Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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2

Tag für Tag fuhr Ann Learner um halb acht Uhr mit der Bahn in die Stadt und kehrte etwa um die sechste Nachmittagsstunde wieder nach Newchurch zurück, einem kleinen Ort bei Sunbury, um den sich eine ansehnliche Villenkolonie gebildet hatte.

In der Zwischenzeit saß Miss Ann für acht Pfund und sechs Schilling wöchentlich in dem großen Maklerkontor von Brook & Sons in der City und führte dort die gesamte Auslandskorrespondenz. Sie sprach – für eine Engländerin ein wahres Wunder – drei fremde Sprachen, und der alte William Brook erklärte immer wieder, daß sie nicht nur ein sehr hübsches, sondern auch ein außerordentlich gescheites und tüchtiges Mädchen sei, auf das man sich unbedingt verlassen könne.

Heute war Ann Learner etwas zeitiger frei als sonst, denn wegen des Weekends hatte man im Kontor früher Schluß gemacht, und sie konnte daher in Ruhe die verschiedenen Besorgungen erledigen, die ihr Onkel Frank aufgetragen hatte. Sie nahm ein Taxi und fuhr die verschiedenen Geschäfte ab, und als sie, mit einer Unzahl von Päckchen beladen, am Waterloo-Bahnhof anlangte, fehlte immer noch eine Viertelstunde bis zum Abgang ihres Zuges.

Sie blickte sich verstohlen suchend in der Menge um, reckte aber ihr feines Näschen sofort in eine andere Richtung, als sie mit Befriedigung festgestellt hatte, daß auch Mr. Harry Reffold wieder da war. Er stand groß, lässig und gelangweilt wie immer bei einer der Fahrplantafeln, die er mit einer Umständlichkeit studierte, als ob er mindestens nach Schottland reisen wollte, während er doch auch nur nach Newchurch fuhr.

Selbstverständlich mußten sie da einander plötzlich gegenüberstehen, aber Miss Ann machte erstaunte Augen, als er sie begrüßte, und tat gar nicht erfreut über diese Begegnung. Sie nickte ihm nur kurz zu und reichte ihm flüchtig einen freien Finger.

Harry Reffold blinzelte sie mit seinem eigentümlichen Lächeln, das sie manchmal riesig nett, zuweilen aber geradezu unverschämt fand, von oben herab an.

»Sie scheinen eine Feier vorzuhaben, Miss Learner. Hat jemand bei Ihnen Geburtstag?«

»Nein, nur ein Herrenabend«, erwiderte sie kurz. »Onkel Frank hat einige Freunde zu Tisch.«

Reffold zog für den Bruchteil einer Sekunde die buschigen Brauen hoch. Die Mitteilung schien ihn aus irgendeinem Grunde mehr zu interessieren, als ihre flüchtige Bekanntschaft es gerechtfertigt hätte.

»Oh, also Gäste. Schade, daß Sie nicht auch an mich gedacht haben, Miss Learner. – Wer sind denn die Glücklichen?«

Er hatte schon wieder das gewinnende, männliche Lächeln, aber Ann fand es in diesem Augenblick einfach unausstehlich. Sie setzte ihre eisigste Miene auf, und ihre Stimme klang auffallend gereizt und scharf. »Das weiß ich nicht, Mr. Reffold. Ich habe mit den Freunden von Onkel Frank nichts zu tun.«

Er sah sie einen Augenblick forschend an, dann gerieten sie beide in die dichte Menge, die nach dem Bahnsteig drängte, und ihre Unterhaltung wurde unterbrochen.

Harry schob seine hohe, kräftige Gestalt mit großer Geschicklichkeit in den Menschenstrom und schuf Miss Learner rücksichtslos Platz.

 

Plötzlich aber blieb er so untervermittelt stehen, daß Ann fast mit ihm zusammengestoßen wäre, und als sie erstaunt aufblickte, konnte sie beobachten, daß seine Aufmerksamkeit einem großen, älteren Herrn galt, der sich wenige Schritte vor ihnen langsam fortschieben ließ. Er schien irgend jemanden zu erwarten, denn er blickte unausgesetzt nach links und rechts, und einige Male wandte er auch den Kopf suchend über die Schulter, wobei das junge Mädchen sein feistes, gerötetes Gesicht sehen konnte.

Mit einem Male streckte sich dem Herrn aus der Menge eine Hand entgegen, die er rasch ergriff, worauf er seine Rechte eiligst in der Tasche seines Mantels verschwinden ließ und seinen Weg etwas rascher fortsetzte.

Auch Harry begann nun, sich so zu beeilen, daß Ann ihm kaum zu folgen vermochte, und erst als sie unmittelbar hinter dem Unbekannten gingen, mäßigte ihr Begleiter seine Schritte wieder. Plötzlich aber drückte er sich dicht an den Herrn heran, und Ann Learner gewahrte mit Entsetzen, wie er seine Hand blitzschnell in die Manteltasche des Fremden versenkte und dann ebenso rasch wieder in seiner eigenen Tasche verbarg.

Die Episode hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt, und Harry Reffold hatte dabei mit einer derartigen Kaltblütigkeit und Sicherheit operiert, daß seine Begleiterin sich nicht zu fassen vermochte. Am liebsten wäre sie auf und davon gerannt, aber sie war in die Menge eingekeilt und mußte ihm wohl oder übel folgen. Beim Besteigen des Zuges machte sie dann allerdings den Versuch, ihn loszuwerden, indem sie im letzten Augenblick auf einen anderen Wagen zustürzte. Aber er merkte das Manöver noch rechtzeitig, und sie hatte sich kaum in die Ecke eines Abteils gedrückt, als er ihr auch schon gegenübersaß, wobei er, wie es ihr schien, unverschämter denn je lächelte.

Anns eisig erstarrte Mienen und ihre verächtlich blitzenden Augen schienen ihm aber doch genug zu sagen, denn er machte die ganze Fahrt über nicht den Versuch, das Gespräch fortzusetzen.

Ann konnte das Ende der Fahrt kaum erwarten, und als der Zug in Newchurch einlief, stürzte sie fast fluchtartig aus dem Abteil. Aber Reffold blieb mit großen Schritten an ihrer Seite, bis sie endlich einen energischen Entschluß faßte. Sie machte plötzlich halt und maß ihren seltsamen Begleiter vom Kopf bis zu den Füßen mit einem so vernichtenden Blick, daß er eigentlich auf der Stelle hätte in den Boden versinken müssen.

»Mr. Reffold«, ihre Stimme zitterte vor Empörung, und ihre Augen blitzten hinter aufsteigenden Tränen, »ich muß Sie dringend bitten, mich nicht weiter zu belästigen. Ich hoffe, daß Sie wenigstens in gewisser Beziehung Gentleman sind und es mich nicht noch mehr bedauern lassen werden, daß ich so leichtsinnig war, eine Straßenbekanntschaft zu schließen.«

Sie sah ihn so verächtlich wie möglich an, aber zu ihrer größten Bestürzung lächelte Harry Reffold auch jetzt noch.

»Darüber wollen wir ein andermal sprechen, Miss Learner«, meinte er leichthin. »Für heute hätte ich nur noch eine kleine Bitte an Sie.« Er wurde plötzlich ernst, und seine grauen Augen ruhten seltsam zwingend auf ihr. »Wenn ich mich nicht irre, dürften Sie dem Herrn, mit dem ich vorhin« – er lächelte schon wieder und suchte nach einem Ausdruck – »nun, sagen wir, in etwas allzu nahe Berührung gekommen bin, vielleicht einmal in Ihrem Hause begegnen. Es wäre mir sehr daran gelegen, daß er nicht davon erfährt, wer sich so eingehend für den Inhalt seiner Tasche interessiert hat.«

Ann fuhr empört auf. »Wie können Sie eine derartige Zumutung an mich stellen? Ich werde . . .«

»Sie werden mich nicht verraten, Miss Learner, ich weiß es«, sagte er bestimmt und hatte diesmal jenes Lächeln, das ihr an ihm vom ersten Tage an so gefallen hatte. Dann lüftete er den Hut und schlug den Weg nach der kleinen Pension in der Nähe des Bahnhofs ein, in der er seit etwa einer Woche wohnte.


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