkelgrüne Ford-Wagen, sondern auch verschiedene andere Momente bestärkten ihn in der Vermutung, daß der Entführte sich in jenem Auto befunden hatte, das vor etwa einer Viertelstunde auf Reichweite an ihm vorbeigefahren war.

Harry rechnete nach: Ungefähr um zehn Uhr hatte er die gewisse Londoner Nummer angerufen, und innerhalb der nächsten Viertelstunde mußten von dort aus gewisse Anordnungen ergangen sein. Gegen elf Uhr war dann das grüne Auto bei Dr. Shipley vorgefahren, und etwa um drei Viertel eins, also genau in der Zeit, die man brauchte, um Newchurch zu erreichen, war die Limousine in dem Schlupfwinkel in der stillen Seitengasse verschwunden. Zeitlich stimmte also die Sache fast auf die Minute, und auch ursächlich fand Reffold einen lückenlosen und völlig verständlichen Zusammenhang: Shipley war zum Kastanienhaus beordert worden – Harry wußte, wer dies veranlaßt hatte –, er durfte aber dort nicht ankommen, wenn das tragische Ende von Milner und Stone nicht als Verbrechen erkannt und damit die Handhabe für eine eingehende polizeiliche Untersuchung gegeben werden sollte.

Reffold erinnerte sich auch des Telefonanrufs, der gestern unter der Nummer des Arztes durch Thompson erfolgt war, und er konnte sich nun erklären, wie sich die Dinge heute vormittag abgespielt haben mochten. Das Gespräch mit Webster war abgehört worden, und gleich darauf stand das Auto bereit, um Shipley abzuholen.

Soweit war Harry alles klar. Nur etwas verursachte ihm noch Kopfzerbrechen: das dunkle Gesicht, das er gesehen hatte, als der Ford-Wagen an ihm vorübergefahren war, und das ihm so bekannt vorgekommen war, das er aber nicht zu identifizieren vermochte, so viele Gestalten seines Bekanntenkreises er auch Revue passieren ließ.

Nach dem Lunch ging Reffold auf seine Zimmer und warf dort zunächst einige Zeilen auf einen Briefbogen, den er kuvertierte und zu sich steckte. Dann breitete er eine große Karte von Middlesex aus und saß eine gute Weile darüber, wobei er sich eifrig Notizen machte.

Pünktlich um drei Uhr verließ er die Pension, nahm sich am Bahnhof ein Taxi und befahl dem Chauffeur, am Kastanienhaus vorüberzufahren und dann die Straße nach Bedfont einzuschlagen.

Als der Wagen am Gitter vorbeirollte, beförderte Harry den Brief, den er zu sich gesteckt hatte, durch einen geschickten Wurf in den Garten. Zu beiden Seiten der Straße, die über Ashford nach Bedfont führte, zogen sich Gemüsegärten hin, und etwa erst nach einer Meile kamen Äcker, Weideland und Wald.

Reffold blickte unausgesetzt scharf nach links und rechts, aber er sah auch nicht ein Gebäude, das seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Endlich beschloß er, den Chauffeur, der gewiß einige Ortskenntnis besaß, zu Rate zu ziehen.

Er hatte auf der Karte zwei Gebäude gefunden, die etwas abseits der Straße lagen und die ihm eines eingehenden Interesses wert schienen. Der Chauffeur kannte diese Baulichkeiten. Die eine, die sie in etwa zehn Minuten erreichen mußten, war eine alte Ziegelei, die aus einem primitiven Brennofen und einigen Schutzdächern bestand; das zweite Gebäude lag etwa drei Meilen weiter und war ein ehemaliges Wildhüterhaus, das aber schon seit Jahren nicht mehr bewohnt war, sondern nur gelegentlich als Unterkunft für die Arbeiter diente, die alljährlich zur Ernte herangezogen wurden.

Als der Wagen in die Nähe der Ziegelei kam, konnte Harry die Baulichkeiten genau überblicken, und er sagte sich, daß sie wohl kaum ein Versteck bieten könnten. Nichtsdestoweniger ließ er den Wagen halten und stieg einen Augenblick aus, um die Umgebung näher in Augenschein zu nehmen.

Die Straße begann nun etwas anzusteigen und verlor sich in einem Wald, der, wie aus der Karte ersichtlich war, fast bis an die ersten Häuser von Jekensfield reichte.

Nachdem Reffold seine Pfeife in Brand gesetzt hatte, ging die Fahrt weiter, und nach wenig mehr als einer Viertelstunde erreichte der Wagen den Wald.

Nach Angaben des Chauffeurs lag das alte Wildhüterhaus etwa 500 Meter weiter am Rande einer Lichtung an der linken Straßenseite, und Reffold fand es daher angezeigt, den Wagen hier stehenzulassen und zu Fuß einen Erkundungsgang zu machen.

Er trat unter die Bäume und schritt längs der Straße dahin, bis er vor einer ausgedehnten, von Farnkräutern und Beerensträuchern überwucherten Fläche stand, die tief in den Waldkomplex einschnitt. Am äußersten Ende der Lichtung stand ein von Wind und Wetter ziemlich mitgenommenes kleines Haus, dessen moosbedecktes Dach bedenklich nach einer Seite überhing. Das Gebäude und seine Umgebung boten ein Bild völliger Verlassenheit, und Harry fragte sich bereits, ob unter diesen Umständen eine nähere Besichtigung wohl lohnend wäre, als sein Blick zufällig auf die Straße fiel und er hier eine Entdeckung machte, die ihn mit einem gewaltigen Satz auf die Fahrbahn brachte.

Der Weg war hier infolge der Feuchtigkeit weniger hart als außerhalb des Waldes, und er konnte plötzlich ganz deutlich die Reifenspuren unterscheiden, die sich ihm mittags völlig unbewußt so deutlich eingeprägt hatten. Als er ihnen einige Schritte nachgegangen war, wußte er, daß er sich am Ziel seiner Nachforschungen befand. Der Wagen hatte hier gehalten, und von der Straße führten deutliche Fußspuren zu dem kleinen Haus.

Er verfolgte sie bis etwa zur Mitte der Lichtung, dann machte er kehrt und untersuchte die Stelle, wo das Auto gehalten hatte, mit besonderer Gründlichkeit. Nach einigen Augenblicken wußte er, daß zwei Mann gekommen waren, aber nur einer wieder gegangen war. Die Spuren, die nach der Hütte liefen, waren tief eingeprägt und unregelmäßig, als ob die Leute eine schwere Last getragen hätten.

»Wie lange brauchen Sie, um mich zur Westminster-Brücke zu bringen?« fragte Reffold den Chauffeur, als er wieder beim Auto angekommen war.

Der Mann rechnete eine Weile gewissenhaft nach.

»Unter drei Stunden werde ich es wohl kaum schaffen, Sir«, meinte er.

»Und wieviel verlangen Sie dafür?«

Der andere schätzte seinen Fahrgast mit einem verstohlenen Blick ab und begann dann rasch einen gehörigen Profit zu kalkulieren. »Drei Pfund, Sir«, erwiderte er nach einer Weile etwas zögernd.

Harry Reffold nickte und sprang in den Wagen.

»All right . . . Und für jede Viertelstunde, die Sie früher dort sind, ein Pfund mehr . . .«


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