Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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1

Dr. Howard Shipley galt, obwohl er kaum vierzig Jahre zählte, als einer der namhaftesten und gesuchtesten Ärzte Londons, und man sagte von ihm, daß es keine Krankheit gebe, die er nicht schon in ihren unscheinbarsten Symptomen mit unfehlbarer Sicherheit zu erkennen wisse.

Das wollte viel heißen; tatsächlich hatte Dr. Shipley in einigen rätselhaften und aufsehenerregenden Fällen so überraschende und zutreffende Diagnosen gestellt, daß sein hervorragender Ruf wohl als gerechtfertigt gelten durfte.

An diesem Septemberabend aber, da Dr. Shipley auf dem 18. Polizeirevier im Themseviertel von Bermondsey die krampfhaft starre Gestalt betrachtete, die man hier auf ein primitives Lager gebettet hatte, schienen ihn seine Kenntnisse und Erfahrungen im Stich zu lassen. Er stand offenbar vor etwas Außergewöhnlichem, und in der Frage, die er an den Inspektor richtete, klang deutlich die Spannung wider, in die ihn dieser Fall versetzte.

»Wie ist der Mann hierhergekommen, Mr. Webster? Und wann?«

Webster, der bisher an dem vergitterten Fenster gestanden und in die unfreundliche, enge Gasse geblickt hatte, drehte sich langsam um. Die Sache interessierte ihn nicht sonderlich. Wenn seine Leute Betrunkene oder Kranke auflasen, die nicht eine Kugel, einen Messerstich oder wenigstens einen tüchtigen Hieb abbekommen hatten, gab es zumeist nur zwecklose Scherereien.

An dem Mann dort war aber auch nicht das geringste Anzeichen einer Gewalttat zu entdecken, und wenn nicht gewisse Umstände gewesen wären, so hätte er ihn überhaupt gleich ins Krankenhaus schaffen lassen. Für die Ärzte mochte es ja an dem Patienten manches Interessante zu beobachten geben, denn der Inspektor erinnerte sich nicht, in seiner langjährigen Dienstzeit je einen so erschreckenden Anblick gehabt zu haben.

Nach der sonderbaren Miene Dr. Shipleys konnte hinter der Sache aber vielleicht doch noch irgendeine Niederträchtigkeit stecken, und diese Möglichkeit ließ den Beamten lebendig werden, soweit dies eben bei ihm möglich war. Er pflanzte sich breitbeinig vor dem Arzt auf, und die kleinen, scharfen Augen in seinem derben Gesicht leuchteten in Erwartung.

»Haben Sie etwas gefunden, Doktor?« Webster versuchte seine gewaltige Stimme zu dämpfen, aber sie klang trotzdem noch immer wie ein dumpfes Donnergrollen. »Sie sehen ja mehr als unsereiner, und verdächtig ist immerhin einiges dabei. Der Mann wurde vor etwa einer Stunde von einer Streife hergebracht, die ihn nahe am Pier gefunden hatte. Die Polizisten meldeten, sie hätten plötzlich schrille Pfiffe gehört, die wie ein Alarmsignal klangen, und als sie der Sache nachgingen, seien sie in einer Nische auf den armen Teufel gestoßen. Man hatte ihn dort an die Mauer gelehnt, und als die Leute ihn berührten, fiel er ihnen wie ein Sack in die Arme. Haben Sie schon bemerkt, daß er stocksteif ist? Wir hatten die größte Mühe, ihn zu entkleiden, da sich Arme und Beine kaum bewegen ließen.«

Dr. Shipley hatte mittlerweile die Tischlampe so zurechtgerückt, daß ihr greller Schein voll auf den Kranken fiel. Es war ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann von etwa dreißig Jahren, und allen Anzeichen nach gehörte er dem besseren Arbeiterstand an. Seine Züge zu unterscheiden war unmöglich, da das Gesicht geradezu unheimliche Verzerrungen aufwies. Die Oberlippe war so weit gehoben, daß mit den fest zusammengebissenen Zähnen auch das bläulichrote Zahnfleisch hervortrat. Die Augen waren krampfhaft geschlossen, und als der Arzt die Lider etwas öffnete, leuchtete ihm das Weiße in einem seltsam opalisierenden Schimmer entgegen.

Das auffallendste von allen diesen Symptomen aber war die eigenartige Veränderung der Haut, die im Gesicht und am ganzen Körper aufgedunsen und von einem dunklen, glänzenden Rot war. Es sah aus, als sei der Mann aus siedendem Wasser gezogen worden, und ein blasenartiger Ausschlag verstärkte diesen Eindruck noch.

Diese Erscheinungen waren es offenbar auch, die das besondere Interesse Dr. Shipleys erweckten. Nachdem er dem Kranken den Puls gefühlt hatte, betrachtete er immer wieder verschiedene Stellen der Haut durch die Lupe; man merkte an seinen verkniffenen Augen und dem nervösen Zucken um den schmalen Mund, wie fieberhaft sein Kopf arbeitete, um dieses außerordentliche Krankheitsbild zu deuten.

Endlich richtete er sich auf, warf die Lupe ärgerlich auf den Tisch und ließ sich in den nächsten Stuhl fallen. Dabei haftete sein scharfer, forschender Blick unausgesetzt auf dem Kranken, dessen totenähnliche Starre auch nicht durch das Zucken eines Muskels unterbrochen wurde.

Mit einem Male aber ging mit dem Arzt eine merkwürdige Veränderung vor. Seine sehnige Gestalt begann sich ruckweise zu straffen, und mit einem elastischen Sprung stand er plötzlich vor Webster, der ihn verblüfft anstarrte.

»Inspektor, wenn ich recht habe«, stieß Dr. Shipley durch die Zähne hervor, und in seinem Gesicht lag ein gespanntes Lächeln, »dann werden Sie jetzt ein Wunder erleben, wie Sie es bis heute noch nicht gesehen haben.«

Er öffnete hastig seine Taschenapotheke, die zwei Reihen blinkender Phiolen enthielt, prüfte deren Etiketten und nahm dann bedächtig drei der Fläschchen heraus. Er zögerte eine Weile, als wolle er sich endgültig schlüssig werden, dann zählte er in eine leere Phiole aus jedem der Fläschchen einige Tropfen ab, schüttelte die Mischung sorgfältig und füllte sie in eine Injektionsspritze.

An drei Stellen führte Dr. Shipley die Nadel in den Körper des Kranken, dann atmete er tief auf und bot wieder das Bild unerschütterlicher Ruhe, das man an ihm gewöhnt war. Webster hatte sich die ganze Zeit mäuschenstill verhalten und alle Bewegung des Arztes gespannt verfolgt. Wenn er auch von der ganzen Sache nichts verstand, so ahnte er doch, daß etwas Besonderes vorging, und er hatte von Dr. Shipley viel zu großen Respekt, um ihn zu stören. Nun glaubte er aber doch den Moment gekommen, seine Wißbegierde befriedigen zu dürfen.

»Sind Sie nun doch darauf gekommen, Doktor?«

Dr. Shipley zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe es.«

»Etwas Ansteckendes? Müssen wir am Ende gar die Bude ausräuchern?«

Der Gedanke war dem Inspektor sichtlich unangenehm, und er sah den Arzt mißtrauisch von der Seite an.

»Nein – eine Vergiftung.«

»Selbstmordversuch oder Verbrechen?«

»Das müssen Sie den dort fragen, sobald er soweit sein wird.« Dr. Shipley deutete nach dem Kranken. »Ich glaube, der Mann könnte Ihnen sehr interessante Dinge erzählen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Daraus, daß man mit dem Inhalt aller Giftflaschen und Gifttiegel Londons nicht diesen Komplex von Erscheinungen hervorrufen könnte. Was unser Patient abbekommen hat, war offenbar eine jener Teufeleien, auf die wir trotz unserer wissenschaftlichen Fortschritte immer noch nicht gekommen sind; vermutlich ein kombiniertes Pflanzengift, das vor weiß wie langer Zeit irgendein dunkelhäutiger Halunke in irgendeinem schmutzigen Winkel Indiens oder Afrikas zusammengebraut und seiner Sippe als Vermächtnis hinterlassen hat. Eigentlich hätte ich nach allen Anzeichen sofort daraufkommen müssen, aber hoffentlich ist es auch jetzt noch nicht zu spät.«

Dr. Shipley warf einen Blick auf den Kranken. Dann faßte er Webster am Arm und zog ihn an das Lager.

»Nun, was sagen Sie dazu, Inspektor?«

Dieser konnte nur erstaunt die Augen aufreißen und sich vor Verwunderung wortlos den Kopf kraulen, denn was er sah, war kaum zu glauben. Wenn er nicht die ganze Zeit dabeigestanden hätte, würde er tausend Eide geschworen haben, daß das nicht der Mann sei, der noch vor wenigen Minuten hier gelegen hatte. Es war ein zwar leidendes, aber völlig regelmäßiges Gesicht, in das er blickte, und auch die Starre der Glieder hatte sich offenbar gelöst, denn der eine Arm hing plötzlich schlaff über den Rand des Lagers. An die Stelle der krankhaften Röte und des blasenartigen Ekzems, von dem auch nicht die geringste Spur mehr zu sehen war, war eine fahle Blässe getreten, und Stirn, Hals und Brust bedeckte ein leichter Schweiß.

Der Arzt fühlte dem Manne wieder den Puls, nickte befriedigt und blinzelte mit einem befreiten Lächeln Webster zu.

»Das war eine verteufelte Geschichte, Inspektor. Nichts als Annahmen. Ich habe angenommen, daß es vielleicht irgend so ein tückisches Gift sein könnte, und ich habe dann weiter angenommen, daß das und jenes sich vielleicht als Gegenmittel wirksam erweisen könnte. Wenn die erste Annahme falsch war, war es natürlich auch die zweite, aber selbst wenn die erste zutreffend war, brauchte die zweite noch nicht zu stimmen.«

Dr. Shipley schickte sich an, seine Medikamente einzupacken, als ihm noch etwas einfiel. »Haben Sie bei dem Mann irgend etwas gefunden, aus dem sich seine Identität feststellen ließe?«

Der Beamte verneinte. Er mußte zugeben, daß der Mann tatsächlich auch nicht den kleinsten Gegenstand bei sich gehabt hatte und daß weder seine Kleider noch seine Wäsche irgendwie gezeichnet waren. Er sah Dr. Shipley betroffen an.

»Verdammt«, knurrte er etwas verlegen, »das hätte mich eigentlich sofort stutzig machen sollen. Denn wenn unsere Galgenvögel einen auch noch so gründlich ausplündern, etwas lassen sie doch immer zurück, was sie nicht gebrauchen können.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend, trat Dr. Shipley nochmals zu dem Kranken, der nun laut und regelmäßig atmete und in tiefem Schlaf zu liegen schien. Der Blick des Arztes fiel auf den herabhängenden Arm, und er bemerkte, daß die Hand noch immer krampfhaft geballt war. Er bettete sie vorsichtig auf das Lager und machte den Versuch, die Faust zu öffnen. Die Finger gaben ohne sonderliche Mühe nach, und Dr. Shipley beugte sich über sie. Kaum aber hatte er einen Blick auf die Handfläche geworfen, als er sich hastig wieder aufrichtete.

»Bitte, Webster, leuchten Sie mir.«

Der Inspektor nahm die Lampe und hielt sie über den Kranken. Dr. Shipley hatte rasch nach einer Pinzette und einem Bogen Papier gegriffen und löste nun von der Handfläche und den Fingern des Mannes kleine winzige Fasern und Flöckchen, die er mit peinlichster Vorsicht auf das Papier legte.

Die Ausbeute war nicht groß, aber der Arzt schien sehr zufrieden. Nur Webster machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl.

»Schmutz«, brummte er. »Wahrscheinlich ist er gefallen. Damit wird wohl nicht viel anzufangen sein.«

Dr. Shipley lächelte seltsam. »Für Sie nicht, aber vielleicht für mich. Sie werden daher wohl auch nichts dagegen haben, daß ich die Kleinigkeit an mich nehme. Sollte das Zeug mir etwas sagen, so erfahren Sie natürlich davon.«

Webster war damit einverstanden, und der Arzt setzte seine Untersuchungen fort. Auch in der anderen Hand, die am Rücken eine sehr lange und breite Narbe aufwies, fanden sich einige der Fasern, auf die es Dr. Shipley abgesehen zu haben schien, und er legte sie sorgfältig zu den übrigen. Dann schlug er das Papier zusammen und verwahrte es in seiner Brusttasche.

»So, Inspektor, und nun rufen Sie bitte das Marienkrankenhaus an, daß man den Mann in etwa einer Stunde abholen läßt. Nicht früher, denn ich möchte, daß er vor dem Transport noch etwas Ruhe hat.«

Der Arzt begann sich gründlich die Hände zu reinigen. »Und wenn es Ihnen recht ist, Mr. Webster, können wir den Patienten morgen vormittag zusammen besuchen. Wann paßt es Ihnen? Um elf Uhr? Ausgezeichnet! Ich glaube, daß er dann schon vernehmungsfähig sein wird. Kündigen Sie uns am besten gleich jetzt bei der Krankenhausleitung an, und ersuchen Sie in meinem Namen, an dem Manne nicht zuviel herumzudoktern. Sagen Sie, was geschehen konnte, sei bereits geschehen, und er brauche nur unbedingte Ruhe.« Dr. Shipley schlüpfte in den Überrock und stülpte den Hut auf den Kopf. »Gute Nacht, Inspektor.«

Webster geleitete den Arzt bis an die Tür und ging dann mit langsamen, wuchtigen Schritten in sein Büro, um das Krankenhaus anzurufen.

Als Dr. Shipley die Polizeiwache verließ, blickte er auf die Uhr, und da es bereits gegen neun war, überlegte er eine Weile, ob er ein Taxi nehmen oder wenigstens eine Strecke zu Fuß gehen solle. Schließlich entschied er sich für einen Spaziergang. Wenn er den kürzesten Weg einschlug und dann von der Borough-Station aus fuhr, konnte er sein Heim in Lambeth in einer Stunde erreichen und sich mit doppeltem Appetit zu seinem verspäteten Dinner setzen.

Dr. Shipley steckte die Hände in die Taschen seines Mantels und verschwand kurz darauf um die nächste Straßenecke.

Wenige Augenblicke später schlüpfte aus dem dunklen Schatten eines Hauses gegenüber der Polizeiwache ein Mann in Arbeiterkleidung, und gleichzeitig nahm auf der anderen Straßenseite ein untersetzter Bursche mit breitem Schlapphut raschen Schrittes den Weg auf, den der Arzt gegangen war.

Dr. Shipley kannte diesen Teil Londons wie seine Westentasche, und ohne auch nur einen Augenblick die Orientierung zu verlieren, passierte er eine Reihe enger, winkeliger Gäßchen, durch die er den weiten Umweg über die Hauptverkehrsstraßen wesentlich abzukürzen vermochte.

Er hatte bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, als ihm in einer völlig menschenleeren und nur notdürftig beleuchteten Quergasse eine Gestalt entgegentorkelte, die offenbar einen unendlichen Weltschmerz in einer ebenso unendlichen Menge Alkohol zu ertränken versucht hatte. Der Mann gestikulierte lebhaft mit den Armen und schien sich oder einem eingebildeten Auditorium eine flammende Standrede zu halten, von der einzelne mit besonderem Pathos vorgetragene Kraftausdrücke abgerissen durch die Gasse hallten. Nun ist zwar ein Betrunkener in diesem Teil Londons keine Seltenheit, und Dr. Shipley war nichts weniger als ängstlich, aber das abenteuerliche Leben, das er über ein Jahrzehnt in den Kolonien geführt hatte, hatte in ihm den gewissen sechsten Sinn für drohende Gefahren entwickelt. Instinktiv fühlte er plötzlich, daß etwas nicht geheuer war, und nahm sich in acht.

Der Trunkene schenkte ihm aber nicht die geringste Aufmerksamkeit, sondern schien nur darauf bedacht zu sein, das so schwierige Gleichgewicht zu behaupten und bei seinen energischen Bogenlinien mit der starren Umwelt nicht allzu unsanft in Berührung zu kommen.

Als sich ihm der Arzt etwa auf fünf bis sechs Schritte genähert hatte, war er eben wieder kühn in die Mitte der Straße abgeschwenkt und nun krampfhaft bemüht, ohne Mißgeschick zu bremsen.

Dr. Shipley ahnte, daß jetzt die Entscheidung kommen würde, und sie kam.

Ohne den Entgegenkommenden auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte der Mann zu dem obligaten Bogen gegen den Gehsteig an und stolperte schwerfällig vorwärts. Er schien jetzt in elegische Stimmung geraten zu sein, denn er versicherte lallend aller Welt, daß er ein herzensguter Kerl sei, und seine weit ausgebreiteten Arme deuteten an, daß er ohne weiteres auch bereit wäre, alle Welt an sein Herz zu drücken, wenn sie danach Verlangen tragen sollte.

Für Dr. Shipley aber bestand kein Zweifel darüber, daß diese Umarmung vor allem ihm gelten sollte, und wenn er darüber noch im unklaren gewesen wäre, so hätte ihn das blitzartige böse Leuchten, das er aus den Augen des Mannes auffing, eines Besseren belehrt. Das war nicht der Blick eines Trunkenen, sondern der Widerschein des tückischen Gedankens vor der Tat.

Der Schwankende hatte seine Bahn so genau abgemessen, daß er unbedingt mit dem anderen zusammenstoßen mußte.

Da vernahm Dr. Shipley plötzlich im Rücken das Geräusch schleichender Schritte, und er war sich bewußt, daß nun der Augenblick raschen Handelns gekommen war.

Durch die nächtliche Stille hallte ein kurzer, harter Schlag, und der Trunkene taumelte und stürzte rücklings nieder.

In der nächsten Sekunde traf Dr. Shipleys Faust den zweiten Angreifer, der eben im Begriff war, sich von hinten auf ihn zu werfen, und der Mann mit dem Schlapphut brach lautlos zusammen.

Es war ein Kampf von wenigen Sekunden gewesen, und der Arzt mußte unwillkürlich lächeln, wie rasch es gegangen war. Schlag auf Schlag und völlig kunstgerecht hatte er die beiden Hiebe angebracht, und sie hatten nur zu gut gesessen. Der Mann auf der Straße machte vergebliche Anstrengungen, auf die Beine zu kommen, so schien ihm der Kopf zu brummen, und der andere rang mit verdrehten Augen krampfhaft nach Atem.

Einen Augenblick dachte Dr. Shipley daran, sein Alarmpfeifchen in Tätigkeit zu setzen, um die beiden Wegelagerer in sicheren Gewahrsam bringen zu lassen, aber dann überlegte er sich die Sache. Die Kerle hatten schließlich eine Lektion abbekommen, die sie nicht so bald vergessen würden.

Als er einige Schritte getan hatte, war der angeblich Betrunkene endlich zu sich gekommen; er starrte sekundenlang verstört umher, schnellte dann empor und stürzte in langen, eiligen Sätzen die Gasse hinunter.

»Wenn Sie einen Arzt brauchen, kommen Sie zu mir«, rief ihm Dr. Shipley gutgelaunt nach, »ich bringe Ihnen die Kinnlade wieder halbwegs in Ordnung . . .«

Ohne sich um den anderen, der noch immer heftig nach Luft schnappte, zu kümmern, setzte er dann seinen Weg fort.

Wenn Dr. Shipley geahnt hätte, welche Ereignisse sich aus dieser anscheinend so belanglosen Episode entwickeln sollten, hätte er sich wahrscheinlich ganz anders verhalten.

Dr. Shipleys Heim lag in der Wood-Street, einer der freundlichsten Straßen von Lambeth, in der es sich wirklich angenehm wohnen ließ. Es gab hier Licht und Luft, und die kleinen Vorgärten vor den meisten Häusern sowie die dichten Baumreihen an den Gehsteigen ergaben einen erfreulichen Gegensatz zu der lärmerfüllten Nüchternheit der benachbarten Straßenzüge.

Als er infolge eines sensationellen Falles förmlich über Nacht berühmt und gesucht worden war, hatte Dr. Shipley hier eines der hübschesten Häuser erstanden und mit erlesenem Geschmack eingerichtet.

Das heißt, den erlesenen Geschmack hatte erst später Mrs. Cicely Carringhton entwickelt, denn das Hauptaugenmerk des Hausherrn war fast ausschließlich auf die Unterbringung und Anordnung seiner Trophäen- und Waffensammlung beschränkt geblieben, die er während seines langjährigen Aufenthaltes in Indien und am Kongo angelegt hatte.

Was Mrs. Cicely Carringhton betrifft, so hatte er diese weder aus Indien noch vom Kongo mitgebracht, sondern sie war auf eine andere nicht alltägliche Weise in sein Haus gekommen: die alte Lady Laura Crowford, die ihn mit ihrem ganzen mächtigen Einfluß förderte, seitdem er sie von einem Übel befreit hatte, an dem die berühmtesten Spezialisten vergeblich ihre Kunst versucht hatten, fand nämlich eines Tages plötzlich, daß ein Arzthaus ohne weibliche Repräsentation einfach unmöglich sei, und wenn Lady Laura irgendeinen Mangel oder Übelstand fand, so schuf sie auch sofort Abhilfe.

Dr. Shipley war von ihrer Idee eigentlich nichts weniger als begeistert gewesen, aber er hatte sich ergeben gefügt, denn erstens gab es gegen eine Entscheidung der resoluten Lady so gut wie keinen Einspruch, und zweitens hatte sogar er selbst schon wiederholt die Empfindung gehabt, daß das Fehlen hilfsbereiter Weiblichkeit im Hause wirklich einen sehr empfindlichen Mangel bedeutete.

Mrs. Cicely Carringhton, von der er nur wußte, daß sie die Witwe eines Offiziers und eine entfernte Verwandte von Lady Laura war, kam also, und als sie ihm mit einem reizenden Lächeln die Hand reichte, war Dr. Shipley so überrascht, daß ihm der konventionelle trockene Willkommensgruß, den er an seine Hausdame zu richten gedachte, im Halse steckenblieb.

Mrs. Cicely war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte, und er wußte im ersten Augenblick nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte. Wohl nicht mehr ganz jung, etwa dreißig, aber entschieden sehr hübsch und so gar nicht englisch. Eine mittelgroße Brünette, ein klein wenig zur Fülle neigend und in ihrem ganzen Wesen Dame von Welt.

Wenn aber Dr. Shipley einigermaßen in Verlegenheit war, wie er die Stellung und den Wirkungskreis einer Hausdame dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit anpassen sollte, so wurde er dieser Sorge sehr bald enthoben, denn Mrs. Carringhton nahm dies selbst in die Hand. Klar und zielbewußt setzte sie ihm auseinander, wie sie sich alles dachte, und er hörte sehr aufmerksam zu und nickte ununterbrochen Beifall, obwohl er eigentlich nicht so recht verfolgen konnte, was sie meinte, weil er vor allem auf ihr liebes, hübsches Gesicht schauen und auf den angenehmen Klang ihrer sonoren Stimme hören mußte.

So ruhig, zielbewußt und angenehm, wie sie gesprochen hatte, begann sie zu schalten und zu walten. Vieles im Hause wurde geändert, aber diese Veränderungen erfolgten so still und mit solcher Selbstverständlichkeit, daß man sich schließlich nur darüber wundern konnte, wie es bisher hatte anders sein können.

Zuweilen aber ergab sich für Mrs. Carringhton auch die Notwendigkeit, mit Dr. Shipley verschiedene Dinge zu besprechen, und in solchen Fällen pflegte sie ihn höchst förmlich zum Lunch oder zum Dinner einzuladen. Sie behauptete, daß sich hierbei die Haushaltungsfragen viel eingehender und gemütlicher erledigen ließen, und der Hausherr stimmte ihr begeistert bei, denn diese Mahlzeiten waren einfach entzückend. Als er aber gelegentlich meinte, daß sich eigentlich täglich verschiedene Dinge ergäben, die zu erörtern wären, meinte Mrs. Cicely, daß sie ihn doch nicht wegen jeder Kleinigkeit bemühen könne und daß es vollständig genüge, wenn er ihr von Zeit zu Zeit ein Stündchen opfere.

Als Dr. Shipley sein Haus betrat, erwartete ihn in der Halle bereits John, dessen sonst so gemessenes Wesen eine gewisse Ungeduld verriet. Er hatte seinem Herrn auch kaum Mantel und Hut abgenommen, als er seine wichtigtuerische Miene aufsetzte.

»Madam läßt bitten, Sir, mit ihr das Dinner einzunehmen. Mrs. Carringhton wartet bereits seit einer halben Stunde.«

Es klang etwas vorwurfsvoll, und John eilte geschäftig voran, um dem Herrn die Tür zu seinen Wohnräumen zu öffnen. »In zwanzig Minuten kann serviert werden«, fügte er über die Schulter hinzu.

Dr. Shipley war überrascht, denn er hatte erst vor zwei Tagen mit Mrs. Carringhton gespeist, und so rasch pflegte sie sonst ihre Einladungen leider nicht zu wiederholen. Es mußte also heute wohl ein triftiger Grund vorliegen, und während er sich unter der Beihilfe seines Dieners rasch umkleidete, grübelte er darüber nach, was es wohl sein könnte.

Da die gesamten Parterreräumlichkeiten des Hauses als Ordinationszimmer und Wohnräume gebraucht wurden, war das Speisezimmer in den ersten Stock verlegt worden, was nicht allzu störend empfunden wurde, zumal Mrs. Carringhton und der Hausherr, wenn er überhaupt zu Hause speiste, die Mahlzeiten ja gewöhnlich in ihren Zimmern einzunehmen pflegten.

Als Shipley etwas rasch und lebhaft eintrat, fand er Mrs. Carringhton bereits seiner harrend, und schon der erste Blick verriet ihm, daß sie sich in einer hochgradigen Erregung befand. Es schien aber, daß sein Kommen ihr eine große Erleichterung brachte, denn ihre Augen leuchteten lebhaft auf, und der Händedruck, mit dem sie ihn begrüßte, war wärmer als sonst.

»Entschuldigen Sie, Dr. Shipley, daß ich Sie so spät noch in Anspruch nehme, aber ich habe heute einen sehr schlimmen Tag. Ich fühle mich so furchtbar einsam, und es war mir ein Bedürfnis, wenigstens ein Weilchen zu plaudern. Ist Ihnen das sehr unangenehm?«

Sie sagte das mit einer allerliebsten Unbefangenheit, aber Dr. Shipley fühlte, daß es nur ein Vorwand war, und er las in ihren Augen, die ihn so seltsam betrachteten, eine ängstliche Frage, die er nicht zu deuten wußte.

»Sie wissen, Mrs. Carringhton«, bemerkte er verbindlich »daß ich Ihnen jederzeit« – er legte auf das Wort einen vielsagenden Nachdruck – »zur Verfügung stehe. Es hätte für mich keinen schöneren Abschluß des heutigen Abends geben können.«

Über sein scharfes, dunkles Gesicht ging ein warmes Lächeln, und wieder fühlte er den forschenden Blick Mrs. Carringhtons auf sich ruhen.

Das Dinner verlief diesmal etwas einsilbiger und rascher als sonst, denn Mrs. Cicely war sichtlich ungeduldig und hob die Tafel mit ungewohnter Eile auf.

Nach Tisch pflegten sie in dem anstoßenden kleinen Salon gewöhnlich einige Zigaretten zu rauchen, und das war dann die Stunde, auf die sich der Hausherr immer so ganz besonders freute. Aber auch diese Stunde schien heute anders werden zu sollen als sonst, denn Mrs. Carringhton rauchte schweigend und schien ganz mit ihren Gedanken beschäftigt.

Plötzlich aber drückte sie ihre Zigarette energisch aus und sah Dr. Shipley voll an.

»Sie wissen, daß ich mich nie um Ihr Tun und Lassen kümmere, aber heute möchte ich eine Frage an Sie richten: Was haben Sie am heutigen Abend Besonderes getan oder erlebt? Ich frage dies nicht aus müßiger Neugierde, sondern habe meine triftigen Gründe dafür.«

Dr. Shipley war von dieser Frage so überrascht, daß er seine Hausdame nur mit verwunderten Augen anblicken konnte und einiger Sekunden bedurfte, um sich zu fassen. Er hatte seinen seltsamen Kranken und die Episode auf dem Heimwege fast schon vergessen und vermochte sich nicht zu erklären, wie Mrs. Carringhton von diesen Ereignissen überhaupt Kenntnis erhalten haben konnte.

»Was wissen Sie davon, Mrs. Carringhton? Und wie haben Sie davon erfahren?« fragte er erstaunt.

Mrs. Cicely betrachtete die rosigen Nägel ihrer reizenden Finger. »Das werden Sie hören, wenn Sie meine Frage beantwortet haben«, erwiderte sie ausweichend.

Dr. Shipley gab gehorsam eine knappe Darstellung erst des seltsamen Krankheitsfalles, der ihn so in Anspruch genommen hatte, und dann des Vorfalles in der kleinen Gasse, dessen rasche und glatte Erledigung ihn sichtlich noch immer amüsierte. Aber selbst jetzt, da er diese beiden Ereignisse zusammenhängend erzählte, kam ihm nicht in den Sinn, sie miteinander zu verknüpfen, und er konnte die außerordentliche Erregung, in die sein kurzer Bericht Mrs. Carringhton versetzte, nicht verstehen.

»Dr. Shipley«, Mrs. Cicely vermied es noch immer, ihn anzusehen, sondern blickte angelegentlich auf das feine Spitzenmuster der Tischdecke, »ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen. Es ist eine für Sie bestimmte Warnung, die mir vor etwa einer halben Stunde zugegangen ist, und ich würde Ihnen dringend raten, diese Warnung zu beachten. Ich weiß, daß sie nur zu begründet sein muß, denn sonst wäre sie gewiß nicht erfolgt. Im übrigen muß Ihnen ja der Überfall sagen, was Sie von der Sache zu halten haben.«

»Eine Warnung? Wovor? Von wem?«

Dr. Shipleys Frage klang gespannt und etwas scharf, und er blickte unter halbgeschlossenen Lidern hervor Mrs. Carringhton fest an.

Aber sie sah weiter auf das Spitzenmuster, und es war, als ob sie eingelernte Worte zu einem Dritten spräche.

»Man hat mich folgendes wissen lassen: Sagen Sie Dr. Shipley, daß er soeben in ein gefährliches Wespennest gestochen hat und daß er auf der Hut sein möge. Die Leute, denen er in die Quere gekommen ist, sind zu allem fähig, und sie verfügen über außergewöhnliche Mittel, wie er ja heute an seinem Patienten beobachten konnte. – Das hat man mir mitgeteilt, Dr. Shipley, Sie wissen nun, woran Sie sind.«

In ihre Stimme war eine gewisse Unsicherheit gekommen, und um ihre Augenwinkel ging ein nervöses Zucken.

Als sie ihren Bericht beendet hatte, trat ein minutenlanges Schweigen ein.

Dr. Shipley vermochte die Sache nicht zu verstehen und grübelte über die Zusammenhänge nach, die sich plötzlich ergaben. Um die Vorgänge auf der Polizeiwache konnten doch eigentlich nur Inspektor Webster und er wissen, und doch mußten Dritte von ihnen Kenntnis erhalten haben. Daß bei der Erkrankung des Mannes außerordentlich verdächtige Umstände im Spiele waren, war ihm völlig klar gewesen, aber nun gewann es den Anschein, als ob dieser Fall nur ein Glied in einer ganzen Kette rätselhafter Umtriebe sei.

»Und von wem ist Ihnen diese Warnung zugekommen?« forschte Dr. Shipley mit einem eigenartigen Unterton, der Mrs. Carringhton veranlaßte, ihm einen raschen, hilflosen Blick zuzuwerfen. In ihren Augen lag ein gequälter Ausdruck, und sie hob abwehrend die Hand.

»Darauf kann ich Ihnen nicht antworten – wenigstens vorläufig nicht«, verbesserte sie sich hastig. »Es ist ja schließlich auch nebensächlich.«

Dr. Shipley war sichtlich betreten, und um seine schmalen Lippen grub sich ein scharfer Zug.

»Verzeihen Sie, Mrs. Carringhton, Sie haben vollständig recht.« Er machte aus seiner Verstimmung kein Hehl und erhob sich jäh. »Jedenfalls habe ich Ihnen für die sicher gutgemeinte Warnung zu danken. Ebenso demjenigen, von dem sie ausging«, fügte er nach einer kleinen Pause mit einem Lächeln hinzu.

Mrs. Cicely war ebenfalls aufgestanden. Sie schien das Ende der Unterredung mit großer Erleichterung aufzunehmen und reichte ihm mit einer raschen, verabschiedenden Gebärde die Hand.

»Was werden Sie tun, Dr. Shipley?« Ihr Blick haftete mit forschender Sorge auf ihm.

Er hob leicht die Schultern. »Vorsichtig sein. Ich will Ihnen keine Komödie vorspielen und sagen, daß ich die Warnung in den Wind schlage, denn die Sache sieht wirklich bedenklich aus.« Er sprach aufrichtig und kühl und vermied es, sie anzusehen. »Aber ich habe in meinem Leben schon so viele nicht alltägliche Dinge erlebt, daß ich nicht ängstlich bin und mich auf meine fünf Sinne und meine Nerven verlassen kann . . .«

In die letzten Worte gellte aus dem Garten, auf den die Fenster des Eßzimmers gingen, ein halbunterdrückter Schrei, dem einige trillernde Pfiffe folgten. Dann hörte man rasche, halblaute Zurufe und das Trampeln von Füßen auf eiliger Flucht.

Mrs. Cicely war bei dem ersten Lärm schreckhaft zusammengefahren, und in ihre Augen war ein Ausdruck bangen Entsetzens getreten, als Dr. Shipley Miene machte, an eines der Fenster zu stürzen.

Sie faßte ihn hastig mit beiden Händen am Arm und hielt ihn zurück. »Seien Sie vorsichtig, Dr. Shipley. Ich bitte Sie darum.«

Ihre Stimme klang flehend, und unwillkürlich machte er halt.

Dann schüttelte er ratlos seinen Kopf. »Sie scheinen durch unser Gespräch etwas nervös geworden zu sein, Mrs. Carringhton, und ich kann das verstehen. Wahrscheinlich hat Sie eine ganz gewöhnliche Prügelei erschreckt, wie sie ja öfter vorkommt. Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel schicken, damit Sie nach dem aufregenden Abend wenigstens eine ruhige Nacht haben.«

In diesem Augenblick ließ sich an der Tür ein hastiges, energisches Pochen vernehmen, und ohne erst die Aufforderung abzuwarten, erschien John auf der Schwelle.

Dr. Shipley sah ihn überrascht und fragend an.

»Verzeihung, Sir« – John rang mühsam nach Atem – »es ist in Ihr Arbeitszimmer eingebrochen worden. Man hat eine Scheibe des Garderobezimmers eingedrückt und ist von dort eingedrungen.«

»Und was hat man mitgenommen?«

John machte ein höchst merkwürdiges Gesicht. »Soviel ich bis jetzt übersehen konnte, nichts, Sir. Alle Kästen und Schubladen sind verschlossen und unversehrt, nur auf Ihrem Schreibtisch ist alles durcheinandergeworfen.«

Dr. Shipley zog gespannt die Brauen hoch.

»Wohin hast du das zusammengefaltete Papier gelegt, das in meiner Rocktasche war?«

»Auf den Schreibtisch, Sir.«

Dr. Shipley sah seine Hausdame mit einem Gemisch von Besorgnis und Mißtrauen an. Sie schien sich kaum mehr auf den Füßen halten zu können, und ihre Blicke irrten ruhelos umher.

»John, klingeln Sie Betty. Madam fühlt sich nicht wohl. Gute Nacht, Mrs. Carringhton.«

Er reichte ihr etwas kühl und förmlich die Hand und fühlte dabei, daß durch ihre eiskalten Finger ein leises Zittern ging. John klingelte und schickte sich an, seinem Herrn zu folgen. An der Tür aber machte er halt und verbeugte sich sehr ehrerbietig.

»Madam können vollständig ruhig sein, es besteht absolut keine Gefahr. Ich habe einen sehr leichten Schlaf und besitze einen Browning, den ich ausgezeichnet zu handhaben weiß.«

Mrs. Carringhton lächelte ihm dankbar zu, und John trollte sich, um seinen Herrn einzuholen.

Dr. Shipley fand in seinen Zimmern alles so vor, wie John es gesagt hatte. Es fehlte auch nicht die geringste Kleinigkeit, nur sein Schreibtisch bot ein wüstes Bild, und das Papier mit den eigenartigen Fasern, die er in der Hand des Kranken gefunden hatte, war trotz eifrigsten Suchens nicht aufzufinden.

So blieb also als einziger und letzter Anhaltspunkt für den seltsamen Fall und für die ebenso rätselhaften Vorgänge der letzten Stunden lediglich die Aussage des Kranken, die er mit Inspektor Webster am nächsten Morgen hören wollte.

 

Der folgende Morgen brachte Dr. Shipley zwei neue Überraschungen. Zunächst fand er unter seiner Morgenpost einen ziemlich umfangreichen Brief, den er im ersten Augenblick für irgendeinen Prospekt hielt. Aber kaum hatte er einen Blick auf den Inhalt geworfen, als sich in seinen Mienen das lebhafteste Erstaunen widerspiegelte.

Der Umschlag enthielt den gefalteten Papierbogen, der ihm am vorhergehenden Abend entwendet worden war, und als er das Blatt auseinanderschlug, konnte er befriedigt feststellen, daß von dem so sorgfältig gesammelten Inhalt nichts fehlte. Nur das Papier war arg beschmutzt und stark zerknittert, als ob es gewaltsam durch mehrere Hände gegangen wäre.

Wie es seinen Weg wieder zu ihm zurückgefunden hatte, darüber fehlte jede Andeutung, und der Arzt sah sich erneut einem Rätsel gegenüber, das er nicht zu lösen vermochte.

Er gab es schließlich auf, sich den Kopf zu zerbrechen, und untersuchte den Inhalt des Papiers zunächst einmal unter dem Mikroskop. Es waren zweifellos Fasern irgendeines feinen Gewebes, und Dr. Shipley vermochte sogar zu unterscheiden, daß sie in verschiedenen, auffallend lebhaften Farben schillerten. Die Hand des Kranken mußte sich bei dem Anfall krampfhaft in den betreffenden Stoff eingekrallt und die spinnwebedünnen Fasern ausgerissen haben. In der feuchten Hand hatten sich diese Fäden dann zu kleinen Büscheln geballt, an denen sich das bunte Farbenspiel besonders deutlich beobachten ließ.

Dr. Shipley sah mit gespanntem Interesse durch das scharfe Glas, und sein Kopf arbeitete fieberhaft. Es ging ihm nun nicht mehr allein um diesen besonderen Fall, sondern vielleicht weit mehr noch um die merkwürdigen Zusammenhänge, die sich aus ihm ergeben hatten und mit denen nun auch Mrs. Carringhton in irgendwelchen Beziehungen zu stehen schien.

Dieser Gedanke lastete auf ihm wie ein Alp, und schon deshalb mußte er Klarheit in das Dunkel bringen, wenn es auch augenblicklich noch so undurchdringlich scheinen mochte.

Er hatte die Fasern sorgfältig in ein Reagenzglas geschoben und wollte eben mit der chemischen Untersuchung beginnen, als er von der Halle her die Stimme Websters vernahm. Gleich darauf ließ John den Beamten eintreten, der wie eine Maschine schnaufte und sich mit dem Taschentuch heftig über das krebsrote Gesicht fuhr.

Er streckte Shipley mit einer wahren Leichenbittermiene die Hand hin und ließ sich dann in den nächsten Stuhl fallen.

Der Arzt klingelte, und als sein Gehilfe Edward erschien, übergab er ihm das Reagenzglas mit einigen kurzen Weisungen. Dann sah er etwas überrascht nach der Uhr.

»Sie kommen wohl, um mich zu dem Besuch bei unserem Patienten abzuholen?« sagte er. »Wir hatten uns aber doch erst für elf Uhr verabredet, wenn ich mich recht erinnere.«

Der Inspektor blickte ihn aus seinen kleinen Augen verzweifelt an und schlug sich dann auf den massigen Schenkel, daß es wie ein Pistolenschuß durch den Raum hallte.

»Erinnern Sie mich nur nicht daran, Doktor, sonst trifft mich auf der Stelle der Schlag.« Sein Brustkasten hob sich wie ein Blasebalg, und aus seinem dicken Hals kam ein furchtbares Knurren. »Unseren Patienten können wir suchen. Der ist beim Teufel. Wenigstens hoffe ich es.«

Dr. Shipley sah den aufgeregten Mann verblüfft an.

Webster nickte mit einem verzerrten Grinsen. »Jawohl, reinlegen hab ich mich lassen von dieser Bande. Die Kerle haben den Chauffeur und den Wärter des bestellten Krankenwagens einfach unschädlich gemacht und dann ihren Kranken bei mir geholt. Und ich habe mich mit diesen Banditen noch unterhalten, anstatt ihnen mit einem Griff den Kragen umzudrehen.«

Er machte eine kurze Bewegung mit seiner riesigen Hand. »Den Wagen mit den beiden Geknebelten hat man heute früh in Hatcham gefunden.« Er schnappte einige Male nach Luft.

»Und an Sie haben sich die Kerle auch 'rangemacht? Ich weiß schon alles. Ich gäbe etwas drum, wenn ich an Ihrer Stelle hätte sein können, Doktor.«

In diesem Augenblick erschien Edward mit einem Glassturz, unter dem sich ein Meerschweinchen befand, und der Arzt hatte kaum einen Blick auf das Tierchen geworfen, das in krampfhaften Zuckungen lag, als er lebhaft und befriedigt nickte.

»Auf etwas sind wir, Gott sei Dank, schon gekommen, Inspektor und vielleicht auf das Wichtigste.«

Webster sah Shipley mit einem wenig geistreichen Gesicht an.

Der Arzt wies auf den Glassturz.

»Auf die tückische Waffe, mit der die Bande zu kämpfen scheint, und wie diese Waffe unschädlich zu machen ist. Das ist immerhin schon etwas.«

Der Inspektor wiegte verächtlich den dicken Kopf. Er sah aus wie ein Bluthund, der gierig nach einer Fährte sucht.


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