Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Die Lichter in dem riesigen, getäfelten Raum waren so abgedämpft, daß die beiden Gestalten in den tiefen Klubsesseln beim Kamin nur in schattenhaften Umrissen zu sehen waren.

»Also wirklich!« sagte nach einer längeren Pause der grauhaarige Herr mit dem buschigen Schnurrbart und dem gesunden, energischen Gesicht. Um seinen Mund lag ein befriedigtes Schmunzeln, und seine gepflegte Hand griff immer wieder in die vor ihm liegenden kleinen Lederbeutel, um deren Inhalt spielend durch die Finger gleiten zu lassen.

Sooft das Kaminfeuer auf das Rinnsal fiel, das aus seiner Hand lief, leuchtete dieses in strahlenden Reflexen auf.

»Wirklich großartig«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort.

»Man könnte stundenlang sitzen und sich an dieser Herrlichkeit erfreuen.«

Plötzlich ließ er mit einer jähen Bewegung die Steine in die Beutel laufen und schob diese zur Seite. »Ihre Zigarre ist ausgegangen, Harald, und Ihr Glas ist leer; sogar meine Gastgeberpflichten habe ich über der Überraschung vergessen, die Sie mir bereitet haben.« Er reichte dem anderen die Hände über das Tischchen.

Der große junge Mann schüttelte sie herzlich.

»Machen Sie sich deshalb keine Gewissensbisse, Sir Wilford. Ich pflege mich schon selbst zu bedienen, wenn man mich vernachlässigt.« Er reckte seine hohe Gestalt etwas auf und lächelte den Grauhaarigen an. »Aber Sie wissen ja, daß ich heute noch einiges vorhabe, und da möchte ich nicht zuviel des Guten tun.«

Auf Sir Wilfords Gesicht kam ein ernster Zug.

»Ich weiß nicht, ob ich recht daran tue, wenn ich Sie noch weiter gewähren lasse«, meinte er bedenklich. »Es scheint mir, als ob Sie die Gefahr zu unterschätzen beginnen, und ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Sie ihr zum Opfer fielen. Sie haben eine geradezu geniale Arbeit geleistet und mich dadurch zu größtem Dank verpflichtet. Dieser Erfolg könnte Ihnen doch wirklich genügen. Was noch zu tun ist, ist so untergeordneter Art, daß Sie es ruhig meinen Leuten überlassen sollten . . .«

Der junge Mann klemmte das Monokel ins Auge und schüttelte energisch mit dem Kopf.

»Sie irren, Sir Wilford. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Was bisher war, war nebensächlich und ein Kinderspiel, und erst was jetzt kommt, ist die Hauptsache. Wenigstens für mich. Sie haben Ihre Juwelen, aber ich habe noch nicht das, was ich suche. Wenn ich es aber finde, wird es wahrscheinlich auch für Sie von weit größerem Wert sein als die Kostbarkeiten, die ich Ihnen eben gebracht habe.«

Sir Wilford warf den grauen Kopf mit einer raschen Bewegung zurück und sah den jungen Mann mit scharfem Blick an. »Ich verstehe Sie nicht, Harald . . .«

Um Harald Russells Mundwinkel spielte sein gewinnendes Lächeln.

»Sie können mich auch nicht verstehen, Sir Wilford, weil ich bis zu dieser Stunde nicht ganz aufrichtig zu Ihnen war. Als ich vor einigen Monaten zu Ihnen kam und Sie bat, mir in gewisser Hinsicht freie Hand zu gewähren, da sagte ich Ihnen, daß meine Nachforschungen den Juwelen der Herzogin von Trowbridge und Mrs. Fairfax gelten sollten. Ich wußte, daß Ihnen an dieser Sache, die so viel Staub aufgewirbelt hatte, viel gelegen sein mußte, und ich konnte daher damit rechnen, daß Ihnen meine Beihilfe, mochte sie auch noch so problematisch erscheinen, willkommen sein würde. Wäre ich Ihnen aber mit der Angelegenheit gekommen, die mir vor allem am Herzen lag, so hätten Sie mich wahrscheinlich ausgelacht und mit mehr oder weniger höflichen Worten vor die Tür gesetzt . . .«

Sir Wilford verriet eine gewisse Ungeduld, und Harald beeilte sich, seinem Verständnis zu Hilfe zu kommen.

»Erinnern Sie sich an den Tod von Hauptmann Colburn-Carringhton? Er war zum India Office kommandiert und ist am 29. März, also vor sechs Monaten, in seinem Büro tot aufgefunden worden . . .«

Sir Wilford dachte einen Augenblick nach und nickte dann. »Ich weiß. Ein sehr trauriger Fall. Colburn war noch ziemlich jung und hatte eine glänzende Karriere vor sich. Aber nach allem, was ich weiß, handelte es sich doch um einen ganz natürlichen Tod«, fügte er etwas befremdet hinzu.

Harald sah ihn vielsagend an. »Sir Wilford, wenn man sechsunddreißig Jahre alt und kerngesund ist, wie mein Vetter Arthur es war, dann geht man nicht ins Büro, um an seinem Schreibtisch auf natürliche Weise eines plötzlichen Todes zu sterben. Daran habe ich trotz aller ärztlichen Befunde nie geglaubt, sondern ich wußte vom ersten Augenblick an, daß da etwas Besonderes geschehen war. Ich hatte mit Arthur eine Stunde vor seinem Tode gefrühstückt, und er hatte mir dabei in höchster Erregung angedeutet, daß an diesem Vormittag Dokumente in seine Hände gelangt seien, durch die einige Persönlichkeiten der Armee und der Verwaltung sowie eine Reihe von anderen Leuten in schwerster Weise kompromittiert würden. Das Material befand sich in einem starken blauen Umschlag, der an Carringhton adressiert war, und durch einen Zufall konnte ich auf dem Umschlag einen auffallenden Farbfleck wahrnehmen. Dieser Umschlag wurde aber weder bei der Leiche Colburns noch in seinem Schreibtisch gefunden, und als ich dies festgestellt hatte, gab es für mich keinen Zweifel mehr, daß der Tod Arthurs mit dem Verschwinden der verfänglichen Dokumente in engstem Zusammenhang stand.«

Harald machte eine kleine Pause und starrte in die Kaminglut.

»Colburn war nicht nur mein Vetter, sondern auch mein Freund, denn obwohl er einige Jahre älter war als ich, hat uns von den Studienjahren in Cambridge bis zu seinem Tode die herzlichste Kameradschaft verbunden. Diese Freundschaft legte mir die Pflicht auf, das Dunkel zu lichten, das seinen jähen Tod umgab und die Schuldigen zu finden, wenn solche vorhanden waren. Sie wissen ja, Sir Wilford« – Harald lächelte boshaft, »daß ich in meiner Familie als ein völlig nutzloses Glied der menschlichen Gesellschaft gelte, weil ich nur für abenteuerliche Dinge zu haben bin. Das Rätsel von Colburns Tod stellte mich also vor eine Aufgabe, die mir zusagte, und lange, bevor ich zu Ihnen kam, war ich schon an der Arbeit. Aber die Sache schien aussichtslos, bis der zweite Juwelenraub bei Mrs. Fairfax mir endlich einen Anhaltspunkt lieferte . . .«

Sir Wilford war seinem Gegenüber mit sichtlichem Interesse gefolgt. »Sie sollten zu mir kommen, Harald, wenn Ihnen die Sache so viel Spaß macht«, unterbrach er den Sprecher lebhaft. »Ich habe Ihnen dieses Angebot schon einmal gemacht, obwohl ich damals noch nicht wußte, daß Sie so außerordentliche Fähigkeiten für unseren Dienst besitzen. Wie Sie mir die Sache darlegen, scheint sie mir möglich. Und ich weiß, Sie sind kein Phantast. Also, was haben Sie in der Hand?«

Der junge Mann spielte mit seinem Monokel und lächelte. »Ein Stückchen blaues Papier«, sagte er leichthin, »das Ihre Leute nach dem Einbruch bei Mrs. Fairfax gefunden haben, mit dem sie aber nichts anzufangen wußten. Mir jedoch brachte es die langgesuchte Fährte, denn es war ein Stück jenes Kuverts, das ich bei Arthur gesehen hatte; ein Teil der Adresse war darauf zu erkennen, ebenso der dunkle Farbfleck, der mir seinerzeit aufgefallen war . . .«

Der graue Kopf schoß blitzschnell vor, und ein Paar scharfer Augen hefteten sich fragend auf Russell. »Das würde also heißen . . .«

». . . daß diejenigen, die die Juwelen von Mrs. Fairfax geraubt haben, auch mit dem plötzlichen Tode von Colburn zu schaffen hatten, Sir Wilford . . .«, ergänzte Harald mit Nachdruck. »Deshalb habe ich mich auf diese Spur gesetzt, und wie Sie mir bestätigen werden, mit einem ganz hübschen Erfolg.«

Sir Wilford begann in Eifer zu geraten.

»Wie weit sind Sie mit dem andern Fall gekommen?« fragte er hastig.

»Nur so weit, daß ich nun die Gewißheit habe, auf der richtigen Fährte zu sein«, erwiderte Harald, und seine Mienen verrieten, daß er damit nicht sonderlich zufrieden war. »Aber ich habe Zeit, und ich hoffe, daß mich die gestrigen Vorgänge im Kastanienhaus ein Stück weiterbringen werden.«

Der grauhaarige Herr sprang mit jugendlicher Elastizität auf. »Seien Sie vernünftig, Harald«, meinte er, während er mit großen Schritten auf und ab ging, »und lassen Sie mich zufassen. Wenn wir die Burschen erst einmal haben, werden wir sie schon zum Sprechen zu bringen wissen.«

Der junge Mann machte rasch eine abwehrende Handbewegung, »Dazu ist es noch zu früh, Sir Wilford. Die Leute, die ich Ihnen heute ausliefern könnte, sind nichts weiter als untergeordnete Werkzeuge, und selbst Ihre Spezialisten könnten aus ihnen kaum etwas von Wichtigkeit herausbringen, weil sie nämlich selbst nichts oder wenigstens nicht viel wissen. Wir müssen die Anführer haben, Sir Wilford, wenn Ihnen und mir gedient sein soll, und diese kenne ich bisher nicht. Aber in nicht allzu langer Zeit werde ich sie Ihnen nennen können. Und dann können Ihre Leute das Letzte tun.«

Harald Russell stand lächelnd vor dem grauhaarigen Herrn, der ihm die Hand entgegenstreckte.

»Nun, Sie sollen also Ihren Willen haben. Aber vergessen Sie nicht das Signal«, fügte er eindringlich hinzu. »Wenigstens diese Beruhigung möchte ich haben . . .«

Der junge Mann drückte die dargereichte Rechte. »Ein langer und drei kurze Pfiffe«, sagte er, »jawohl. Ich danke Ihnen, Sir Wilford.«

Er schüttelte seinen linken Arm ein wenig und hielt plötzlich ein kleines Pfeifchen empor. »Sie sehen, ich bin jederzeit gerüstet . . .«

Sir Wilford lachte etwas spröde. »Sie sind ein Teufelskerl, Harald .«

Harald Russel befand sich bereits an der Tür, als ihn die Stimme des Grauhaarigen noch einmal zurückrief.

»Wie ist das mit den zwölftausend Pfund, die Sie mir übergeben haben? Gehören die ebenfalls zur Beute?«

Harald überlegte eine Weile. »Nein«, meinte er dann zögernd, »sie sind Privateigentum. Ich habe sie nur vorsichtshalber mitgenommen, und ich glaube, das war gut. Haben Sie aber die Liebenswürdigkeit, den Betrag vorläufig ebenfalls in Verwahrung zu behalten.«

Während der junge Mann die breite Treppe des großen Gebäudes am Victoria Embankment hinabstieg, nahm der grauhaarige Herr rasch den Hörer des Telefons ab, das auf dem riesigen, mit mächtigen Aktenstößen bedeckten Schreibtisch stand. »Oberst Jeffries . . .? Erneuern Sie sofort den Befehl an alle Polizeimannschaften wegen des Signals: ein langer, drei kurze Pfiffe. Das Signal ist für mich von größter Bedeutung, und die Leute haben zu laufen, als ob es um ihr Leben ginge, sobald sie es hören. Kommen sie rechtzeitig, so werde ich es anzuerkennen wissen, kommen sie zu spät« – die Stimme Sir Wilfords klang kurz, hart und schneidend – »so jage ich die Schuldigen zum Teufel. Ich mache Sie persönlich verantwortlich, Oberst Jeffries, daß dies sofort nochmals veröffentlicht wird . . . Danke . . .«

Harald Russell hatte noch nicht Charing Cross erreicht, als bereits alle Polizeiwachen Londons und ihre Leute wußten, daß ein langer und drei kurze Pfiffe für sie verdammt viel zu bedeuten hatten.


 << zurück weiter >>