Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

»Drittens . . .«, sagte Harry Reffold unvermittelt und ließ das Monokel geschickt in die Handfläche gleiten, während er etwas erstaunt die Brauen hochzog.

Eben war Oberst Gregory an ihm vorübergekommen, und Harry hatte einen scharfen Blick aufgefangen, den er mit kühler Gelassenheit erwidert hatte.

Er vergrub sich wieder in den tiefen Klubsessel, der in der Halle stand. Hatten ihn bisher zwei Dinge beschäftigt, so waren es jetzt drei – und sie erinnerten ihn daran, daß der Zweck seines Aufenthaltes in Newchurch nicht die hübsche Ann Learner, sondern eine weit unangenehmere Sache war.

Da war zunächst dieses seltsame Schreiben, das auf ebenso seltsame Weise in seine Hände gelangt war. Er hatte es nach einem kurzen Spaziergang mit Ann, die er auf dem Wege zu verschiedenen Besorgungen getroffen hatte, in der Tasche seines Mantels gefunden.

Der Brief stak in einem gewöhnlichen Geschäftskuvert, das seine Adresse trug, und war auf einem gewöhnlichen Geschäftspapier mit einer tadellosen Maschine einer der landläufigsten Typen geschrieben. Reffold war, als er das Schreiben entfaltete, auf verschiedenes gefaßt, aber was er zu lesen bekam, hatte er doch nicht erwartet.

Die Zeilen lauteten:

›Sie haben es gewagt, mir ins Gehege zu kommen, und ich will mich deshalb mit Ihnen auseinandersetzen.

Finden Sie sich am Tage nach Erhalt dieses Schreibens um die zehnte Abendstunde bei dem abgebrannten Waldhüterhaus an der Straße nach Bedfont ein.

Sind Sie vernünftig und lassen Sie mit sich reden, so haben Sie nichts zu befürchten, denn ich brauche entschlossene Leute Ihres Schlages. Kommen Sie aber nicht oder denken Sie an Verrat oder einen Gewaltstreich, so wird meine strafende Hand Sie ebenso sicher zu erreichen wissen wie die Hand, die Ihnen diese Zeilen zugestellt hat.

Denken Sie an Milner, Stone und Crayton.

Der Herr.‹

Nachdem er diesen kategorischen Befehl, über dessen Ernst er nicht einen Augenblick im Zweifel war, einige Male überflogen hatte, war sich Reffold dessen bewußt geworden, daß nach Monaten mühevoller Nachforschungen endlich ein entscheidender Augenblick bevorstand.

Der geheimnisvolle Gegner, der nun selbst in Aktion trat, war weit gefährlicher als seine Werkzeuge, mit denen er bisher so leichtes Spiel gehabt hatte. Harry mußte nun mit einem Kampf rechnen, bei dem der andere seine ganze Verschlagenheit und all seine tückischen Waffen anwenden würde.

Während Harry vor dem Eingang der ›Queen Victoria‹ eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte, um sich über seine nächsten Schritte schlüssig zu werden, hatte sich die zweite bedeutsame Episode dieses Morgens abgespielt.

Auf der Landstraße, die in einer Entfernung von etwa dreißig Schritten an der Pension vorüberführte, hatte ein Auto unter einem scharfen Knall eine Reifenpanne gehabt, und als Reffold unwillkürlich hinblickte, war es wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper gefahren.

Er sah nämlich plötzlich das dunkle Gesicht vor sich, das er vor einigen Tagen in dem Auto wahrgenommen hatte, und nun, da er den Mann, der sich mit fieberhafter Eile an die Ausbesserung des Schadens machte, genauer betrachten konnte, wußte er mit einem Mal, woher er dieses olivenfarbige Gesicht und diese gedrungene Gestalt kannte.

Er hatte an jenem Abend, der später Dr. Shipley seinen seltsamen Fall bringen sollte, den ihm längst verdächtigen Thompson in dem winkligen Gassengewirr von Bermondsey verfolgt, doch war ihm dieser knapp an der Themse entwischt. Als er dann den Kai entlanggeschlendert war, hatte er plötzlich einige warnende Pfiffe gehört, und im nächsten Augenblick hatte ihn in dem dichten Nebel eine Gestalt so heftig angerempelt, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Unwillkürlich hatte er zugefaßt und dabei sekundenlang in ein Paar wildfunkelnder Augen geblickt, die sich ihm, wie die ganze fremdländische Physiognomie des Mannes, unauslöschlich eingeprägt hatten. Dann aber hatte sich der Bursche frei gemacht und war blitzschnell im Dunkel verschwunden. Nach wenigen Schritten war Reffold auf mehrere Polizisten gestoßen, die sich um einen anscheinend Leblosen bemühten, und er hatte Gelegenheit gehabt, diese wichtige Episode bis zu ihrem Ende zu verfolgen.

Nun hatte ihm der Zufall diesen Mann wieder in den Weg geführt, aber Harry sah keine Möglichkeit, sich diese günstige Fügung zunutze zu machen. Der Bursche schien sehr mißtrauisch und beeilte sich mit seiner Arbeit derart, daß der Wagen sich schon nach wenigen Minuten wieder in Bewegung setzen konnte. Aber im letzten Augenblick war Reffold ein Einfall gekommen, der ihn lächelnd zusehen ließ, wie das Auto mit dem braunhäutigen Chauffeur in eiliger Fahrt den Weg nach London nahm; und diesem Einfall war es zuzuschreiben, daß Tonio Perelli plötzlich von Richmond bis zum Eisernen Tor ein flinkes Motorrad auf den Fersen hatte.

Nun, da Oberst Roy Gregory auf der Bildfläche erschienen war, hatte der Tag für Reffold das dritte Ereignis gebracht, das ihm zu denken gab.

Er kannte Gregory, der erst vor wenigen Monaten nach London zurückgekehrt war, nur vom Sehen, aber der arme Arthur Colburn hatte zuweilen von ihm gesprochen, und Reffold hatte aus verschiedenen dieser Äußerungen seine Schlüsse gezogen.

Wenige Wochen nach dem Tode seines Vetters hatte er dann gelesen, daß der Oberst seinen Abschied genommen hätte, und als er ihn vor wenigen Augenblicken plötzlich vor sich gesehen hatte, war ihm eine seltsame Vermutung gekommen.

Und diese Vermutung beschäftigte Harry Reffold nun weit mehr als die Persönlichkeit des dunkelhäutigen Chauffeurs. Sie versetzte ihn sogar in noch größere Unruhe als die bevorstehende Zusammenkunft mit dem geheimnisvollen ›Herrn‹!

 

Burns sah noch immer sehr angegriffen aus, denn er war nur mit Mühe zwei Tage im Hospital zu halten gewesen und dann einfach ausgekniffen, um wieder in der ›Queen Victoria‹ sein Quartier aufzuschlagen.

Seit seinen Nachforschungen beim Tod Craytons begann er auch im Fall Milner viel klarer zu sehen, und als er am Tag nach seiner Rückkehr sich nochmals im Kastanienhaus umgeblickt hatte, war er auf verschiedenes gekommen, das ihn außerordentlich befriedigte.

»Sie sollten sich noch schonen und vor allem zusehen, daß Sie wieder zu Kräften kommen«, sagte Webster mit vollem Mund, während sie beim Lunch saßen. »Es hat gar keinen Zweck, wenn man seine Gesundheit wegen des albernen Dienstes aufs Spiel setzt, denn Dank hat man dafür doch nicht zu erwarten«, fügte er bissig hinzu.

Der Inspektor nahm einen gehörigen Schluck Porter, um seinen Grimm hinunterzuspülen.

»Ich sage Ihnen«, fuhr er mißgestimmt fort, »mir steht Scotland Yard bis hier.« Er fuhr sich mit dem dicken Zeigefinger um den Hals und rollte wütend die Augen. »Alles hatte ich schon so fein eingefädelt, und wenn wir diesen verdammten Reffold und Mrs. Carringhton einfach hinter Schloß und Riegel gesetzt hätten . . .«

»Mrs. Carringhton? Was soll die damit zu tun haben?« unterbrach ihn Burns verblüfft.

Webster weidete sich an dem Blick, der ihn traf.

»Da staunen Sie, was? Aber die Sache stimmt. Ich habe ein bißchen auf eigene Faust gearbeitet, während Sie krank waren.«

»Leider scheint es so«, murmelte Burns und kratzte sich verzweifelt am Kopf.

»Wie meinen Sie das?« Der Inspektor sah ihn mißtrauisch an, und seine Frage klang sehr gereizt. »Sie scheinen auch einer von denen zu sein, denen es nicht paßt, wenn ein anderer einen Erfolg hat.«

»Gott behüte«, meinte Burns sanft, »Ihnen würde ich das von Herzen gönnen.«

»Nun«, trumpfte Webster auf, »ist es etwa nichts, wenn ich festgestellt habe, daß Reffold der Mann war, der Doktor Shipley gefesselt und geknebelt zurückgebracht hat? Und wenn ich darauf gekommen bin, daß Mrs. Carringhton eine sehr gute Bekannte von diesem Gauner ist? Wäre Ihnen das je eingefallen, he?«

Er sah den Oberinspektor triumphierend an. Burns hatte überrascht den Kopf gehoben. Was er vernommen hatte, schien ihm zu denken zu geben.

»Das sind doch gewiß Dinge, über die man nicht so ohne weiteres hinweggehen sollte«, fuhr Webster nach einer Weile fort. »Und wenn Sie gesehen hätten, wie Mrs. Carringhton in die Enge geraten ist, als ich sie mir vorgenommen habe, hätten Sie sich auch einen Reim darauf gemacht.«

»So . . .? Vorgenommen haben Sie sie also?« Das Gesicht des Oberinspektors war immer länger geworden. »Na, und dann?«

»Und dann . . .?« echote Webster ärgerlich. »Dann ist sie eben durchgegangen.« Er grinste bissig und blickte Burns herausfordernd an. »Scotland Yard war ja so nett, ihr Zeit dazu zu lassen.«

»Gott sei Dank«, hauchte Burns, und man merkte ihm die Erleichterung an. »Der arme Doktor Shipley . . .«

»Der tut mir allerdings auch leid«, pflichtete Webster etwas kleinlaut bei. »Aber bei solchen Dingen kann man keine Rücksicht nehmen. Die Hauptsache ist, daß wir mit der verdammten Geschichte endlich einmal fertig werden.«

»Werden wir ja . . .«, nickte Burns. »Ich verstehe nicht, warum Sie auf einmal so ungeduldig sind. In etwa einer Woche, schätze ich, wird es soweit sein . . .«

Burns unterbrach sich plötzlich und hob interessiert den Kopf. Seine scharfen Augen blinzelten sekundenlang Oberst Gregory an, der eben das Eßzimmer betrat und sich an einem der kleinen Tische niederließ.

»Sonderbar . . .« murmelte er halblaut und wiegte nachdenklich den Kopf.

»Was ist sonderbar?« grölte Webster, der zugehört hatte.

»Daß Sie mit Ihrer prachtvollen Stimme nicht Bassist geworden sind«, erwiderte Burns ebenso laut. »Oder Kapitän auf einem Walfischfahrer. Oder meinetwegen auch Marktschreier. Da hätten Sie es mit diesem Organ zu etwas bringen können. Aber bei der Polizei schreit man nicht so, mein Lieber«, fuhr er tuschelnd fort. »Darauf habe ich Sie doch schon einige Male aufmerksam gemacht. Ich finde es nämlich sonderbar«, setzte er noch leiser hinzu, »daß man Oberst Gregory, der doch einmal ein großer Mann war – drehen Sie sich nicht um, er sitzt hinter Ihnen –, plötzlich so sang- und klanglos fallengelassen hat. Nicht einmal auf seinen Namen darf man anscheinend zu sprechen kommen. Ich habe gestern selbst versucht, bei einigen Stellen, die etwas wissen müßten, auf den Busch zu klopfen, habe aber damit kein Glück gehabt. Die Leute waren anfangs ganz nett, aber sowie ich den Namen Gregory nannte, gab es überall mißtrauische Blicke und höchstens ein verlegenes Schulterzucken.«

»Das ist allerdings auffallend«, hauchte Webster. »Sie lassen ihn doch überwachen?«

Burns lächelte etwas wehmütig. »Soweit er sich's eben gefallen läßt. Und er ist in dieser Beziehung nicht gerade entgegenkommend. Bis jetzt weiß ich nur zweierlei: Einmal, daß er in Craytons Haus war, als dieser ums Leben kam, und zweitens, daß er für die Umgebung des Eisernen Tors eine besondere Vorliebe zu haben scheint. Er ist dort in den letzten Nächten wiederholt gesehen worden, aber immer ebenso spurlos wieder verschwunden, wie er aufgetaucht ist.«

Der Inspektor schnaufte vor Erregung und legte Burns seine große Hand auf den Arm.

»Sie glauben also, daß der Oberst mit Reffold unter einer Decke steckt?«

Burns richtete sich plötzlich kerzengerade auf und starrte Webster an. Dann begann er sich heftig die Nase zu reiben und wurde so nachdenklich, daß der Inspektor kein Wort mehr aus ihm herausbekommen konnte.

Oberst Gregory speiste mittlerweile mit der vornehmen Gelassenheit eines Menschen, der seiner Umgebung nicht das geringste Interesse abgewinnen kann. Nur zuweilen schien es, als ob sein Blick blitzartig den Tisch der beiden Polizeibeamten streifte und als ob um seine schmalen Lippen dabei ein spöttisches Zucken spielte.


 << zurück weiter >>