Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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7

Etwa eine Stunde nach der Ankunft Stones hielt Harry Reffold es an der Zeit, an sein Werk zu gehen. Er hatte wiederholt versucht, durch die auf den Garten gehenden Fenster Einblick in das Arbeitszimmer Milners zu gewinnen, aber die hölzernen Jalousien schlossen so dicht, daß er sich vergeblich bemühte.

Nun mußte er aber über die Situation endlich ins klare kommen und er griff daher nach seiner Werkzeugtasche.

Es gab ein gedämpftes, knackendes Geräusch, als ob einer der dürren Äste zu Boden gefallen und zersplittert wäre.

Dann schob Reffold zwei der untersten Querleisten des Fensters vorsichtig aus ihrem Gefüge und spähte in das Zimmer. Er konnte lediglich einen Teil des Raumes überblicken, aber da trotz angestrengtesten Lauschens auch nicht der leiseste Laut zu vernehmen war, schloß er, daß Milner mit seinem Gast in einem der anstoßenden Zimmer weile.

Harry wartete wohl weitere zehn Minuten, ehe er den Laden ganz öffnete und durch einen geschickten Kunstgriff den Schlußriegel des Fensters von außen zurückschob. Er ging dabei mit einer Ruhe vor, als handele es sich um die einfachste und unschuldigste Sache von der Welt.

Nach einer Weile zog er einen Fensterflügel etwa um Handbreite auf und drückte sich eng an die Mauer, aber drinnen blieb nach wie vor alles still.

Nun hob Reffold vorsichtig den Kopf über die Brüstung, und gleich darauf schwang er sich mit einem lautlosen Sprung ins Zimmer.

Sein erster Blick fiel auf die erleuchtete Schreibtischplatte, auf der noch immer die Juwelen in strahlendem Schimmer lagen, und über sein Gesicht flog der Widerschein eines langersehnten Triumphes.

Mit einem einzigen Satz war er beim Tisch, als er plötzlich stockte und überrascht zu Boden starrte.

Dann fiel sein Blick auf die Flasche, die Gläser, die verschüttete Flüssigkeit und auf die zweite Gestalt, die auf der Ottomane hingestreckt lag, und mit einem schadenfrohen Lächeln griffen seine Hände nach den Steinen.

Sorgfältig, ohne Übereilung Stück für Stück zählend, barg Harry den Schatz wieder in die Beutel, und er fühlte sich so sicher, daß er auch noch den Inhalt des dritten Ledersäckchens einer eingehenden Besichtigung unterzog. Erst als er damit fertig war, steckte er die Kostbarkeiten sorgsam in die Brusttasche. Er war bereits im Begriff, das Zimmer wieder zu verlassen, als er das auf dem Tisch liegende Geld gewahrte. Einen Augenblick überlegte er, dann nahm er die zwölf Tausendpfundnoten Stück für Stück auf, faltete sie und barg sie bei den Steinen.

Als er zum Sprung in den Garten ansetzte, tauchte vor ihm aus dem Dunkel plötzlich ein breites, bärtiges Gesicht auf, aus dem ihm ein Paar überraschter, tückischer Augen entgegenblitzte.

Mit der Schnelligkeit des Gedankens ließ Reffold seine Faust zwischen diese Augen niedersausen und setzte dann über den massigen Körper hinweg, der mit dumpfem Schlag zur Erde stürzte.

Mit weiten Sprüngen flog er durch den Garten, und es schien ihm eine Weile, als ob das Laub hinter ihm unter den Füßen eines Verfolgers raschle.

Schon aber sprang er behende über das Gitter, und im nächsten Augenblick hatte ihn das Dunkel verschlungen.

»Wer war das, Sam? Hast du ihn erkannt?«

Die Stimme des Herrn mit dem roten Gesicht klang heiser vor Erregung, als er von der vergeblichen Verfolgung atemlos zurückkehrte und sich über den Mann beugte, der unter dem offenen Fenster hockte und das Blut zu stillen versuchte, das ihm in mächtigen Strömen über das Gesicht rann.

Sam zischte fürchterliche Flüche und schüttelte mit dem Kopf. George Thompson reckte sich, um in das Zimmer zu sehen, dann erklomm er schwerfällig das Fenster und glitt mit eiligen Schritten zunächst zum Kamin.

Er faßte mit spitzen Fingern ein etwa meterlanges, armstarkes Bambusrohr, das dort lag, und verwahrte es in einem sackartigen Futteral, das er mit großer Vorsicht verschloß.

Dann sah er sich mit raschen Blicken um, und als er die Gestalten Milners und Stones entdeckt hatte, machte er sich eilig daran, ihre Taschen einer gründlichen Durchsuchung zu unterziehen. Seine Mienen wurden dabei immer bestürzter, und er murmelte halblaute Verwünschungen vor sich hin, da er nicht zu finden schien, was er suchte. Er ging wieder zum Schreibtisch durchsuchte alle Laden und spähte mit gehetzten Blicken in alle Winkel.

Endlich sagte er sich aber, daß der Mann, der geflohen war, vielleicht eine ernste Gefahr heraufbeschwören konnte. In einer so verfänglichen Situation wie der augenblicklichen wollte er um keinen Preis gefaßt werden.

Schwerfällig, aber eilig, kletterte er wieder in den Garten.

Sein Genosse hatte sich mittlerweile etwas erholt.

»Gott verdamm mich, wir sind zu spät gekommen«, tuschelte er ihm verzweifelt zu.

»Pünktlich um halb drei, wie man es uns befohlen hat«, knurrte der Bärtige unwirsch zurück.

»Aber der andere scheint uns zuvorgekommen zu sein. Das kann uns den Kopf kosten, denn man wird uns nicht glauben.«

George Thompson wischte sich den Schweiß von der Stirn und verfluchte den Tag, der ihm Mißgeschick über Mißgeschick gebracht hatte.

 

Es war Nick, der am nächsten Morgen das Unglück entdeckte und mit seinem Geschrei nicht nur das Haus, sondern auch die Nachbarschaft alarmierte.

Er war mit brummenden Schädel im Garten spazierengegangen, und dabei war ihm das aus den Fugen gegangene Fenster des Arbeitszimmers aufgefallen, das er erst eine ganze Weile kopfschüttelnd betrachtet hatte, ehe ihm die Sache verdächtig erschienen war.

Dann allerdings war er mit einem Satz im Zimmer, aber auch ebenso rasch wieder draußen gewesen und, von Grauen und Entsetzen gejagt, durch die Hintertür ins Haus gestürzt.

Sein Jammern hatte Ann Learner bereits auf die Mitte der Treppe geführt, als er atemlos die Stufen hinauftaumelte, und die verstörte Miene des Burschen sagte ihr, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte.

Unwillkürlich und blitzschnell spannen ihre Gedanken von der Erscheinung im Garten, die ihr eine Nacht qualvoller Träume bereitet hatte, weiter bis zu der zitternden Gestalt vor ihr, die offenbar eine Schreckensbotschaft künden wollte, aber nur schluchzend lallen konnte – und mußte nach dem Geländer fassen, um sich aufrecht zu halten.

Dann aber raffte sie sich auf und folgte Nick, der schon wieder unten war und durch das Eßzimmer rannte.

Auch Mag kam neugierig gelaufen, und sogar Mrs. Emily war der Schreck so in die geschwollenen Füße gefahren, daß diese ihre gewichtige Herrin ziemlich flink herbeizutragen vermochten.

Nick versuchte mit allen Kräften, die Tür zum Arbeitszimmer aufzubrechen.

»Mr. Milner liegt drinnen und noch ein Herr«, keuchte er. »Und sie sind nicht nur betrunken, denn sie sehen furchtbar aus . . . Und das Fenster war offen . . .«

Über Ann Learner kam plötzlich eine entschlossene Ruhe. Sie gebot den kreischenden Frauen Schweigen und schickte Nick in den Garten, damit er die von innen verschlossene Tür des Zimmers öffne. Der Bursche sträubte sich entsetzt, aber unter Anns strengem Blick schlich er davon, um wenige Augenblicke später durch die geöffnete Tür wieder herauszustürzen.

Ann zögerte einige Sekunden, dann betrat sie den Raum.

Eine seelische Erschütterung konnte ihr selbst das Schrecklichste nicht bringen, denn es gab auch nicht das winzigste herzlichere Gefühl, das sie mit Milner verbunden hätte. Nur das Grauen machte ihr diesen Augenblick so schwer, aber sie hielt sich tapfer. Sie brachte es sogar über sich, den starren, verkrampften Körper Milners zu befühlen. Dann blickte sie dem andern in das fahle, verzerrte Gesicht, und es wunderte sie, einen Fremden zu sehen, den sie unter den Gästen des gestrigen Abends nicht bemerkt hatte.

Sie verließ das Zimmer rascher, als sie es betreten hatte, schloß die Tür ab und steckte den Schlüssel zu sich.

Hierauf rief sie Dr. Warner an und bat ihn, sofort zu kommen. Auf die erregten Fragen, die aus dem Telefon klangen, antwortete sie mit seltsam ruhiger Stimme, und nur ihre Fußspitzen wippten nervös und ungeduldig.

Draußen hatte sich bereits eine Menge Neugieriger angesammelt, denn das Gerücht, daß im Kastanienhaus etwas geschehen sei, hatte sich wie ein Lauffeuer durch ganz Newchurch verbreitet. Dr. Warner, der in unmittelbarer Nähe wohnte, ließ nicht lange auf sich warten. Er stürzte mit eiligen Schritten ins Haus, und Ann ließ ihn sofort ins Arbeitszimmer ein.

Als er wieder herauskam, verriet seine Miene eine gewisse Ratlosigkeit, und er beantwortete den unruhig fragenden Blick des jungen Mädchens mit einem verlegenen Achselzucken.

»Leider ist da nichts mehr zu machen, Miss Learner. Der Tod muß schon vor einigen Stunden eingetreten sein.« Er räusperte sich und putzte sehr umständlich seine Brille. »Sie wissen vielleicht, daß ich gestern abend mit hier war?« fragte er nach einer kleinen Weile. »Er sah frisch aus wie immer und war auch bei bester Laune. Eigentlich ist mir die Sache nicht so recht klar.«

Ann sah ihn gespannt und forschend an, und es war, als ob sie auf etwas warte, das nun kommen mußte.

Aber der Arzt schwieg, und Miß Learner spielte mit ihren zarten, schlanken Fingern, daß sie in den Gelenken krachten.

»Was glauben Sie also, daß die Ursache war, Doktor Warner?« brach sie plötzlich das Schweigen, und er geriet unter dem eigenartigen Blick, den er auf sich ruhen fühlte, sichtlich in Verlegenheit.

»Ja, die Ursache, Miss Ann . . .! Das fragt sich für Sie sehr leicht, ist aber für unsereinen nicht so ohne weiteres zu beantworten. Ich nehme an, daß es ein Herzschlag war, obwohl einige Erscheinungen da sind, mit denen ich nichts Rechtes anzufangen weiß. Genaueres wird natürlich erst die Obduktion ergeben. Aber ich glaube, ich werde recht behalten. Sie wissen ja, daß Milner leider etwas zuviel getrunken hat. Ich habe ihn oft genug gewarnt . . .«

»Sie meinen also, daß es so etwas war? Nichts anderes?« Die Frage kam stockend über Anns Lippen, und ihr seltsamer Ton ließ ihn verwundert aufsehen.

»Was sollte es denn sonst gewesen sein?« meinte er betroffen. »Denken Sie etwa an Selbstmord oder gar an etwas noch Schlimmeres? Das ist Unsinn, Miß Learner . . .«

Das Mädchen schüttelte nachdrücklich den blonden Kopf.

»Wenn es sich nur um Onkel Frank handelte, wäre die Sache nicht so auffallend. Aber da ist noch der andere . . .«

Dr. Warner sah sich immer mehr in die Enge getrieben, denn dasselbe hatte er sich selbst auch schon gesagt, war aber trotzdem zu keinem Befund gekommen, der eine andere Annahme gerechtfertigt hätte.

»Nur einer jener seltsamen Zufälle, Miss Learner, wie sie zuweilen eben vorkommen«, meinte er achselzuckend. »Ich gebe ja zu, daß die Sache höchst ungewöhnlich ist, aber ich kann absolut nichts finden. Und wenn ich auch gerade keine Leuchte der medizinischen Wissenschaft bin, so habe ich doch eine dreißigjährige Praxis hinter mir, in der ich manches gesehen und gelernt habe.«

Ann merkte an seinem etwas gereizten Ton, daß er nervös zu werden begann, und das konnte sie in ihrem Argwohn nur bestärken. Aber sie sprach nicht mehr davon, obwohl dieser Zustand der Ungewißheit sie in einer Aufregung hielt, die sie nur unter Aufbietung aller Kräfte zu unterdrücken vermochte. Als Dr. Warner die Polizei anrief, schloß sie die Augen, und ihre Hände umfaßten mit krampfhaftem Druck die Lehne des Stuhls.

*

Nach seinem vergnügten Gesicht zu schließen, schien Harry Reffold einen sehr guten Tag zu haben.

Er war ziemlich spät aufgestanden, hatte ein Bad genommen und gefrühstückt und war nun im Begriff, sehr sorgfältig Toilette zu machen. Er wählte eben mit großer Umständlichkeit eine Krawatte, als es an seiner Tür klopfte.

Er hatte noch nicht Zeit gefunden, zu antworten, als auch schon Mrs. Benett hereinschlüpfte. Sie schien in furchtbarer Erregung zu sein. Ihre schwarzen Augen flackerten unstet.

Reffold sah sie verwundert an.

»Bitte, Mrs. Benett?« fragte er teilnehmend. »Es ist Ihnen doch hoffentlich nichts Unangenehmes widerfahren?«

Seine Worte klangen ehrlich besorgt, und Mrs. Jane versuchte dankbar zu lächeln, aber es gelang ihr nicht so recht. Plötzlich begann sie so zu zittern, daß Harry sie fürsorglich zu einem Stuhl geleitete.

»Man hat zwei Tote gefunden, Mr. Reffold . . .«, stieß sie gepreßt hervor, und ihre Blicke irrten über den Teppich.

Harry sah seine Hauswirtin immer bedenklicher an.

Mrs. Benett duckte sich mit einem scheuen Augenaufschlag zusammen. »Mr. Milner und noch einen Herrn . . .«

Sie sagte es so leise, daß es kaum zu verstehen war, aber in Reffolds Ohren klang es wie ein Donnerschlag. Er starrte die Frau fassungslos an, dann aber war er mit einem Satz bei ihr und faßte sie hart an der Schulter.

»Was sagen Sie da? Mr. Milner . . .?«

Sie fuhr erschreckt auf und legte ihm unwillkürlich die Hand auf den Mund. »Nicht so laut, Mr. Reffold«, warnte sie beschwörend. »Im Haus weiß noch niemand davon. Ich habe es eben erst telefonisch erfahren – und . . . und . . . ich dachte mir, daß es Sie vielleicht interessieren würde.« Sie wandte den Kopf verlegen zur Seite, und es war, als ob sie zu der Wand spräche. »Sie sind ja seit gestern abend nicht ausgewesen, und ich habe noch nachts zu den Mädchen gesagt, daß Sie sich wahrscheinlich nicht wohl fühlten, weil Sie so bald zur Ruhe gegangen seien . . .«

Harry Reffold verstand sie mit einem Male, und er tat etwas, was Mrs. Jane Benett in diesem Augenblick nie erwartet hätte und was ihr den schönsten Tag ihres Lebens schuf: er nahm ihre Hand, schüttelte sie sehr, sehr herzlich und drückte einen Kuß darauf.

Die üppige Mrs. Jane wußte nicht, wie sie schließlich aus dem Zimmer gekommen war, aber plötzlich stand sie auf dem Korridor und versuchte, ihr vor Angst und Glückseligkeit pochendes Herz zu beruhigen. Sie hatte sich diese Szene viel dramatischer vorgestellt, und sie bewunderte Reffold mehr denn je. Mochte er was immer auf dem Kerbholz haben, er war unbedingt ein Gentleman und verdiente, daß man sich seiner annahm. Was an ihr lag, sollte geschehen, und es sollten ihm auch aus dieser dummen Geschichte gewiß keine Unannehmlichkeiten erwachsen.

Mit der guten Laune Reffolds war es allerdings vorbei. Noch wußte er zwar nichts Näheres, aber es war nicht ausgeschlossen, daß Mrs. Benetts geheimnisvolle Mitteilung auf Wahrheit beruhte, und dann hatte er in der verflossenen Nacht in der freudigen Erregung über den Erfolg seines Unternehmens eine verhängnisvolle Unterlassung begangen.

Er rannte mit verkniffenem Gesicht umher und war wütend, daß er sich nicht anders verhalten hatte. Aber der Wunsch, seine kostbare Beute so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen, hatte ihm seine kühle Überlegenheit geraubt, und wenn Frank Milner tatsächlich das Opfer eines Verbrechens geworden war, so trug er in gewissem Maße auch mit Schuld daran.

Mit einem Male aber kam ihm das wüste Bild in Erinnerung, das er in dem Zimmer vorgefunden hatte, und er sah vor allem die eigenartig entstellten Züge des Mannes auf der Ottomane vor sich, die ihm nun plötzlich etwas ganz anderes sagten, als in dem Augenblick, da er sie flüchtig betrachtet hatte. Er war nun überzeugt, daß die Tragödie sich bereits abgespielt hatte, als er in das Zimmer eingedrungen war, und er zog aus gewissen Umständen eine Folgerung, die ihn sofort seine Ruhe und Tatkraft wiedergewinnen ließ.

In wenigen Minuten war er angekleidet, und gleich darauf stürzte er aus dem Haus, verfolgt von den besorgten Blicken Mrs. Benetts, die inbrünstig betete, daß er keine Unvorsichtigkeit begehen möge.

Als Reffold auf dem Postamt hastig eine etwas komplizierte Londoner Nummer verlangte, schüttelte der Beamte verwundert den Kopf und nahm dann ein dickleibiges Verzeichnis zur Hand, in dem er bedächtig zu suchen begann.

Harry sah ihm eine Weile zu, dann wurde er ungeduldig. »Ich glaube, daß Sie Ihr nützliches Buch diesmal im Stich lassen wird. Melden Sie die Nummer nur ruhig an, ich garantiere Ihnen, daß sie zu erreichen sein wird.«

Der Beamte warf den Band auf den Tisch und zuckte gekränkt mit den Achseln, kam aber der Aufforderung nach.

Er hatte die Londoner Zentrale kaum angerufen, als zu seiner größten Überraschung die Verbindung auch schon hergestellt war.

Reffold blieb ziemlich lange in der Zelle, und als er wieder herauskam, sah er zunächst nach der Uhr. Es war einige Minuten vor zehn und er rechnete nach, daß er nun ungefähr bis ein Uhr Zeit haben würde, sich nach verschiedenen Dingen umzusehen, über die er bis dahin im klaren sein wollte.

Als er den Weg erreichte, an dem Milners Haus lag, sah er schon von weitem eine dichte Menschenmenge, die längs des Gitters stand und in den Garten starrte, als ob dort etwas Besonderes zu sehen wäre. Der Sonntagvormittag hatte alle Spaziergänger und Kirchenbesucher zusammengeführt, und man sah den guten Leuten an, welches Grauen ihnen das geheimnisvolle Geschehen einflößte.

Harry drängte sich mitten durch die Menge, aber so aufmerksam er auch hierhin und dorthin hörte, etwas Zuverlässiges konnte er aus dem Schwall von phantastischen Gerüchten nicht erfahren.

Er war fast schon bis zur Haustür gelangt, als sein Blick zufällig auf die gegenüberliegende Seite des Weges fiel, wo sich ein Bauplatz befand, der augenblicklich als Lagerstätte für verschiedene Materialien und Gerüste diente. Auf einem umgestürzten Karren saß dort ein Arbeiter, der sich das Warten auf die Dinge, die da kommen würden, dadurch verkürzte, daß er gemächlich sein Frühstück verzehrte.

Als der Mann plötzlich aufblickte, konnte Reffold nur mit Mühe eine Bewegung der Überraschung unterdrücken. Der andere sah ihn gleichgültig an, und Harry betrachtete ihn ebenso interesselos, aber er hatte dieses tückische Gesicht, das von einem verwilderten Bart umrahmt war, sofort wiedererkannt; und er hatte zu seinem besonderen Vergnügen auch noch bemerkt, daß unter der tief ins Gesicht gezogenen Mütze bis über die Backenknochen ein blutrot gefärbter Fleck lief.

Einen Augenblick dachte Reffold daran, irgendwo im Gedränge unterzutauchen und den Bärtigen nicht mehr aus den Augen zu lassen, dann aber überlegte er es sich anders. Er sagte sich, daß der Mann seinen Posten wohl nicht so bald verlassen würde, da er sich ja offenbar vollkommen sicher fühlte und da ihm sehr daran gelegen schien, über das, was hier geschah, auf dem laufenden zu bleiben.

Vor dem Hause standen zwei Polizisten mit ungeheuer wichtigen Amtsmienen, und als Harry die wenigen Stufen hinaufstieg, schienen sie unschlüssig zu sein, ob sie ihn passieren lassen sollten. Er zog aber schon an der alten Glocke und sah so gleichgültig über sie hinweg, daß sie ihn für einen Angehörigen des Hauses, wenn nicht gar für eine verkappte Amtsperson hielten und daher keinen Einspruch erhoben.

Im Arbeitszimmer weilte seit mehr als einer halben Stunde die Mordkommission, mit der auch ein zweiter Arzt gekommen war, aber die Herren wußten nicht recht, was sie mit der mysteriösen Geschichte anfangen sollten. Die zwei Toten waren allerdings da, aber nichts deutete darauf hin, daß sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren.

Dr. Warner entwickelte etwas unsicher, aber dafür mit um so größerer Beredsamkeit seine Ansichten von dem Herzschlag und dem Zufall, und sein Kollege von der Polizei nickte unaufhörlich Zustimmung, weil er in Verlegenheit gewesen wäre, etwas anderes vorzubringen. Auch ihm erschien ja die Sache nicht so recht geheuer, er hatte schon alle möglichen Symptome, die er kannte, zum Vergleich herangezogen, und keines wollte auf diesen eigenartigen Fall passen.

Auch der Kommissar von Newchurch war unbedingt für die Ansicht der beiden Ärzte, denn erstens hatte er bisher trotz eifrigsten Suchens nicht das geringste finden können, das auf ein Verbrechen hätte schließen lassen, und zweitens war er ein älterer Herr, der seine Ruhe liebte und die Möglichkeit nicht auszudenken vermochte, daß sein beschauliches Dasein plötzlich durch eine richtige Kriminalsache gestört werden könnte.

Die Herren der Kommission waren also auf dem besten Wege, sich zu einigen. Sie schickten sich bereits an, an die Abfassung des Protokolls zu gehen, als plötzlich das Telefon zu schrillen begann.

Der Kommissar griff würdevoll nach dem Hörer und nannte selbstbewußt seinen Namen, aber mit einem Male knickte er zusammen, bekam ein höchst devotes Gesicht und stammelte ein über das andere Mal: »Jawohl, Sir . . . Sehr wohl, Sir . . . All right, Sir . . .«

Die Stimme im Telefon, die sehr kurz und bestimmt geklungen hatte, war schon längst nicht mehr zu hören, als der Kommissar noch immer Verbeugungen machte, bis ihm endlich zum Bewußtsein kam, daß der große Moment, den er eben erlebt hatte, bereits zu Ende war.

Er legte wie im Traum den Hörer auf, trocknete sich die Stirn und sah die beiden Ärzte und den Schreiber mit der Miene eines Mannes an, dem eben eine ganz außerordentliche Ehrung zuteil geworden war.

»Meine Herren, ich danke Ihnen«, sagte er dann mit Würde. »Unsere Aufgabe hier ist beendet. Ich habe soeben mit Sir Wilford Roberts von Scotland Yard gesprochen, der mir mitgeteilt hat, daß dieser Fall von seinen Beamten bearbeitet werden wird. Ich finde das sehr vernünftig, denn wozu hätten wir sonst Scotland Yard.«

Damit raffte er eiligst seine Akten zusammen, schob die Mitglieder der Kommission zur Tür hinaus, sperrte das Zimmer ab und steckte den Schlüssel zu sich. Für ihn war der Fall damit, Gott sei Dank, so gut wie erledigt.

 

Als die Polizei im Hause erschienen war, hatte sich Ann Learner in ihr Zimmer zurückgezogen. Die Aufregungen des gestrigen Tages und jene der letzten Stunden hatten sie ziemlich mitgenommen, und sie vermochte auch nicht einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie sah dem, was kommen würde, völlig teilnahmslos entgegen, und ihr ganzes Sinnen kreiste, so sehr sie auch dagegen ankämpfte, ausschließlich um die Persönlichkeit Harry Reffolds, die für sie plötzlich zu einem Erlebnis von empfindlichsten Erschütterungen geworden war.

An Reffold hatte ihr gefallen, daß er so ganz anders war als die anderen und daß er auch nie ein Wort fallenließ, das den Versuch einer vertraulichen Annäherung oder eine plumpe Huldigung bedeutet hätte. Das hatte ihn ihr so sympathisch gemacht, daß ihr die Plauderstündchen während der Bahnfahrt fast zu einem Herzensbedürfnis geworden waren, so daß sie eine arge Enttäuschung empfand, wenn er das eine oder das andere Mal ausblieb. Allerdings gestand sie sich dies nicht ein, sondern rechtfertigte ihr Interesse damit, daß diese täglichen Fahrten ohne Unterhaltung einfach entsetzlich langweilig gewesen wären und daß sie einen angenehmeren und harmloseren Gesellschafter als Reffold kaum hätte finden können. Und damit er nur ja nie auf einen anderen Gedanken käme, behandelte sie ihn mit einer geradezu aufreizenden Kälte, auf die er allerdings immer mit jenem eigentümlichen Lächeln antwortete, das sie so unverschämt fand.

Nun hatte aber der gestrige Tag dieser Komödie ein jähes Ende bereitet, und es war ihr zu ihrem Entsetzen klargeworden, daß Reffold ihr unendlich mehr war, als sie sich bisher hatte eingestehen wollen. In dem Augenblick, da ihn sein eigenartiges Verhalten zu einer Persönlichkeit stempelte, mit der sie nichts gemein haben durfte, hatte ihr Gefühl für ihn alle künstlich aufgetürmten Schranken durchbrochen, und sie war sich in schmerzvoller Verzweiflung darüber klargeworden, daß diesem Mann das erste innige Empfinden ihres Herzens gehörte.

Sie sah kaum auf, als Nick, übernächtig von seinem gestrigen Rausch und bleich von seinem heutigen Schrecken, ins Zimmer polterte.

»Der Herr möchte Miss Learner sprechen«, sagte er vertraulich und steckte ihr eine Karte in die Hand. »Er sitzt unten im Eßzimmer.«

Ann nahm die Karte gleichgültig entgegen, und es vergingen einige Sekunden, bevor sie überhaupt einen Blick darauf warf. Als sie aber den Namen endlich las, vermochte sie ihn nicht zu fassen. Sie starrte mit leerem Blick auf das weiße Blatt und drehte es mechanisch zwischen den Fingern: ›Harry Reffold‹.

Nick beobachtete seine Herrin aufmerksam von der Seite, und da er ihre Teilnahmslosigkeit sah, wollte er sich ihr angenehm machen. »Soll ich ihn wieder wegschicken?« meinte er dienstbeflissen.

Ann Learner sah auf und überlegte. Daß er kommen würde, war das letzte, was sie in dieser Stunde erwartet hatte, und doch paßte es so ganz zu dem Bild, das sie sich von ihm hatte machen müssen. Harry Reffold war offenbar ein Mann, der keine kleinlichen Bedenken und Rücksichten zu kennen schien und der unbeirrt den Weg ging, der seinen Zwecken diente.

Sie war neugierig, weshalb er gekommen war. Ging seine Unverfrorenheit so weit, daß er nur erschien, um seine Teilnahme auszudrücken, oder verfolgte er mit seinem Kommen noch eine andere Absicht?

Es reizte sie plötzlich, ihm gegenüberzutreten und ihm mit ihrem Blick zu sagen, daß sie ihn durchschaut habe und grenzenlos verachte.

Sie war auf einmal so ruhig geworden, wie sie es in ihrem Leben nie gewesen, und Nick duckte sich ängstlich, als sie ihn mit seltsam kalten Augen ansah.

»Sage dem Herrn, daß ich gleich kommen werde . . .«

Als Ann eintrat, kam Harry ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. »Ich habe mit großer Bestürzung von dem traurigen Vorfall in Ihrem Hause gehört«, sagte er, »und kann mir denken, daß Sie sehr schwere Stunden zu durchleben haben. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise dienlich sein kann, Miß Learner . . .«

Er hielt ihr noch immer die Hand hin, und Ann sah in seine grauen Augen, in denen sich ehrliche Teilnahme spiegelte. Aber sie machte keine Miene, die Hand zu ergreifen, sondern blickte ihn nur mit einer stummen, herausfordernden Frage an.

Harry Reffold gewahrte zum ersten Male, wie hübsch sie war, und er machte sich Vorwürfe, daß er dieses entzückende Mädchen bisher fast nur als Mittel für seine Zwecke betrachtet hatte. Seine ausgestreckte Hand sank langsam herab, und es überkam ihn zum ersten Mal in seinem Leben ein Gefühl der Verlegenheit, dessen er nicht Herr zu werden vermochte.

Ann ließ ihren Blick nicht von ihm. Sie suchte in dem vornehmen Gesicht wenigstens einen Zug zu finden, der zu dem Bild gepaßt hätte, das ihr die letzten Stunden aufgedrängt hatten. Aber da war nichts von bösen Leidenschaften, nichts von Verschlagenheit, Brutalität und Tücke, sondern nur Geradheit und ein etwas stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein. Anns Überzeugung wäre wohl wieder ins Wanken geraten, wenn nicht das gewesen wäre, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Die ehrliche, gewinnende Maske konnte sie nicht mehr täuschen, denn sie wußte, was sich hinter ihr verbarg.

Harry wurde es schwer, unter diesen Blicken und bei diesem eisigen Schweigen seine Haltung wiederzugewinnen, aber schließlich spielte doch wieder jenes feine Lächeln um seine Mundwinkel, das sie früher so riesig nett gefunden hatte.

»Ich sehe, Miss Learner«, sagte er, »daß ich Ihnen nichts weniger als willkommen bin. Sie übersehen meine Hand, und Sie haben nicht einmal ein Wort für mich. Das ist, verzeihen Sie, wenig nett von Ihnen. Ich dachte doch, daß wir so etwas wie gute Kameraden wären . . .«

Dem hübschen Mädchen wurde es bei dem Klang seiner Stimme heiß und kalt, und sie fühlte, daß sie nun sprechen mußte, wenn nicht das Furchtbare geschehen sollte, daß sie diesem Manne trotz allem unwiderruflich verfiel.

»Mr. Reffold«, erwiderte sie kalt, und ihre schlanke Gestalt reckte sich noch höher, »Sie haben nicht das Recht, sich zu beklagen, denn Sie durften keinen anderen Empfang erwarten. Ich habe Ihnen bereits gestern deutlich zu verstehen gegeben, daß ich Ihre Gesellschaft nicht mehr wünsche, weil . . .«

»Weil Sie mit einem Kerl, der sich in den Taschen anderer Leute zu schaffen macht, nichts zu tun haben wollen . . .?« fiel er fragend ein und hatte schon wieder sein unverschämtes Lächeln. »Liebe Miss Learner«, er sagte das mit großem Nachdruck, und das »liebe« gab Ann einen empfindlichen Stich ins Herz, »es ist mir furchtbar peinlich, daß Sie von dieser meiner schlechten Gewohnheit Kenntnis erhalten haben, aber glauben Sie mir, ich konnte mir in jenem Augenblick nicht anders helfen. Ich habe nun einmal hie und da solche Anwandlungen, aber deshalb kann man ruhig mit mir verkehren. Meine Freunde und näheren Bekannten pflege ich prinzipiell zu verschonen. Wenn Sie also nur deshalb so schlecht auf mich zu sprechen sind, so läßt sich die Sache sicherlich noch einrenken. Dafür erzähle ich Ihnen dann bei Gelegenheit einmal mehr davon.«

Ann war über diesen Ton so außer sich, daß sie den Mann nur wortlos anstarren konnte, und sie war nun überzeugt, daß die Verworfenheit dieses Menschen und sein Zynismus keine Grenzen kannten.

Mit einem Schritt stand sie plötzlich dicht vor ihm, und ihre Augen bohrten sich förmlich in die seinen.

»Eine weitere Ihrer schlechten Gewohnheiten ist anscheinend die, nächtlicherweile in fremden Gärten herumzustreichen«, sagte sie schneidend. »Geschehen dann immer solche Dinge, wie sie sich heute nacht in diesem Hause ereignet haben . . .?«

Zum ersten Male hatte sie die Genugtuung, diesen überlegenen Mann für den Bruchteil einer Sekunde außer Fassung geraten zu sehen.

Er starrte sie betroffen an, und sie merkte, wie seine starken Zähne sich in die Unterlippe gruben.

Aber dann hatte er sich sofort wieder in der Gewalt, und es klang sehr kühl und gelassen, als er mit hochgezogenen Brauen fragte: »Was wollen Sie damit sagen, Miss Learner?«

Ann war entschlossen, ihn nun vollends in die Enge zu treiben.

»Daß ich Sie gestern nacht beobachtet habe, wie Sie um das Haus schlichen«, schrie sie ihm verzweifelt ins Gesicht. »Und daß man heute morgen Onkel Frank und einen anderen tot aufgefunden hat . . .«

Er blickte sie einige Sekunden mit wirklicher Bestürzung an und wiegte dann bedenklich den Kopf.

»Das ist natürlich eine äußerst wichtige Beobachtung, Miss Learner«, sagte er mit Nachdruck. »Ich nehme an, daß Sie die Polizei davon in Kenntnis gesetzt haben und daß es also für mich wahrscheinlich einige sehr unliebsame Scherereien geben wird. Aber das macht weiter nichts.«

Er griff nach seinem Hut, machte Ann eine sehr korrekte Verbeugung und lächelte sie schon wieder an.

»Nichtsdestoweniger hoffe ich, daß wir gute Freunde bleiben werden, Miss Learner . . .«

Das junge Mädchen starrte auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte, und es verging eine lange Minute, ehe sie sich zu fassen vermochte.


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