Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Wie immer, wenn er Gäste erwartete, war der kleine, behäbige Frank Milner furchtbar aufgeregt und rannte mit seinen kurzen, dicken Beinen brummend und scheltend von einem Zimmer ins andere.

Der arme Nick mit dem einfältigen Gesicht, der sonst das Haus und den Garten in Ordnung hielt, schwitzte bereits seit Stunden Blut und bemühte sich vergeblich, auch nur die Hälfte der Weisungen in seinem Schädel zu behalten, die ihm Milner mit seiner piepsigen, fetten Stimme unausgesetzt in die Ohren schrie.

Um sich für seine Hausherrenpflichten zu stärken, nahm Milner immer wieder einen Schluck Whisky, und aus seiner schwarzgebrannten Shagpfeife stiegen dichte, graue Rauchschwaden.

Ann, die bei ihrem Eintritt gerade in solch eine Wolke geriet, rümpfte das Näschen, ging kurzerhand zu einem der Fenster und stieß es auf. »Wenn man Gäste erwartet, Onkel, so empfängt man sie nicht in einer Räucherkammer.«

Sie legte die Pakete auf das kleine Büfett, und Frank Milner trippelte eilig herbei.

»Nichts vergessen, Ann?« fragte er lebhaft. »Den Kaviar – die Heringe – die Zigarren?«

Ann machte ein etwas ungeduldiges Gesicht. »Alles da. Wenn ich mich umgekleidet und den Tee genommen habe, werde ich in der Küche beim Anrichten helfen.«

Sie nickte ihrem Onkel flüchtig zu und verschwand.

Der Verkehr zwischen ihr und dem Bruder ihrer verstorbenen Mutter war weder auf Herzlichkeit noch auf Förmlichkeiten gestellt. Sie gingen sehr kühl, zuweilen auch ziemlich gereizt aneinander vorüber, und nur wenn Frank Milner es in einem seiner häufigen Schwipse mit Rührseligkeit zu tun bekam, entdeckte er sein Herz für seine Nichte. Dann versuchte er, sie mit seinen dicken, feuchten Patschhändchen zu tätscheln, bekam Tränen in die verschwommenen Glotzaugen und erging sich glucksend in rätselhaften Andeutungen, die Ann für irgendwann ein märchenhaftes Leben verhießen.

Ann fand ihren Onkel in dieser Verfassung noch widerwärtiger als sonst, und es fiel ihr nicht ein, seinem trunkenen Lallen irgendwelche Bedeutung beizumessen. Sie wußte, daß er wohlhabend sein mußte, aber er schien das, was er hatte, auch für sich aufzubrauchen, denn er ließ sich nichts abgehen, und in den letzten Jahren hatte er nie etwas getan.

Für sie selbst hatte er immer nur das Allernotwendigste übrig gehabt, und auch das wohl nur, weil er mußte. Er hatte auch darauf gesehen, sie so rasch als möglich auf eigene Füße zu stellen, und das war das einzige, wofür ihm Ann aufrichtig dankbar war, denn sich von dem alten, unleidlichen Egoisten völlig abhängig zu wissen, wäre ihr furchtbar gewesen. So aber hatte sie ihm heute nichts mehr zu danken; denn dafür, daß er ihr Unterkunft und Unterhalt bot, kümmerte sie sich in ihren freien Stunden um sein Hauswesen, das unter dem Regime der behäbigen Haushälterin und des faulen und unbeholfenen Nick wohl bald ins arge geraten wäre.

Frank Milner wußte das und fand es ganz in Ordnung. Es kam ihm nie in den Sinn, daß sie als seine Nichte Anspruch auf ein anderes Leben haben könnte, denn erstens hatte er es in seiner Jugend noch weit schlechter gehabt, und zweitens hatte er seine Prinzipien. Er war in Anns Alter und noch lange Jahre darüber hinaus von einer kümmerlichen und fragwürdigen Existenz in die andere geschlüpft und hatte es nur seiner Tüchtigkeit und Geriebenheit zu danken, daß er von den beiden ihm einzig offenstehenden Möglichkeiten – Wohlstand oder Zuchthaus – die erste erreicht hatte.

Seither genoß er im Bewußtsein redlich getaner Arbeit die wohlverdiente Ruhe.

Als es auf sieben Uhr ging, wurde Milner nervös, und erst nach einigen Gläsern Whisky kam in sein zappeliges Wesen eine gewisse Ruhe. Er fühlte sich nun den schwierigsten Dingen gewachsen, und das war auch nötig, denn es stand ihm noch eine äußerst heikle Sache bevor, ehe er sich mit seinen Gästen zu Tische setzen konnte.

Endlich hallte die alte, heisere Glocke, deren Schall er schon ungeduldig erwartet hatte, durch das Haus. Er hielt Nick, der sich auf die Beine machen wollte, energisch zurück und eilte selbst zur Tür, um zu öffnen.

Nach einem flüchtigen Blick und einem kurzen Händedruck führte er den Gast eilig und geheimnisvoll durch den halbdunklen Flur in sein zu ebener Erde gelegenes Arbeitszimmer, das er sofort sorgfältig abschloß, und nun erst fand er eine vertrauliche Begrüßung angezeigt.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Mr. Stone. Wie geht es Ihnen?«

Mr. David Stone schälte sich mit der gelassenen Grandezza eines Lords aus seinem Mantel, ließ sich in den Klubsessel beim Schreibtisch fallen und zupfte sich die elegante Weste und die tadellos gebügelten Beinkleider zurecht.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Mr. Milner«, sagte er etwas mißmutig, »weil mit Ihnen nichts Vernünftiges mehr anzufangen ist, und es geht mir soso, weil mir meine Gallensteine manchmal zu schaffen machen. Aber um Ihnen das zu sagen, bin ich nicht gekommen. Was ist also mit dem Vorschlag, den ich Ihnen heute vormittag am Telefon machte? Haben Sie sich entschlossen?«

Milner fuhr sich mit der zitternden Hand überlegend über den kahlen, kugelförmigen Schädel.

»Verdammt viel Geld, Mr. Stone«, meinte er zögernd.

David Stone zündete sich eine Zigarre an. »Zwölftausend Pfund, nicht einen Penny mehr, aber auch nicht einen Penny weniger, Mr. Milner. Sie verdienen dabei meiner Schätzung nach mindestens hundert Prozent.« Er stieß energisch einige Rauchringe in die Luft. »Bei Gott, ich würde das Geschäft selbst machen, denn ich bin kein Menschenfreund, der andern das schöne Geld so ohne weiteres in den Rachen schiebt«, bekannte er aufrichtig, »aber Sie kennen ja die niederträchtige Bedingung: Zwölftausend Pfund sofort bar auf den Tisch. Wer kann das bei den heutigen schlechten Zeiten so ohne weiteres? Aber Sie haben solche Kunststücke ja schon öfter zustande gebracht. Weiß der Teufel, wie Sie das anstellen.« Er beugte sich vor und sah Milner ungeduldig an. »Also wollen Sie, oder wollen Sie nicht?«

Milner überlegte noch immer, und in seinem Gesicht spiegelten sich seine Bedenken wider.

»Ist die Sache auch wirklich unbedenklich?« meinte er nach einer Weile. »Sie wissen, daß ich für anrüchige Geschäfte nicht zu haben bin.«

Stone wiegte den Kopf und schnalzte leise mit der Zunge.

»Was heißt bedenklich und was heißt anrüchig? Sehe ich so aus, als ob ich mich mit solchen Sachen abgeben würde? Ich kann Ihnen nur sagen, es ist ein Geschäft ohne jedes Risiko. Sie können morgen in die City gehen und die Sachen zum Kauf anbieten, und es wird Ihnen nichts geschehen. Weil Sie eben der reiche Frank Milner sind, den man kennt und bei dem der Besitz solcher Kostbarkeiten nicht auffallend ist. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so gehen Sie lieber nach Amsterdam oder nach Antwerpen, weil man dort bessere Preise zahlt.«

Milner hatte, einer plötzlichen Eingebung folgend, ein kleines, abgegriffenes Notizbuch aus einer Lade seines Schreibtisches geholt und eine Weile darin geblättert. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte.

»Herzogin von Trowbridge – und Mrs. Fairfax – oder eine russische Sache?« fragte er grinsend, indem er seine Stimme zu einem leisen Flüstern dämpfte.

Der andere sah ihn mit großen, vorwurfsvollen Augen an.

»Was reden Sie da zusammen, Mr. Milner? Ich habe Ihnen schon immer gesagt, Sie trinken zuviel. Wie kommen Sie auf so etwas? Ich schwöre Ihnen, wenn Sie die Herzogin von Trowbridge oder Mrs. Fairfax stundenlang vor die Sachen stellen, so wird keine von ihnen auch nur einen Augenblick der komische Einfall kommen, daß etwas von diesen kostbaren Steinen einmal ihr gehört haben könnte.«

Er erhob sich gemessen. »Mr. Milner, Sie wissen, daß ich meine Zeit nicht vertrödeln kann. Wenn Sie die Sache machen wollen, müssen Sie es jetzt sagen; wenn Sie aber ›nein‹ sagen, werde ich Ihnen auch nicht böse sein, nur werden Sie mir leid tun, denn so etwas trifft sich nur einmal.«

Er zog seinen Mantel an und griff nach dem Hut.

Frank Milner wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief auf. Dann streckte er Stone die Hand hin. »Also zwölftausend Pfund.«

David Stone schlug mit großer Förmlichkeit ein. »Zwölftausend Pfund in die Hand. Hier Geld – hier Ware. Natürlich können Sie sich die Ware vorher noch ansehen. Ich bin nicht so, daß ich Ihnen zumuten würde, die Katze im Sack zu kaufen. Aber ich weiß, wenn Sie die Steine erst gesehen haben, werden Sie sie nicht mehr aus der Hand geben. Ein Märchenschatz!« Er verdrehte verzückt die Augen. »Um wieviel Uhr paßt es Ihnen also? Mein Wagen steht in der nächsten Straße, und ich kann innerhalb drei Stunden in London und wieder zurück sein.«

Milner dachte einen Augenblick nach. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, so wäre mir eine spätere Stunde lieber. Etwa gegen ein Uhr.«

Stone sah auf seine kostbare Uhr und reichte Milner kordial die Hand. »All right. Pünktlich um eins.«

»Sie brauchen nicht zu läuten«, flüsterte Milner. »Ich werde Sie bei der Haustür erwarten und Ihnen öffnen.«

Er geleitete seinen Gast wieder selbst über den Flur, verabschiedete sich von ihm an der Tür mit einem stummen Händedruck und kehrte dann gedankenvoll in sein Arbeitszimmer zurück.

Dort schloß er einen kleinen, eisernen Schrank auf, entnahm ihm einen Umschlag und zählte mehrere Male den Inhalt. Es waren zwölf Eintausendpfundnoten.

Milner schob sie in den Umschlag zurück und steckte diesen in seine Brusttasche.

 

Als Harry Reffold sich von Ann Learner verabschiedet hatte, beschleunigte er plötzlich seine Schritte und bog durch eine Seitenstraße wieder in den Weg zum Bahnhof ein.

Dort nahm er gegenüber von einem Tabakladen Aufstellung, setzte umständlich seine Pfeife in Brand und beobachtete unter gesenkten Lidern hervor die Personen, die noch immer aus der Halle kamen.

Schon wollte er seinen Posten aufgeben, da erschien als allerletzter der ältere Herr mit dem roten Gesicht. Er war sichtlich in großer Aufregung, betastete ununterbrochen seine Taschen und lief immer wieder einige Schritte zurück und suchte kopfschüttelnd den Boden ab.

Über Reffolds Gesicht glitt ein boshaftes Lächeln, und unwillkürlich faßte seine Hand nach dem kleinen Päckchen, das er in der Tasche barg.

Endlich schien der Mann die Vergeblichkeit seines Suchens einzusehen, und er blieb eine Weile unschlüssig stehen. Dann kam ihm offenbar ein Einfall, denn er setzte sich eilig in Bewegung, und es war für Reffold leicht, ihm zu folgen, da seine ziemlich große und massive Gestalt weithin sichtbar blieb. Nach einigen hundert Schritten verschwand der Unbekannte in einem Gebäude, und sein Verfolger erkannte beim Näherkommen, daß es das Postamt war. In wenigen Augenblicken befand sich Harry im Schalterraum, wo der andere sein Gespräch bereits angemeldet hatte und nun ungeduldig auf und ab marschierte. Er sah Reffold aus seinen scharfen, von roten Äderchen durchzogenen Augen durchdringend an, doch dieser tat ungemein eilig und kramte umständlich in seiner Brieftasche, aus der er endlich ein Päckchen Papiere zog. Dann machte er sich an einem der Tische an die Abfassung eines Telegramms, wobei er umständlich Wort für Wort zu überlegen schien.

Als der Fremde in die Zelle gerufen wurde, trat Reffold an den Schalter. »Wenn es nicht allzulange dauert, möchte ich um London bitten.«

Der Beamte kam mit seinem Vormerkblatt zum Fenster. »Die Nummer, bitte.« Er setzte den Bleistift an, um zu schreiben.

Harry strengte seine Augen an, um die letzte Eintragung zu entziffern. »Werde ich lange warten müssen?«

»Der Herr, der eben spricht, hat sofort Verbindung bekommen. Um diese Zeit ist die Leitung nicht sehr besetzt.«

Reffolds Mienen spiegelten plötzlich größte Bestürzung wider. Er vernahm kaum, was der Beamte sagte, und starrte ununterbrochen auf das vor ihm liegende Heft.

Erst als der Beamte mit dem Bleistift ungeduldig auf die Platte klopfte, faßte er sich.

»Ich danke, ich habe es mir überlegt. Ein Telegramm scheint mir doch zweckmäßiger.«

Er ging zu dem Tisch zurück und versuchte sich zurechtzufinden.

Die Nummer, die der Mann, der eben in der Zelle sprach, angerufen hatte, war die Nummer Dr. Shipleys.

Reffold begann hastig ein Telegrammformular auszufüllen und schob es mit nervöser Ungeduld in den Schalter.

Das Telegramm war an Mrs. Carringhton gerichtet und enthielt nur folgende Worte: »Gefahr am Telefon. Äußerste Vorsicht.« Eine Unterschrift trug das Telegramm nicht.

Harry beglich eben die Gebühr, als der Unbekannte aus der Zelle trat. Er schien noch erregter als früher, und als er an Reffold vorüber zur Tür ging, traf diesen wiederum ein mißtrauischer Blick.

Das sagte ihm, daß er nun vorsichtig sein müsse, wenn er dem Manne weiter folgen wollte, und er richtete sich danach. Er ließ dem anderen einen beträchtlichen Vorsprung, und auch dann traf er alle Maßnahmen, um von dem Verfolgten nicht gesehen zu werden.

Da es mittlerweile bereits zu dunkeln begonnen hatte, wurde ihm dies einigermaßen erleichtert, aber er mußte doch verdammt aufpassen, da der Mann vor ihm offenbar sehr auf seiner Hut war. Er blieb immer wieder unvermittelt stehen, machte kehrt und ging einige Schritte zurück, wobei er nach allen Richtungen scharf Ausschau hielt.

Erst nachdem er scheinbar ziellos mehrere Straßen durchwandert hatte, schien er sich vollkommen sicher zu fühlen, denn er setzte nun seinen Weg ohne Unterbrechung und in rascherem Tempo fort. Etwa nach einer Viertelstunde bog der Herr mit dem roten Gesicht endlich in eine enge und äußerst verwahrloste Gasse ein und verschwand dort in einem niedrigen, langgestreckten Gebäude, das seiner ganzen Anlage nach einmal ein Lagerraum oder eine Fabrik gewesen sein mußte, nun aber bewohnt zu sein schien, da aus einigen der schmutzigen, notdürftig verhängten Fenster trübes Licht schimmerte.

Reffold besah sich das Haus, das einen ebenso verfallenen und schmutzigen Eindruck machte wie die Gasse selbst, und einen Augenblick schien er entschlossen zu sein, durch das halboffene Tor zu schlüpfen, hinter dem tiefe, totenstille Dunkelheit lag.

Dann aber machte er plötzlich kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war.


 << zurück weiter >>