Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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27

»Madam«, sagte Mrs. Mabels Zofe am nächsten Morgen geheimnisvoll, als sie ihrer Herrin das Frühstück servierte, »es scheint heute nacht hier im Hause etwas vorgegangen zu sein. Man spricht zwar nicht darüber, aber Mr. Vanes Diener und der Gärtner stecken fortwährend die Köpfe zusammen, und ich habe beobachtet, wie sie im Erdgeschoß einen Fensterflügel, dessen untere Scheibe eingedrückt ist, lange untersuchten.«

Mrs. Hughes zog mißbilligend die Brauen hoch. »Ich wünsche nicht, daß du dich um Dinge kümmerst, die dich nichts angehen«, verwies sie das Mädchen scharf. »Es ist höchste Zeit, daß wir wieder nach London kommen, denn du nimmst hier Manieren an, die ich nicht vertrage.«

Die Zofe verzog pikiert den etwas zu roten Mund, »Haben Madam wegen der Toilette besondere Wünsche?« fragte sie verschnupft.

»Nein. Ich fühle mich nicht wohl und will Ruhe haben. Laß vor allem die Rouleaus herab, denn der Anblick dieser trostlosen Regenlandschaft macht mich krank.«

Die schöne Frau griff sich nervös an die Schläfen und begann dann an ihrem Tee zu nippen, während das Mädchen dem Befehl nachkam.

Draußen strömte der Regen vom blaugrauen Himmel, und über die fernen Hänge zogen wallende Nebelschwaden.

Unter der Tür machte die Zofe nochmals halt.

»Wenn Mr. Vane kommen sollte, Madam . . .?«

»So führe ihn hierher«, bestimmte Mrs. Mabel. »Und für heute abend«, sie überlegte eine Weile, bevor sie sich entschied, »bereite die neue Pariser Robe vor.«

»Sehr wohl, Madam. Mit den Pariser Schuhen . . .«

»Nein«, sagte Mrs. Mabel rasch und nachdrücklich, »mit einfachen Lackschuhen.«

Mrs. Hughes schien unter dem Witterungsumschlag, der plötzlich hereingebrochen war, wirklich außerordentlich zu leiden. Ihr Gesicht war von einer fahlen Blässe, und die dunklen Schatten unter den Augen sowie eine gewisse Ermüdung in den Zügen ließen es seltsam scharf und starr erscheinen.

Als sie ihr Frühstück beendet hatte, erhob sie sich schwerfällig, tat einige unsichere Schritte und begab sich dann in den Ankleideraum, den sie hinter sich abschloß. Hierauf schloß sie in nervöser Hast einen der vielen Koffer auf, entnahm ihm eine kleine Ledermappe und begann den Inhalt Blatt für Blatt durchzusehen. Aber sie schien das, was sie suchte, nicht zu finden, denn sie wurde sichtlich ungeduldiger, und ihre bleichen Wangen röteten sich leicht. Schließlich leerte sie den Koffer bis auf den Grund, und als sie damit fertig war, dachte sie eine Weile angestrengt nach.

Plötzlich gruben sich um ihren Mund zwei harte Falten, sie verschloß den Koffer und betrachtete die Schlösser, die sie wiederholt prüfend auf- und zusperrte.

Aber es war alles in Ordnung, und Mrs. Mabel vermochte auf die Frage, die sie so in Unruhe versetzte, keine Antwort zu finden.

 

Mr. Vane stellte sich heute zu einer früheren Stunde als sonst ein, denn es war Samstag, und außerdem wollte er das Arrangement für den Abend, an dem ihm soviel gelegen war, selbst überwachen. Er hatte auch einen großen Teil seines Londoner Hauspersonals herbeordert, so daß die Villa schon in den ersten Vormittagsstunden einem Ameisenhaufen glich, in dem alles geschäftig, aber lautlos in Bewegung war.

»Ich bin untröstlich, Mrs. Mabel, daß das schöne Wetter nicht wenigstens noch einen oder zwei Tage angehalten hat«, meinte er und sah mit ehrlicher Besorgnis in ihr leidendes Gesicht. »Sie werden nun vielleicht von Newchurch einen sehr unfreundlichen Eindruck mitnehmen.«

»O nein, es war sehr nett hier, und ein bißchen Regenwetter, mag es auch noch so trostlos sein, kann mich die reizenden Tage nicht vergessen machen. Schließlich muß ja alles einmal ein Ende haben. Nun werde ich aber wohl morgen die Flucht ergreifen . . .«

»Bitte, wie Sie wünschen«, sagte er hastig. »Es fällt mir gar nicht ein, Ihnen zuzureden«, er rieb sich schmunzelnd die Hände und blinzelte glückselig, »im Gegenteil. Denn, Mrs. Mabel, es ist soweit.«

Er griff mit einer großen Geste in die Brusttasche und legte einige Papiere auf den Tisch. »Wollen Sie bitte in den Ehevertrag, den mein Anwalt entworfen hat, Einsicht nehmen und darin nach Belieben Änderungen vornehmen!«

»Ehevertrag? Wie entsetzlich das klingt!« Mrs. Hughes schüttelte sich und verzog den Mund. »Ist das so wichtig?«

Vane lächelte und strich sich mit Würde über die Hängebacken. »Gewiß, Mabel. Nicht für mich, aber für Sie. Das Dokument soll Sie überzeugen, wie . . . wie . . .« – er suchte nach den richtigen Worten und seufzte dabei gefühlvoll – »wie glücklich Sie mich machen und wie dankbar ich Ihnen dafür bin.«

Mrs. Hughes erwiderte nichts, aber sie reichte ihm die Hand, und er küßte diese, wobei er seinen überschwenglichen Gefühlen durch ein verzücktes Schmatzen Ausdruck verlieh.

»Mabel«, sagte er nach einer Weile ziemlich echauffiert, »wollen Sie nun den Tag bestimmen?«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein, Vane. Auch das nicht. Ich habe alles Ihnen überlassen, also müssen Sie auch den Termin festsetzen.«

Der Bankier zappelte vor Wonne. Er hatte nie geglaubt, daß alles so rasch und leicht gehen würde.

»Wir haben heute Samstag. Was würden Sie zu kommendem Mittwoch sagen?«

»Einverstanden. Aber denken Sie an meine Bedingung: in aller Stille. Und heute feiern wir also Abschied von Newchurch.«

»Vorläufigen Abschied«, verbesserte er mit Nachdruck. »Wenn wir dann wiederkommen, sollen Sie hier allerdings alles anders finden. Ganz nach Ihren Wünschen.«

»Oh, ich wüßte nicht, was ich anders haben möchte. Es ist ja alles so nett und wohnlich hier. Nur habe ich mich zuweilen gefürchtet. Das Haus liegt so einsam, und es wäre gewiß sehr leicht, hier einzubrechen . . .«

Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen.

»Ich fürchte, es ist Ihnen etwas von dem albernen Geschwätz zu Ohren gekommen«, meinte er ärgerlich und sah sie besorgt an. Sie tat sehr erstaunt und neugierig. »Von welchem Geschwätz, Vane?«

»Nun, meine Leute behaupten, daß irgend jemand Fremdes heute nacht im Hause gewesen sein müsse. Man hat in einem Zimmer des Erdgeschosses eine kunstvoll eingedrückte Fensterscheibe und einige Fußspuren entdeckt, aber ich bin überzeugt, daß die Sache eine ganz harmlose Erklärung haben dürfte. Man bricht doch nicht zum bloßen Vergnügen irgendwo ein. Jedenfalls ist im ganzen Hause auch nicht das geringste entwendet worden.«

»Das wäre allerdings sonderbar«, meinte Mrs. Hughes zerstreut und schien damit jedes weitere Interesse an der Sache verloren zu haben.

 

Mrs. Benett sah immer wieder ungeduldig nach der Uhr, denn Reffold klingelte weder nach seinem Frühstück, noch ließ er sich blicken, und sie hatte für ihn eine Mitteilung, die ihn vielleicht interessieren konnte.

Ihre Gefühle für den liebenswürdigen jungen Mann hatten zwar in den letzten Tagen eine gewisse Läuterung erfahren, aber das hinderte nicht, daß sie noch immer bis über die Ohren in ihn verliebt war und, wenn es hätte sein müssen, für ihn durchs Feuer gegangen wäre.

Als Reffold endlich strahlend und sichtlich gut gelaunt die Treppe herabstürmte, empfand Mrs. Jane in der Gegend des Herzens eine wonnige Beklemmung, und sie mußte sich Mühe geben, um ihrer Miene jenes Gemisch von entsagungsvoller Liebe und mütterlicher Zärtlichkeit zu verleihen, das sie in den letzten Tagen immer wieder vor dem Spiegel einstudiert hatte und das ihr, wie sie festgestellt hatte, so gut stand.

Sie nickte ihm auf seinen herzlichen Gruß lebhaft zu und machte mit dem einen Auge ein bedeutsames Zeichen.

Er verstand sie sofort.

»Etwas los, Mrs. Benett?« fragte er leise und behielt ihre Hand in der seinen, was sie gern geschehen ließ.

Sie zuckte mit den Achseln. »Etwas Bestimmtes weiß ich leider nicht«, tuschelte sie. »Aber Oberst Gregory scheint verletzt zu sein . . .«

Harry lächelte eigentümlich und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Jawohl«, fuhr Mrs. Jane eifrig fort, als sie sein Interesse bemerkte. »Das Stubenmädchen hat an den Handtüchern und im Badezimmer ziemlich starke Blutspuren entdeckt, obwohl man sich«, sie tat noch geheimnisvoller und wichtiger, »anscheinend alle Mühe gegeben hat, die Flecke zu beseitigen. Aber das ist nicht so einfach. Ich habe mir auch gleich gedacht, daß etwas los sein muß, denn als der Oberst heute nacht in aller Heimlichkeit heimkam« – Mrs. Benett senkte die Augen und wurde noch leiser – »– unmittelbar nach Ihnen, Mr. Reffold – hat er sich lange im Badezimmer zu schaffen gemacht. Er ist auch bisher nicht zum Vorschein gekommen . . .«

Eben in diesem Augenblick schellte die Klingel, und Mrs. Benett, die unwillkürlich einen Blick auf die Signaltafel geworfen hatte, zog die Brauen hoch.

»Zimmer Nr. 23«, sagte sie und sah Reffold vielsagend an. Einige Minuten später kam eines der Stubenmädchen eilig die Treppe herab.

»Wohin?« fragte Mrs. Benett geschäftsmäßig.

»Oberst Gregory wünscht seinen Chauffeur, Madam.«

Mrs. Jane nickte, und als das Mädchen vorüber war, legte sie ihre Hand vertraulich auf Harrys Arm.

»Gehen Sie ruhig frühstücken, Mr. Reffold«, meinte sie und schob ihn zur Tür des Eßzimmers. »Ich werde schon dafür sorgen, daß Sie über alles auf dem laufenden bleiben.«

Als Gregorys Chauffeur hastig die Treppe heraufkam, war sie ganz zufällig damit beschäftigt, den Läufer in Augenschein zu nehmen und an einigen Stellen höchst eigenhändig zurechtzuschieben.

Der mürrische Bursche wollte mit einem kurzen Gruß an ihr vorüber, aber Mrs. Benett drohte ihm schalkhaft mit dem Finger und lächelte dabei so geheimnisvoll, daß er stehenblieb.

»Mr. Nutt«, sagte sie und dämpfte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »weshalb steigen Sie immer durch das Fenster ein, wenn Sie morgens nach Hause kommen? Das ist doch sicherlich sehr unbequem . . .«

Der Mann sah sie betroffen und tückisch an.

»Mir scheint, Sie spionieren hinter mir her?« zischte er mit hochrotem Gesicht. »Was hat Sie das zu kümmern?«

»Oh, sehr viel«, erwiderte Mrs. Jane Benett scharf und war mit einem Male ganz hoheitsvolle Würde. »Und ich glaube, daß Oberst Gregory mir sicher recht geben wird, wenn er von Ihrer eigentümlichen Gewohnheit erfährt.«

»Na, Sie müssen das nicht gleich an die große Glocke hängen«, lenkte der Mann rasch und plötzlich etwas sehr kleinlaut ein.

»Das ist auch nicht meine Absicht, versicherte sie und lächelte schon wieder sehr freundlich. »Ich wollte Ihnen ja nur sagen, daß Sie es nicht nötig haben, so halsbrecherische Turnübungen auszuführen, wenn Sie ungesehen in Ihr Zimmer gelangen wollen. Ich verstehe, daß junge Leute gern ein bißchen Freiheit haben wollen und daß der Herr nicht alles wissen muß. Wollen Sie sich also nur an mich wenden, Mr. Nutt. Ich werde Ihnen schon einen weniger anstrengenden Weg zeigen.«

Der Mann fand, daß diese Mrs. Benett eine verdammt schlaue Person sei, mit der man sich gut stellen müsse, und machte sich mit einem dankbaren Grinsen davon.

»Sie werden mit dem Mittagszug nach London fahren und bis auf weiteres in der Wohnung bleiben«, sagte Gregory in seiner knappen bestimmten Art. »Statt Ihrer hat sofort William herauszukommen und mir die Sachen, die ich aufgeschrieben habe, mitzubringen.«

Der Chauffeur war sichtlich bestürzt.

»Sind Sie mit mir unzufrieden, Sir?« fragte er zögernd.

Der Oberst, der die Arme über der Brust verschränkt hielt, warf ungeduldig den Kopf zurück.

»Das würden Sie in anderer Form zu hören bekommen«, meinte er, und seine Stimme klang noch schärfer als sonst. »Ich benötige für heute einen perfekten Diener, und das sind Sie nicht. Also machen Sie sich fertig. Und bestellen Sie William ausdrücklich, daß er die kleine Handtasche nicht vergessen soll.«

Der Mann war sehr nachdenklich, als er wieder in die Halle kam, wo Mrs. Benett noch immer ihre geschäftigen Hände regte.

»Schlechtes Wetter heute?« fragte sie mit einer bezeichnenden Kopfbewegung nach oben.

»Kann mir egal sein«, brummte Nutt und zuckte mit den Schultern. »Ich fahre nach London, und für mich kommt ein anderer.«

»Oh . . .«, meinte Mrs. Benett bedauernd und überlegte, ob diese Nachricht für Reffold von Bedeutung sein könnte.

Eine Viertelstunde später saß Oberst Gregory im Eßzimmer beim Frühstück und bediente sich mit der Linken, da er die Rechte zwischen zwei Knöpfe seines Sakkos geschoben hatte. Er schien weder Harry noch Burns und Webster und die übrigen Gäste zu sehen, die der Regentag hier vereint hatte, sondern blickte kalt und hochmütig über alle hinweg.

Burns wiegte den Kopf von einer Seite zur andern und rutschte auf seinem Stuhl nervös hin und her.

»Webster«, sagte er plötzlich und rieb heftig seine Nase, »wenn die Geschichte auch nur noch acht Tage dauert, verliere ich den Verstand.«

»Ich nicht«, meinte der Inspektor selbstbewußt und schob sich behaglich eine belegte Brotschnitte in den Mund.

Als Reffold gegen neun Uhr abends in Frack und Abendmantel und mit dem Monokel im Auge in die Halle kam, schlängelte sich Burns an ihn heran und betrachtete ihn schmunzelnd.

»So gefallen Sie mir, Mr. Reffold«, sagte er und rieb sich lebhaft die Hände. »Wenn ich mich so herrichten könnte, hätte ich es sicher längst schon zum Kommissar gebracht. Diese Figur, diese Haltung . . . Selbst die vollendetsten Hochstapler, die ich kennengelernt habe, haben nicht halb so fabelhaft ausgesehen.«

Harry lachte belustigt. »Hören Sie auf, Mr. Burns. Oder wollen Sie mir eine Liebeserklärung machen?«

Der Oberinspektor verzog den Mund und blinzelte vergnügt. »Die werden Sie unbedingt von Mrs. Benett zu hören bekommen, wenn sie Sie in dieser Aufmachung sieht. Ich für meine Person wollte Ihnen nur sagen, daß Ihnen solch ein tadelloser Abendanzug weit besser steht als gewisse andere Kleidungsstücke, die Sie zuweilen bei Anbruch der Dunkelheit anlegen. Darin sehen Sie lange nicht so vorteilhaft aus, und« – Burns' Stimme bekam einen ernsten und eindringlichen Klang – »solche Dinge sind nichts für Sie. Manchmal mögen Sie sich ja dabei ganz gut unterhalten, aber über kurz oder lang würden Sie doch einmal in Teufels Küche geraten. Und fast möchte ich Ihnen noch in letzter Stunde den guten Rat geben, heute abend nicht mitzutun . . .«

Harry zündete sich eine Zigarette an und ließ seinen Blick fragend auf dem Detektiv ruhen.

Burns zuckte mit den Schultern. »Offen gestanden, ist das nur so ein Gefühl, aber ich gebe etwas auf solche Ahnungen. Jedenfalls halten Sie die Augen offen, und seien Sie auf Ihrer Hut.«

Reffold blies nachdenklich den Rauch in die Luft. »Vor wem?« fragte er leise und ließ die Lider sinken.

»Am besten vor allen«, flüsterte Burns und lüftete in demselben Augenblick den Hut gegen Oberst Gregory, der lautlos wie ein Schatten plötzlich neben ihnen aufgetaucht war.

Der Oberst erwiderte den Gruß gemessen und war bereits an der Haustür, als er einen Augenblick unschlüssig stehenblieb und dann wieder auf Harry zukam.

»Ich nehme an, Mr. Reffold, sagte er mit einem dünnen Lächeln, »daß wir denselben Weg haben. Darf ich Sie einladen, mit mir zu fahren?«

Für einige Sekunden kreuzten sich die Blicke der beiden Männer, dann warf Harry mit einem kurzen Ruck den Kopf zurück und verbeugte sich verbindlich.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Oberst Gregory. Sie sind außerordentlich liebenswürdig.«

Burns sah den beiden nach, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und begann in nervöser Unruhe in der Halle auf und ab zu gehen.

 

Vane hatte es sich angelegen sein lassen, den ganzen etwas aufdringlichen Prunk zu entfalten, über den sein Hausstand verfügte, und schon das Treppenhaus wimmelte von einer Dienerschaft, die sich ihrer Würde in jeder Bewegung bewußt war.

»Donnerwetter«, murmelte Reffold, als ihm einer dieser Gentlemen gemessen Hut und Mantel abnahm, und um seinen Mund spielte ein belustigtes Lächeln.

Vane sah im Frack und in der weißen Weste, die auf dem ansehnlichen Bäuchlein keinen recht Sitz hatte, womöglich noch unvorteilhafter aus als sonst, aber sein Gesicht strahlte vor Selbstgefälligkeit und freudiger Erregung, als er seinen Gästen entgegentrippelte.

»Willkommen, meine Herren. Ich freue mich, Sie in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu können«, sprudelte er hervor und schüttelte Gregory und Reffold mit großer Herzlichkeit die Hände.

Dann geleitete er sie, unablässig an seiner widerspenstigen Weste zupfend, durch eine Reihe von Zimmern, in denen sichtlich das Unterste zuoberst gekehrt worden war, um sie zu Gesellschaftsräumen herzurichten.

»Sie gestatten wohl, daß ich Sie nun Mrs. Mabel Hughes vorstelle«, sagte er, indem er die Hand an eine schwere Portiere legte, und Stimme wie Miene verrieten die freudige Genugtuung, die ihm dieser Augenblick bereitete.

Da er Oberst Gregory den Vortritt gelassen, hatte Reffold Gelegenheit, den ersten Eindruck von Mrs. Mabel in aller Ruhe in sich aufzunehmen, und er mußte sich sagen, daß er noch selten einer Frau von so bestrickender Erscheinung begegnet war. Die geschmackvolle, kostbare Abendtoilette ließ ihre prachtvolle Figur zu besonderer Geltung kommen. Das schwarze Haar, die blendenden Schultern wurden durch den dunklen Samt der Robe wirkungsvoll hervorgehoben. Hals, Arme und Hände der schönen Frau glitzerten von Juwelen, die ein Vermögen repräsentierten.

Auch Oberst Gregory schien von dem Zauber ihrer Persönlichkeit sofort gefangen zu sein, denn sein sonst so kühles und hochmütiges Gesicht bekam einen Zug bewundernder Ehrerbietung.

»Ich bin Mr. Vane außerordentlich verbunden, Mrs. Hughes, daß er mir einen Vorzug verschafft, den ich seit langem ersehnt habe«, sagte er und führte die schmale, gepflegte Hand, die sie ihm reichte, an die Lippen. »Bisher mußte ich mich leider damit begnügen, Sie immer nur aus der Ferne bewundern zu dürfen.«

Mrs. Mabel lächelte sehr fein, und um ihre Mundwinkel ging ein leichtes Zucken.

»Hoffentlich bringt Ihnen die Erfüllung Ihrer Sehnsucht keine allzu große Enttäuschung, Oberst Gregory. Die Nähe ist für uns Frauen zuweilen eine Feindin . . . Mr. Reffold, bitte setzen Sie sich – ich fühle mich sehr unbehaglich, wenn jemand aus so respektabler Höhe lächelnd auf mich herabsieht.«

Vanes wäßrige Augen hingen in Verzückung an der Frau, die mit so viel Geist und Schlagfertigkeit die Konversation zu führen wußte, mit sprunghafter Lebendigkeit von einem Thema aufs andere kam und über alles etwas Treffendes zu sagen hatte. Sie plauderte mit Oberst Gregory über Paris, Rom und Indien, mit Harry über die großen sportlichen Ereignisse und fand dabei immer noch Gelegenheit, auch Vane, der da nicht mitreden konnte, durch irgendeine alltägliche Frage mit ins Gespräch zu ziehen, wofür dieser ihr unendlich dankbar war.

»Seit wann sind Sie aus Indien zurück, Oberst Gregory?« fragte sie plötzlich interessiert, und ihr Blick haftete dabei seltsam auf dem leichten Verband, den der Oberst trug. »Und bleiben Sie nun in England, oder gedenken Sie wieder zurückzukehren?«

Gregory schien den ersten Teil der Frage überhört zu haben und durch den zweiten einigermaßen in Verlegenheit gebracht worden zu sein, denn er ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete.

»Das letztere wohl nicht, da ich den Dienst quittiert habe«, meinte er ausweichend, und Reffold, der ihn beobachtete, empfing den Eindruck, als ob es ihm unangenehm sei, darüber zu sprechen.

Aber die schöne Frau schien nichts davon zu merken, sondern zog überrascht die dunklen Brauen hoch, und ihre strahlenden Augen richteten sich verwundert auf Gregory.

»Sie haben den Dienst quittiert, Oberst? Ist das Ihr Ernst? Ich habe so viel von Ihrer glänzenden Karriere und Ihren militärischen Unternehmungen gehört, daß ich Sie für einen eingefleischten Soldaten hielt, der ohne den Reiz aufregender Abenteuer überhaupt nicht zu leben vermöchte.«

»Sie irren, Mrs. Hughes«, sagte er mit einem eigenartigen Lächeln. »Mein Bedürfnis nach aufregenden Abenteuern ist durch meine indischen Jahre vollauf gedeckt worden, und ich habe nun keinen anderen Wunsch, als das ruhige Leben eines Privatmannes zu führen.«

Mrs. Mabel schüttelte ungläubig ihren Kopf.

»Halten Sie das für möglich, Mr. Reffold?« fragte sie lebhaft, und es war Harry, als ob in dem Blick, den sie auf ihn richtete, eine Herausforderung läge. »Ich glaube, von solch einem Leben voll Aufregungen und Gefahren kommt man nicht los – und wenn man es nicht mehr hat, so schafft man es sich auf die eine oder die andere Weise. Sie scheinen ja auch einen gehörigen Schuß Abenteuerlust im Blut zu haben und werden vielleicht verstehen, was ich meine.«

Reffold lächelte harmlos. »Ich verstehe Sie sehr gut, Mrs. Hughes. Sie meinen, die Katze läßt das Mausen nicht. Aber ich kann darüber leider nicht mitsprechen. Denn wenn Sie mit der Abenteuerlust vielleicht auch recht haben mögen – ich hatte noch nicht Gelegenheit, auf den richtigen Geschmack zu kommen. Mein Leben war bisher so arm an derartigen Reizen wie das eines ehrsamen Landpredigers . . .«

In diesem Augenblick stellte sich als letzter der Gäste Thomas Flesh ein, und Vane, der ihm entgegenging, bemerkte auf den ersten Blick, daß er sich in einer Erregung befand, die er nur schlecht zu verbergen vermochte.

Seine Augen wanderten unstet von einem zum andern, und sein ganzes Wesen verriet eine Spannung, als ob er jeden Augenblick ein besonderes Ereignis erwarte.

Um über seine seltsame Unruhe hinwegzutäuschen, gab er sich mit krampfhafter Lebhaftigkeit, und Reffold, der ihm zum ersten Mal begegnete, kam auf den Verdacht, daß er getrunken hatte.

Kurze Zeit später meldete einer der Diener, daß serviert sei, und Oberst Gregory fiel die Ehre zu, Mrs. Mabel Hughes zu Tisch zu führen.

Die Tafel war ein Prunkstück, auf dem Vane seinen Reichtum bis zur Überladenheit zur Schau gestellt hatte. Der ganze Raum war mit seltenen Blüten angefüllt, und der ovale Eßtisch blinkte von schwerem Silber und kostbarem Kristall.

Mrs. Mabel nahm den Platz der Hausfrau oben an der Tafel ein, ihr zur Linken und Rechten saßen Oberst Gregory und Flesh, und neben diesen Reffold und Vane. Mehrere Diener servierten lautlos und mit vollendeter Schulung, und das Dinner machte den Eindruck einer Galatafel in einem Peershaus mit jahrhundertealter Tradition.

Das Gespräch war sehr lebhaft und drehte sich hauptsächlich um die großen Ereignisse der kommenden Saison, über die sich vor allem Mrs. Mabel und Gregory genauestens informiert zeigten. Reffold warf hie und da eine seiner drastischen Bemerkungen dazwischen, und die schöne Frau pflegte ihn dann mit so rätselhaften Augen anzusehen, daß ihm ganz eigenartig zumute wurde.

Vane hörte still zu, schmachtete Mrs. Mabel verliebt an und wiegte sich in seinem heimlichen Glück.

Auch Flesh war plötzlich schweigsam geworden. Harry, der ihm schräg gegenübersaß, bemerkte, daß er unruhig mit den Fingern spielte und daß er den schweren Weinen reichlich zusprach. Seine Augen bekamen allmählich einen starren Ausdruck, und um seine Mundwinkel grub sich ein feindseliger, aggressiver Zug.

»Sie erinnern sich doch an den letzten Abend, den wir zusammen verbracht haben, Mr. Vane«, sagte er plötzlich laut und scharf, indem er sich dem Bankier zuwandte. »Ich meine den Abend bei Milner. Es war auch hier in Newchurch . . .«

Vane fuhr herum und erschien noch fahler als sonst.

»Gewiß«, erwiderte er hastig und blinzelte Flesh mißbilligend zu. »Wir haben ja unlängst darüber gesprochen.«

Er sagte dies leichthin und in einem Ton, der andeuten sollte, daß er das Thema für abgetan erachte, aber Flesh schien sich in diese Erinnerung verbissen zu haben. Er wiegte leicht mit dem Kopf, und um seine Lippen trat ein boshaftes Lächeln.

»Jawohl. Und ich habe Ihnen gesagt, daß wir heute wieder alle beisammen sein werden – bis auf die beiden, die mittlerweile Malheur gehabt haben, und auf den Doktor, der aber nicht mitzählt. Finden Sie das nicht interessant?«

Er ließ seine Blicke herausfordernd von einem zum andern gleiten, und sein Lächeln wurde noch eisiger.

Mrs. Mabel sah ihn mit sichtlicher Neugierde an, Oberst Gregory blickte aus halbgeschlossenen Lidern vor sich hin, und Harry mußte plötzlich an Burns' Warnung denken. Vane aber war sprachlos vor Empörung und räusperte sich nachdrücklich, aber seine Hoffnung, daß Flesh nun endlich von der heiklen Sache abkommen werde, sollte sich nicht erfüllen.

»Mit diesem Abend scheint es ja eine besondere Bewandtnis gehabt zu haben«, bemerkte Mrs. Mabel interessiert, und ihre fragenden Augen waren für Flesh eine Aufforderung fortzufahren.

»Gewiß«, nickte er grimmig. »Es war so eine Art Henkersmahlzeit für unsern Freund Milner, denn einige Stunden später hat man ihn um die Ecke gebracht. Haben Sie nicht davon gehört?« fragte er lauernd. »Es geschah ja, kurz bevor Sie hierherkamen. Und dann mußte der zweite von uns dran glauben, der Anwalt Crayton . . .«

Er machte eine Pause, und wiederum wanderte sein stechender Blick von einem zum andern, bis er durchdringend auf Gregory haften blieb. »Und ich habe das Gefühl, als ob die Reihe an einen dritten von uns käme«, fuhr er mit einem verzerrten Lächeln fort. »Aber«, er hob plötzlich die Stimme, und seine Worte klangen schneidend und drohend, »vielleicht nicht an den, auf den es abgesehen ist. Es kann sein, daß diesmal die Sache ganz anders ausgeht.«

»Sie scheinen Gespenster zu sehen, Mr. Flesh«, meinte Gregory gelassen.

»Um so besser – für den andern«, fiel Flesh rasch und mit Nachdruck ein, »denn er würde diesmal das Spiel verlieren.«

Vane bebte vor Ärger und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

»Ich bitte Sie, lieber Flesh, hören Sie doch schon mit der dummen Geschichte auf. Sie scheinen wirklich sehr überreizt zu sein. – Verzeihen Sie, Mrs. Hughes«, fügte er mit einem entschuldigenden Blick auf Mrs. Mabel hinzu.

Deren Augen leuchteten vor Spannung. »Oh, Mr. Vane«, versicherte sie lebhaft, »ich liebe solche Geschichten. Das klingt ja alles so schaurig und geheimnisvoll. Ich möchte gern mehr erfahren. – Nun, Mr. Flesh?«

Sie sah ihn aufmunternd an und neigte den Kopf erwartungsvoll vor.

Flesh ließ einige Sekunden seinen Blick auf ihr ruhen, dann zog er die Mundwinkel herab und schüttelte seinen Kopf.

»Sie müssen sich noch etwas gedulden, Mrs. Hughes. Noch ist es nicht so weit, daß ich darüber sprechen möchte. Aber in zwei, drei Tagen werde ich wohl in der Lage sein, Ihre Wißbegierde zu befriedigen – falls Sie dies wünschen sollten.«

Mrs. Mabel nickte eifrig. »Gewiß wünsche ich dies, Mr. Flesh Ich werde Sie beim Wort nehmen.«

Sie bediente sich von dem Kompott, das ihr der Diener servierte und wandte sich an Gregory. »Man scheint also auch in England recht aufregende Dinge zu erleben, Oberst. Vielleicht ist das ein kleiner Trost für Sie.«

Gregory hob lächelnd die Schultern und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Mrs. Hughes –.«

Er wurde durch eine heftige Bewegung Fleshs unterbrochen, der plötzlich zusammenzuckte und dann mit seinem Stuhl blitzartig zurückfuhr.

Er sah bestürzt zu Boden, streckte den linken Fuß von sich, betrachtete ihn kopfschüttelnd und befühlte ihn. Dann trat in seinem Blick, den er verstört umhergleiten ließ, mit einem Mal ein Ausdruck furchtbaren Entsetzens, und er richtete sich mit einem jähen Ruck auf.

Seine Lippen bewegten sich, als ob er sprechen wolle, aber er brachte keinen Ton aus der Kehle, begann zu schwanken und stürzte rücklings nieder . . .

Mrs. Mabel war mit einem unterdrückten Aufschrei aufgefahren und starrte mit angstvollen Augen auf das furchtbare Bild.

Vane zitterte am ganzen Leib. Er hatte völlig die Fassung verloren und rang nach Atem, und erst als sein Blick auf Mabel Hughes fiel, die einer Ohnmacht nahe schien, kam wieder Leben in ihn. Er stürzte auf sie zu, führte sie fürsorglich am Arm und geleitete sie durch die Dienerschaft, die sich gaffend an den Türen zusammengedrängt hatte.

Oberst Gregory und Reffold waren fast gleichzeitig bei Flesh und bemühten sich, ihm zu helfen; aber Harry hatte kaum einen Blick in das fahle, starre Antlitz geworfen, als er auch schon erkannte, daß alle Bemühungen vergeblich sein würden.

»Telefonieren Sie sofort nach dem nächsten Arzt«, herrschte er einen Diener an, »und entfernen Sie die Leute. Nur zwei Mann sollen in der Nähe bleiben.«

In dem von betäubendem Blütenduft erfüllten Raum war es plötzlich leer geworden, und über der ausgestreckten Gestalt Fleshs standen sich Gregory und Reffold gegenüber. Der Oberst etwas blaß und mit halbgeschlossenen Lidern, Harry hochaufgerichtet, mit gespannten Nerven und Muskeln.

»Was meinen Sie dazu, Oberst Gregory?« fragte er.

Der Oberst hob leicht die Schultern. »Soviel ich beurteilen kann, hoffnungslos.«

Harry zeigte einen Augenblick seine Zähne. »Das weiß ich auch. Sie haben meine Frage mißverstanden. Ich wollte von Ihnen hören, ob Sie für das, was hier vorgegangen ist, eine Erklärung haben?«

Gregory hob etwas erstaunt den Kopf und sah Reffold groß und kühl an.

»Was wollen Sie damit sagen? Ich glaube, daß es sich um eine ganz natürliche und klare Sache handelt. Der arme Flesh befand sich, wie Sie ja wohl bemerkt haben werden, in einem Zustand derartiger Erregung . . .«

»Ich bin anderer Meinung, Oberst«, sagte Reffold bestimmt und beugte sich wieder über den Leblosen. »Und ich bin überzeugt, daß Sie derselben Ansicht sind und vielleicht noch etwas klarer sehen als ich . . .«

Harry stand schon wieder aufrecht, und in seinem Blick lag eine offene Herausforderung, aber Gregory wurde durch das Erscheinen des Hausherrn einer Erwiderung enthoben.

Vane wankte mühsam herein und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Entsetzlich, meine Herren«, stöhnte er und bedeckte die Augen mit den Händen. »Ich kann diesen Anblick nicht ertragen. Gibt es denn keine Hilfe? Bitte, sagen Sie mir, was zu tun ist – ich bin solchen Situationen nicht gewachsen. Auch Mrs. Mabel ist vollständig zusammengebrochen. Ich habe bereits meinen Wagen nach London zu meinem Hausarzt geschickt. Aber er kann frühestens in zweieinhalb Stunden hier sein. Bleiben Sie bis dahin, meine Herren – ich bitte Sie inständigst.«

Vane bot in seiner Verzweiflung einen jammervollen Anblick, und Reffold legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ich glaube, Ihnen dies auch im Namen Oberst Gregorys zusagen zu können, Mr. Vane. Es wird vielleicht das beste sein, wenn Sie sich für eine Weile zurückziehen, um sich etwas zu beruhigen. Wir werden mittlerweile tun, was sich eben tun läßt.«

Gregory verneigte sich zustimmend, und Vane schwankte nach einem dankbaren Händedruck davon.

Es ging bereits gegen ein Uhr, als Oberst Gregory und Reffold endlich aufbrechen konnten.

Sowohl Dr. Warner, der als erster erschienen war, wie der Londoner Arzt hatten bei Flesh nur den bereits eingetretenen Tod konstatieren können, und Dr. Warner hatte, um dem verzweifelten Vane gefällig zu sein, die sofortige Überführung der Leiche in das Krankenhaus von Sunbury veranlaßt.

Vanes Hausarzt war fast ausschließlich von der Fürsorge für Mrs. Mabel Hughes in Anspruch genommen worden, die einen völligen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben schien. Sie hatte sich sofort nach der Katastrophe in ihre Zimmer eingeschlossen und war erst nach langen, flehentlichen Bitten Vanes zu bewegen gewesen, den Arzt vorzulassen.

Gregory hatte seinen Wagen telefonisch zur Villa beordert und machte bereits eine höfliche, einladende Geste gegen Harry, als er sich die Sache plötzlich anders zu überlegen schien.

»Wenn es Ihnen beliebt, Mr. Reffold, so wollen Sie sich bitte des Wagens bedienen. Ich für meine Person ziehe nach den aufregenden Stunden etwas Bewegung in der frischen Luft vor.«

»Ich auch«, pflichtete Harry lebhaft bei, und trotz des strömenden Regens und des dunklen, aufgeweichten Weges stapften sie in ihren Abendanzügen durch die Nacht.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sie die ›Queen Victoria‹ erreichten, aber weder der eine noch der andere sprach während dieser ganzen Zeit ein Wort.

Erst als sie die Halle der Pension erreicht hatten, lüfteten sie gegeneinander höflich und gemessen den Hut und verabschiedeten sich mit einem zeremoniellen Händedruck.

Harry hatte kaum seine nasse Garderobe abgelegt, als er plötzlich ein leises Klopfen zu vernehmen glaubte. Er öffnete befremdet, und im selben Augenblick schlüpfte Burns ins Zimmer und drückte rasch die Tür hinter sich zu.

»Verzeihen Sie, Mr. Reffold, daß ich Sie so überfalle«, flüsterte er hastig, »aber ich glaube, daß Sie mir manches zu erzählen haben werden.« Er blinzelte Harry erwartungsvoll an und trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern.

»Wissen Sie bereits etwas?« fragte Reffold erstaunt.

»Was geschehen ist, ja, aber nicht, wie es geschehen ist. Das möchte ich von Ihnen erfahren.«

Reffold hob ratlos die Schultern. »Darüber zerbreche ich mir seit Stunden den Kopf, ohne eine Lösung zu finden.«

»Wenn Sie erlauben, werden wir uns nun zusammen mit der Sache beschäftigen, Mr. Reffold«, meinte Burns sanft und rieb sich umständlich die Nase. »Wir wollen dabei recht gründlich und ganz systematisch vorgehen. Vielleicht ergibt sich dann ein Moment, das Ihnen als unmittelbarem Zuschauer nicht weiter aufgefallen ist, während es mir als Unbeteiligtem einen Anhaltspunkt gibt. Also beginnen Sie bitte von vorn, und vergessen Sie womöglich auch nicht die geringste Kleinigkeit. Vor allem sagen Sie mir auch, worüber gesprochen wurde, das wäre mir sehr wichtig.«

Harry brannte so darauf, dem rätselhaften Vorfall, der sich vor seinen Augen abgespielt hatte, auf den Grund zu kommen, daß ihm die Beihilfe des klugen Burns sehr willkommen war. Er schilderte daher in knappen Worten den Empfang in der Villa, berichtete von dem aufgeregten Wesen, das Flesh schon bei seinem Erscheinen an den Tag gelegt hatte und kam dann auf die Konversation während des Dinners zu sprechen.

Burns, der mit geschlossenen Augen zugehört hatte, unterbrach ihn hier zum erstenmal und ließ sich auf einem Blatt Papier die Sitzordnung skizzieren, die er eine Weile aufmerksam studierte und dann sorgfältig in seinem Taschenbuch verwahrte.

Dann vollendete Reffold seinen Bericht bis zu dem Augenblick, da Flesh plötzlich zu Boden gestürzt war, und der Oberinspektor dachte eine lange Weile nach.

Harry schob ihm eine Kiste mit Zigarren hin, und Burns wählte mit großer Sorgfalt, biß die Spitze ab und begann mächtig zu kauen und zu paffen.

»Die Sache war also so«, unterbrach er endlich das tiefe Schweigen, »Flesh sagte: ›Aber in zwei drei Tagen werde ich wohl in der Lage sein, Ihre Wißbegierde zu befriedigen – falls Sie dies wünschen sollten . . .‹ Und nach einer Weile ist er dann plötzlich zusammengezuckt, vom Tisch zurückgefahren, hat erst bestürzt zu Boden gesehen, dann seinen Fuß betrachtet und befühlt, und wenige Augenblicke später ist die Katastrophe eingetreten. So war es, nicht wahr?«

Harry nickte. »Genau so. Das ist aber auch alles, was ich Ihnen sagen kann.«

Burns schien die Sache nochmals zu überdenken.

»Vielleicht genügt es«, meinte er dann. »Ich glaube sogar, daß wir damit alles wissen, was wir brauchen.«

Er sah Harry, der ein etwas verwundertes Gesicht machte, mit strahlenden Augen an und schmunzelte befriedigt.

»Fragen Sie sich doch nur einmal, warum Flesh alles das getan hat. Jedenfalls deshalb, weil ihm plötzlich etwas Außergewöhnliches zugestoßen ist. Das Zusammenzucken und das Zurückweichen waren offenbar Reflexbewegungen auf irgendeinen Schmerz, dessen Ursache er sich nicht sofort zu erklären wußte. Er muß ihn nach seinem ganzen Verhalten am Fuß verspürt haben, denn er hat ihn erst betrachtet und dann sogar befühlt. Aber die Sache war für ihn so rätselhaft, daß er sich darüber nicht sofort klar wurde. Und als ihm dann endlich die Wahrheit dämmerte, war es bereits zu spät. Verdammt fein gemacht, die Geschichte – und einmal etwas anderes.«

Harry starrte den Oberinspektor einige Sekunden groß an, dann erhob er sich plötzlich und begann hastig, einen seiner großen Koffer aufzuschließen.

Als er zurückkam, legte er wortlos ein kleines Päckchen vor Burns auf den Tisch.

»Was haben Sie da Schönes?« fragte dieser verwundert.

»Wahrscheinlich das, was uns noch fehlt«, meinte Reffold und streifte vorsichtig die Hülle von der Schachtel, die er seinerzeit in Thompsons Tasche gefunden hatte.

Der Detektiv griff interessiert zu, aber Reffold fiel ihm rasch in den Arm.

»Vorsicht, Mr. Burns«, mahnte er. »Sie wissen ja bereits aus eigener Erfahrung, wie behutsam man mit diesen Sachen umgehen muß.« Er brachte eine Pinzette herbei und demonstrierte dem fieberhaft erregten Detektiv das Plättchen mit dem Stachel.

»Großartig«, murmelte Burns und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Sie sind ein Teufelskerl, Mr. Reffold. Entschuldigen Sie vielmals, aber ich muß Ihnen das sagen.«

Er stocherte mit der Pinzette an dem Plättchen herum und wiegte den kleinen Kopf lebhaft hin und her.

»Wenn jemand so ein Ding in die Schuhsohle eingeschraubt hat«, sagte er plötzlich langsam und bedächtig, »möchte ich meine Füße nicht mit ihm unter einen Tisch stecken.«

»Es bleibt also nur noch die Frage: Wer war es?« meinte Harry und richtete seinen Blick gespannt auf den Oberinspektor.

Aber Burns schien an dieser Frage kein sonderliches Interesse zu haben, denn er tat sie mit einem flüchtigen Schulterzucken ab und hatte es plötzlich sehr eilig, sich zu verabschieden.

 

»Wie fühlen Sie sich, Mr. Reffold?« fragte am nächsten Morgen Mrs. Benett, und aus dem Ton ihrer Stimme klang ehrliche Besorgnis.

»Dank Ihrer Fürsorge ausgezeichnet«, sagte Harry und drückte ihr herzlich die Hand.

»Was nützt meine Fürsorge«, schmollte Mrs. Jane, »wenn Sie so unverantwortlich mit Ihrer Gesundheit umgehen. Wie kann man bei einem derartigen Wetter und in solcher Bekleidung nächtlicherweise herumstapfen, wenn man ein Auto zur Verfügung hat? Entschuldigen Sie, Mr. Reffold, aber das war ein seltsamer Einfall.«

»Wie Sie sehen, liebe Mrs. Benett, hat mir die Sache nicht geschadet. Nur meine Garderobe dürfte etwas gelitten haben.«

Mrs. Jane lächelte, und in ihrem Auge strahlte schon wieder ungetrübte, schwärmerische Zärtlichkeit.

»Das kann ich mir denken. Oberst Gregory hatte so nasse Schuhe, daß er sie an den Kamin stellte, und dabei ist einer in die Glut gefallen und vollständig verkohlt.«

Reffold starrte Mrs. Benett wie entgeistert an.

»Erzählen Sie das doch Mr. Burns«, sagte er dann leichthin und sah gleichgültig nach seiner Uhr.

»Das habe ich schon getan«, erwiderte sie. »Die Geschichte ist ja so lustig; und wir haben alle sehr gelacht, als wir sie von Gregorys Kammerdiener erfuhren.«

»Und was meinte Burns?« fragte Harry gespannt.

»Oh, Mr. Burns ist zuweilen so komisch. Er hat mich erst eine Weile ganz verstört angesehen, dann griff er mit beiden Händen an den Kopf und schrie: ›Soll ich denn wirklich noch ganz verrückt werden?‹«

Reffold fand diesen Schmerzensschrei Burns' auch etwas seltsam, aber er hatte augenblicklich weder Zeit noch Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.


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