Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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28

Es war eine stillschweigende Vereinbarung, daß Harry Reffold bei halbwegs erträglicher Witterung Ann um diese Stunde auf einem bestimmten Weg treffen konnte, und da er sie seit vollen achtundvierzig Stunden nicht gesehen hatte, gab es für ihn augenblicklich keine wichtigere Angelegenheit.

Ann Learner hielt darauf, daß ihre Zusammenkünfte, so harmlos sie waren, unbedingt den Charakter zufälliger Begegnungen hatten. Harry tat ihr daher den Gefallen, ungemein überrascht zu tun, als sie ihm auf einem der Wege zwischen den Villen entgegenkam. Sie sah frisch und heiter aus, und die leichte Befangenheit, die sie bei der stürmischen Begrüßung Reffolds befiel, kleidete sie entzückend.

»Nun, was machen Ihre Angelegenheiten, Miss Ann?« fragte Harry. »Haben Sie endlich damit Ruhe?«

Sie nickte lächelnd. »Gott sei Dank, ja«, sagte sie und atmete befreit auf. »Es hat mich einige Mühe gekostet, Mr. Brook von der Richtigkeit meiner Ansicht zu überzeugen, aber nun ist auch er Feuer und Flamme dafür. Nur die Einzelheiten der Aufteilung stehen noch nicht ganz fest, aber darum kümmere ich mich weiter nicht. Mr. Brook ist ein seelenguter Mensch und wird schon das Richtige treffen.«

»Und Sie werden sich also weiterhin mit acht Pfund in der Woche begnügen, Miss Ann?«

»Mit acht Pfund sechs Schillingen«, korrigierte sie nachdrücklich. »Das ist mehr als genug für meine Ansprüche.«

Er sah starr geradeaus, und sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

»Miss Ann«, sagte er nach einiger Zeit ganz unvermittelt und so obenhin, als ob es sich um eine Kleinigkeit handelte, »was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie bäte, meine Frau zu werden?«

Ann Learner blieb wie angewurzelt stehen und sah mit einem befremdeten, stolzen Blick zu ihm auf.

»Ich würde sagen«, erwiderte sie langsam, »daß Sie entweder den Verstand verloren oder zuviel getrunken haben, Mr. Reffold.«

»Weshalb? Endlich einmal habe ich einen wirklich vernünftigen Einfall und muß dafür so etwas hören. Bin ich Ihnen denn wirklich so unsympathisch?«

»Das hat damit gar nichts zu tun«, wehrte sie verlegen ab. »Aber ich kann Ihre Worte wirklich nur als, gelinde gesagt, geschmacklosen Scherz auffassen. Denn ich glaube, zwischen uns beiden gibt es eine Kluft, die nicht zu überbrücken ist. Ich denke dabei nicht nur an unsere anscheinend so verschiedene Lebensauffassung, sondern auch noch an andere Dinge. Man kennt sich ja bei Ihnen nicht aus, und ich weiß nicht, was an Ihnen echt, was falsch, was Natur und was Pose ist. Nur Ihren Namen kenne ich.«

»Und der ist auch falsch«, fiel Reffold lakonisch ein und lachte so frisch und herzlich, daß sie mitlachen mußte.

»Sie sind unverbesserlich«, meinte sie.

Er sah sich blitzschnell um, und bevor sie sich wehren konnte, riß er sie in seine Arme und küßte sie.

»Um Gottes willen, Mr. Reffold, wenn das jemand gesehen hätte«, stotterte sie hochrot und mit vorwurfsvollen Augen, als er sie endlich losließ.

»Das wäre mir nur angenehm gewesen«, meinte er lächelnd, »denn dann könntest du wenigstens keine Geschichten mehr machen.«

 

Etwa eine Stunde später kehrte Reffold in seine Pension zurück. Er hatte die Absicht, mit dem nächsten Zug nach London zu fahren, um dort die zweite Angelegenheit zu betreiben, die er nun raschestens zum Abschluß bringen wollte.

Diese Angelegenheit war durch den gestrigen Vorfall im Landhaus Vanes in das Stadium der Entscheidung getreten, und Harry ahnte, daß es vielleicht schon in den nächsten Stunden um den Enderfolg gehen würde. Die Zugeknöpftheit, die Burns am Schluß ihrer Unterredung in der verflossenen Nacht plötzlich an den Tag gelegt hatte, wollte ihm nicht recht gefallen, und noch bedenklicher stimmte ihn ein anderer Umstand, der gleichzeitig auch die Lösung des Rätsels von gestern in sich barg. Hatte er mit seiner Vermutung recht, die ihm blitzartig in dem Augenblick gekommen war, da Oberst Gregory sich in der ›Queen Victoria‹ eingestellt hatte, dann stand er jetzt endlich der Gewißheit gegenüber. Sie war ungeheuerlich und unfaßbar, aber er hütete sich, sie von der Hand zu weisen.

In jedem Fall mußte er den Augenblick nützen, und es schien ihm vorteilhaft, die Spur nun bei jedem geheimnisvollen Tonio Perelli aufzunehmen, dessen Schlupfwinkel im Eisernen Tor Bob aufgespürt hatte.

In der Halle stieß Reffold auf Burns, der eifrig damit beschäftigt war, eine Menge Zettel durchzustudieren und zu sortieren. Er zwinkerte Harry lebhaft zu, und als dieser neben ihm stand, flüsterte er, ohne von seiner Arbeit aufzusehen: »Es stimmt. Ich habe mit dem Krankenhaus telefoniert. Eine winzige Stichwunde am linken Fuß, etwas oberhalb der dritten Zehe. Anscheinend von einer Nadel herrührend.«

»Und der sonstige Befund?« fragte Reffold gespannt.

Burns zuckte mit den Schultern. »Herzschlag. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Vielleicht ergibt aber die Obduktion doch irgendeinen Hinweis. Jedenfalls habe ich veranlaßt, daß von Scotland Yard wieder Doktor Shipley dazu beordert wird.«

»Und was sagen Sie zu dem verunglückten Schuh Gregorys?«

Der Oberinspektor beschäftigte sich wieder mit seinen Papieren. »So etwas kann vorkommen«, meinte er philosophisch, und der Ton, in dem er diese Feststellung vorbrachte, verriet, daß er darüber nichts weiter zu sagen wünschte.

Kurze Zeit später fuhr der Wagen Vanes vor der ›Queen Victoria‹ vor, und der Bankier ließ sich durch eines der Mädchen bei Oberst Gregory melden.

Gregory empfing ihn etwas überrascht, aber mit ausgesuchter Höflichkeit.

Vane bedurfte einiger Minuten, bevor er sein Anliegen vorbringen konnte.

»Ich bin gekommen, um Sie um eine ganz besondere Gefälligkeit zu bitten, Oberst«, begann er nervös und verlegen, wobei er es vermied, Gregory anzusehen. »Ich hätte gewiß nicht den Mut gefunden, Sie damit in Anspruch zu nehmen, da ich ja die Ehre Ihrer Bekanntschaft erst seit kurzer Zeit genieße, aber das furchtbare Ereignis hat mich in eine Zwangslage versetzt.«

Er machte eine Pause, denn der kühle, verbindlich fragende Blick Gregorys ermutigte ihn nicht sonderlich, aber dann dachte er an die Wichtigkeit der Sache und nahm einen verzweifelten Anlauf.

»Es handelte sich nämlich darum«, sprudelte er hervor, »daß für kommenden Mittwoch meine Trauung mit Mrs. Mabel Hughes angesetzt war. Nun befindet sich aber Mrs. Mabel infolge des gestrigen Ereignisses in einem so leidenden Zustand, daß es wünschenswert erscheint, die Angelegenheit zu beschleunigen. Ich würde dadurch in die Lage versetzt, offiziell für sie sorgen zu können, und ich glaube, daß eine Mittelmeerreise ihr am raschesten volle Erholung bringen würde. Nun geht gerade Mittwoch früh einer der großen Luxusdampfer der White Star Line ab, und ich habe bereits die Plätze belegen lassen. Ebenso habe ich erwirkt, daß die Trauung schon Dienstag erfolgen kann. Dürfte ich Sie nun bitten, Oberst Gregory, mein Trauzeuge zu sein? Ich weiß, daß dies ein etwas unbescheidenes Ansinnen ist, aber vielleicht findet es unter den besonderen Verhältnissen eine gewisse Entschuldigung.«

Er hielt inne und sah Gregory unsicher und fragend an.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen dienen zu können«, sagte der Oberst verbindlich. Vane ergriff lebhaft seine linke Hand und schüttelte sie herzlich.

»Ich danke Ihnen, Oberst. Sie erweisen mir wirklich einen großen Dienst. Also, Dienstag um zwölf Uhr. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Oberst Gregory, und Sie mir auch morgen eine Stunde opfern könnten, so würde ich Sie noch bitten, bei meinem Anwalt den Ehepakt als Zeuge zu unterzeichnen. Es muß aber nicht sein, da ich Ihre Liebenswürdigkeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen möchte.«

Oberst Gregory machte eine leichte Handbewegung und lächelte sehr höflich. »Ich bitte Sie, Mr. Vane, ganz über mich zu verfügen. Also morgen um wieviel Uhr?«

»Wann es Ihnen paßt, Oberst«, erwiderte der Bankier lebhaft.

Gregory dachte einen Augenblick nach.

»Ich habe ohnehin die Absicht, morgen auf einige Stunden nach London zu fahren. Mit der Fischerei sieht es nämlich infolge des trüben Wassers augenblicklich sehr trostlos aus, und sonst hat Newchurch wirklich keine Reize für mich. Würde es Ihnen genügen, wenn ich Sie in London anrufe, um Ihnen zu sagen, um welche Zeit ich bei Ihnen vorüberkomme? Ich habe nämlich verschiedene Dinge zu erledigen und kann heute noch nicht bestimmt sagen, wie lange mich diese in Anspruch nehmen werden.«

»Ausgezeichnet, Oberst Gregory. Ich erwarte also Ihren Anruf und danke Ihnen recht, recht herzlich.«

Als Vane gegangen war, stand Oberst Gregory eine Weile unbeweglich, und um seinen Mund grub sich ein harter, entschlossener Zug.

Dann verschloß er leise die Tür, entnahm der Brusttasche ein zusammengefaltetes, starkes Papier, breitete es vor sich aus und saß stundenlang grübelnd über den seltsamen Strichen, die in bunten Farben durcheinanderliefen.

*

Das einstöckige Barockhaus in Mayfair, nahe der Park Lane, lag in einem ausgedehnten Garten und machte den Eindruck gediegenen Geschmacks und vornehmer Abgeschlossenheit.

Als Harry den Klopfer energisch in Bewegung gesetzt hatte, mußte er eine geraume Weile warten, bevor sich die kleine Einlaßpforte öffnete und der graue Kopf eines würdevollen Bedienten sichtbar wurde.

Überrascht gab der Mann den Weg frei und verbeugte sich ehrerbietig.

»Etwas Neues, Frederick?« fragte Reffold gut gelaunt und klopfte dem Alten zum Willkomm auf die Schulter.

»Nein, Sir. Nur Lady Laura Crowford hat täglich einige Male angerufen und gefragt, ob Sir bereits zurückgekehrt seien oder wann Sir zurückkehren würden oder wo Sir sich augenblicklich aufhalten.«

Reffolds Lustigkeit nahm zu. »Nun, und was hast du erwidert?«

»Daß ich darüber leider nicht unterrichtet bin«, meinte Frederick, und seine etwas gekränkte Miene verriet, daß er das nicht in Ordnung fand.

»Ausgezeichnet, mein Lieber. Und wenn Lady Laura in den nächsten Stunden etwa wieder anrufen sollte, so bleibt es dabei, verstanden?«

Reffold stürmte die breite Treppe hinauf und schlenderte dann mit wohligem Behagen durch die Räume, deren erlesenen Komfort er so lange entbehrt hatte. In der ›Queen Victoria‹ war es ja ganz nett, und Mrs. Benett tat gewiß das Möglichste, um ihn in jeder Hinsicht zu verwöhnen – Harry lächelte amüsiert, als er daran dachte –, aber hier ließ es sich denn doch etwas angenehmer leben.

Vor allem leistete er sich das Vergnügen, mit Hilfe seines zuverlässigen und unvergleichlichen Kammerdieners Ben einmal wieder gründlichst Toilette zu machen, und dann ließ er Bob kommen.

Der Schwarze erschien mit einem strahlenden Grinsen und rollte erwartungsvoll die runden Augen.

»Nun, Bob, hättest du wieder einmal Lust zu einer kleinen Sache?«

»Oh, Bob haben viel Lust, Sir«, platzte der Mann lebhaft heraus und wußte sich vor Ungeduld kaum zu fassen.

»Also erwarte mich pünktlich um neun Uhr an der London Bridge. Jenseits in der Borough High Street. Aber kein Wort von unserer Verabredung.«

Bob legte beteuernd seine mächtige Hand auf den breiten Mund und machte ein höchst verschmitztes Gesicht.

Der nächste, der an die Reihe kam, war Frederick. Er mußte sämtliche Räume des Hauses, von denen einige schon seit dem Tode des alten Baronets Sir Ralph Russell nicht mehr geöffnet worden waren, aufschließen, und Harry schritt prüfend hinter ihm her und lächelte ununterbrochen in sehr geheimnisvoller Weise.

Als die Besichtigung zu Ende war, begab sich Harry in sein Arbeitszimmer und vertiefte sich in das Telefonbuch, aus dem er sich eine lange Reihe von Adressen und Nummern notierte. Und dann hatte er in buntem Durcheinander sehr eigenartige Telefongespräche mit einem Rechtsanwalt, einem Architekten, dem Chef einer großen Firma für Innendekoration, der Direktrice des bekanntesten Modesalons Londons, mit einem der ersten Juweliergeschäfte und mit der Leiterin eines Vermittlungsbüros für weibliches Hauspersonal. Die Gespräche nahmen fast eine Stunde in Anspruch, und als Harry endlich fertig war, legte er schmunzelnd den Hörer auf und ließ sich den Tee servieren.

Es war kurz vor neun Uhr, als er die Station London Bridge erreichte und von dort gemächlich den Weg zur Themse nahm.

In den Straßen lag undurchdringlicher Nebel, und vom Wasser her pfiff ein eisiger, feuchter Wind, der selbst durch die wetterfesten Überkleider drang.

An der Brücke angelangt, patrouillierte Reffold einige Male auf und ab. Dann winkte er einem Taxi und stieg ein. Als der Chauffeur nach dem Ziel fragte, gebot er ihm durch eine kurze Handbewegung zu warten, und es vergingen nur wenige Sekunden, als auch schon ein schwarzes Gesicht am Wagen auftauchte und der Neger blitzschnell neben dem Chauffeur Platz nahm.

Die Fahrt ging durch Bermondsey bis zum Southwark Park, wo Harry den Chauffeur bezahlte und nun Bob die Führung überließ.

Der Schwarze tauchte nach wenigen Minuten lautlos wie ein Schatten in das enge Gassenlabyrinth des Dockviertels von Rotherhithe, das menschenleer und in nächtlicher Ruhe lag. Nur aus den zahlreichen Matrosenkneipen tönte Lärm, und hie und da schob sich aus dem Dunkel eine fragwürdige Gestalt heran, die Bob jäh haltmachen ließ. Reffold gewahrte, daß in der Hand seines Begleiters ein kurzes Messer blitzte.

Nach etwa einer Viertelstunde wurden die Schritte des Negers langsamer, und er gab seinem Herrn durch eine Gebärde zu verstehen, daß sie sich ihrem Ziel näherten.

Die Gäßchen wurden noch enger und winkliger, und die Mauern der verwahrlosten Häuser schienen sich ineinanderzuschieben. Es ging an Haustüren vorbei, die schief in den Angeln hingen und Einblick in dunkle Schlünde gewährten, aus denen ein stickiger Modergeruch drang, über Haufen von Gerümpel und Unrat, aber der Fuß des Schwarzen strauchelte auch nicht ein einziges Mal, und er fand auch immer noch Zeit, seinen Herrn vor allen Tücken dieses furchtbaren Weges zu bewahren.

Plötzlich machte Bob mit einer jähen Bewegung halt, und während er Reffold die Hand warnend auf den Arm legte, horchte er minutenlang angestrengt in die Nacht. Er schien etwas gehört zu haben, was ihn zu besonderer Vorsicht mahnte. Nach einer Weile schüttelte er verwundert seinen Kopf und schlich, wie ein Raubtier zum Sprung geduckt, weiter.

Unwillkürlich schob Harry die Hand in die Tasche seines Wettermantels und umklammerte den Griff des Brownings.

Sie traten nun in eine etwas breitere Gasse, die der Neger rasch überquerte. Kurz darauf zog er Reffold in das Eiserne Tor.

Auch hier schien alles Leben erstorben, und aus den dunklen Schluchten der Höfe schimmerte nur hie und da ein trübes Licht.

Das Haus Tonio Perellis lag völlig im Dunkeln, und auch als Bob vorsichtig heranglitt und durch die geschlossenen Läden blickte, vermochte er nicht den geringsten Lichtschein wahrzunehmen.

Sie umschlichen nun das ganze Haus mit der anstoßenden Holzgarage und hielten dann im Hof Umschau, dessen Mauerwerk an zahlreichen Stellen eingestürzt war und so eine Menge von Ausgängen bot.

Plötzlich blieb Bob wiederum mit einem Ruck stehen, um zu lauschen. Auch Harry hatte einen Ton vernommen, der ihn aufhorchen ließ.

Der Ton, der wie das leise, metallische Zittern einer Saite klang, kam von oben, und Reffold sah unwillkürlich zu den winkeligen Giebeln auf, die sich schattenhaft aus dem nächtlichen Nebel hoben.

Nach einigen weiteren Schritten glaubte Harry den in Intervallen wiederkehrenden Klang besonders deutlich und ganz nahe zu hören, und er machte halt, um der Sache nachzugehen. Sie standen in einem abgelegenen Winkel etwa dreißig Schritt von Perellis Haus entfernt, und als Reffold die Mauer untersuchte, stieß er auf eine Metallröhre, die in die Höhe führte.

Harry war eben im Begriff, eine nähere Untersuchung anzustellen, als er plötzlich die Hand seines Begleiters auf seinem Arm fühlte und im Schatten der Mauer rasch vorwärts gezogen wurde.

Die scharfen Sinne Bobs mußten irgendeine Gefahr entdeckt haben, denn er drängte in wilder Flucht dem Torbogen zu, und es schien ihm nichts auszumachen, daß ihre hastigen, stolpernden Schritte laut durch den Hof hallten.

Mit einem kräftigen Ruck riß der Schwarze seinen Herrn in das dunkle Tor und eilte Seite an Seite mit ihm die Gasse entlang. Aber schon stürmten hinter ihnen schwere Schritte her, und durch die nächtliche Stille fuhr jäh ein kurzer, scharfer Pfiff.

Der Neger schien das Gäßchen, durch das sie gekommen waren, in der Eile verfehlt zu haben und versuchte nun, auf einem anderen Weg aus dem Labyrinth herauszukommen, aber Reffold war es, als ob sie im Kreise herumirrten.

Hinter sich hörten sie immer näher den stampfenden Lauf schwerer Stiefel, und als Harry zurückblickte, sah er zwei Gestalten aus dem Nebel auftauchen.

Die Burschen schnellten mit langen Sätzen vorwärts, und Sams Atem kam keuchend aus der mächtigen Brust.

»Verdammt«, stieß er hervor, »eine Minute zu spät. Sonst hätten wir sie drinnen erwischt. Aber an der nächsten Ecke kommen die andern, und dann haben wir sie hübsch in der Mitte. Laß mir den schwarzen Hund, und übernimm du den Herrn. Es soll die schönste Stunde meines Lebens werden!«

Auch Reffold hatte nun Sam als einen der Verfolger erkannt, und als sie zum nächsten Gäßchen kamen und ihnen auch hier laufende Schritte entgegenhallten, begann ihm die Situation bedenklich zu werden. Er hätte es, mit Bob an der Seite, ohne weiteres mit einer ganzen Bande aufgenommen, aber er wußte, daß es einen Kampf auf Leben und Tod geben würde und daß er von seinem Revolver würde Gebrauch machen müssen, ob er nun wollte oder nicht.

Ein Straßenkampf mit solchem Ausgang mußte aber eine Menge von Scherereien im Gefolge haben, die ihm gerade jetzt nichts weniger als gelegen kamen, da er sich für die nächste Zeit weit angenehmere Dinge vorgenommen hatte.

An ein Entrinnen war kaum noch zu denken, und Harry entschloß sich, ein Mittel zu versuchen, von dem er zwar nicht viel hielt, das ihn aber einigermaßen entschuldigen konnte, wenn es zum Äußersten kam.

Er griff nach dem Pfeifchen, das er, wie immer bei solchen bedenklichen Unternehmungen, am Handgelenk trug, und setzte es an die Lippen.

Die Verfolger waren bereits auf etwa zehn Schritte herangekommen, da schrillten ein langer und drei kurze, silberhelle Pfiffe durch die stille Nacht . . .

Harry hörte noch, wie die laufenden Schritte hinter ihm plötzlich haltmachten – dann aber ging jedes Geräusch in einem wahren Höllenlärm unter.

Aus dem anscheinend völlig menschenleeren Gäßchen, in dem sie sich befanden, aus allen Winkeln rings um das Eiserne Tor, ja sogar von den Dächern gellten die Signalpfeifen der Polizisten, und die ganze Gegend hallte von heranstürmenden Schritten und Zurufen wider.

Reffold gewahrte, wie Sam und sein Begleiter taumelnd in einem dichten Knäuel verschwanden und wie auch die Gruppe vor ihm, ehe sie noch das Weite suchen konnte, eingeschlossen war, und er zog den staunenden und etwas enttäuschten Bob rasch in eines der dunklen Tore . . .

Erst nach etwa einer Stunde konnten sie ihren Weg fortsetzen, aber überall in Rotherhithe stießen sie nun auf Polizeipatrouillen, denen sie in weitem Bogen auswichen.

In Scotland Yard gab es eine aufregende Nacht. Man hatte Sir Wilford Roberts gemeldet, daß in Rotherhithe das gewisse Signal gehört worden wäre und daß man sechs verdächtige Leute – darunter einige langgesuchte, schwere Burschen – festgenommen hätte. Sonst sei aber niemand dort angetroffen worden.

Der Chef nahm diese Meldung mit sichtlicher Erregung entgegen, und Oberst Jeffries hatte zwei schwere Stunden zu überstehen. Es wurde alle fünf Minuten angeklingelt, und die Stimme Sir Wilfords klang immer schärfer, als absolut keine neue Meldung erstattet werden konnte.

Erst nach Mitternacht kam die Erlösung, und zwar vom Chef selbst. Dieser teilte kurz und bündig mit, daß alles in Ordnung sei und daß die Verhafteten unbedingt in sicherem Gewahrsam zu bleiben hätten.

Auch Burns hatte einen schlechten Abend gehabt. Er marschierte in seinem Büro, in dem er gegen neun Uhr plötzlich aufgetaucht war, erregt auf und ab und schien so wütend, daß Sergeant Smith ihn immer wieder verwundert ansah.

»Was haben Sie denn, Oberinspektor?« fragte er endlich.

»Was ich habe?« fuhr ihn Burns an. »Satt habe ich die Geschichte. Nun können wir beim Eisernen Tor einpacken, mein Lieber, denn das Gesindel weiß, wie es steht. Der Teufel hole alle Dilettanten.«

So etwas Ähnliches glaubte am nächsten Mittag auch Reffold zu hören, als Burns mit einem bösen Blick und einem sehr kühlen Gruß in der ›Queen Victoria‹ an ihm vorüberhuschte.

»Nun, Mr. Burns, Sie machen ja ein Gesicht, als ob Ihnen sehr kostbare Felle weggeschwommen wären.«

Burns wurde feuerrot und schob mit einem Ruck die Hände in die Hosentaschen.

»Hören Sie, Mr. Reffold«, sagte er, »Sie haben es wirklich nicht nötig, sich über die Geschichte auch noch lustig zu machen. Wenn Sie wüßten, was Sie mit Ihrem Ungeschick verdorben haben, würden Sie sich irgendwo verkriechen und die Spielerei, zu der Sie nun einmal kein Talent haben, für immer sein lassen.«

Harry lächelte den ergrimmten Mann harmlos und gemütlich an.

»Werde ich auch, Mr. Burns. Aber damit Sie mich nicht in allzu übler Erinnerung behalten, will ich Ihnen etwas sagen, was Sie gewiß für mein Ungeschick einigermaßen entschädigen wird. Wenn Sie die gewissen Leitungen suchen, so brauchen Sie Ihre Leute nicht weiter auf den Dächern herumkriechen zu lassen, sondern Sie finden sie im zweiten Hof des Eisernen Tors an der rechten Seite. Und was Sie sonst noch interessiert, können Sie in der Werkstatt Tonio Perellis erfahren. Guten Tag, Mr. Burns.«

Der Oberinspektor nahm den Hut ab, kratzte sich am Kopf und blickte Reffold mit offenem Mund nach.


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