Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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25

Sooft Lady Laura Crowford von ihrem in Buckingham gelegenen Landsitz nach dem benachbarten Drayton kam, um dort irgendwelche Besorgungen zu machen, pflegte sie in Bows Palace-Hotel je nach der Tageszeit das zweite Frühstück oder den Tee zu nehmen.

Sie war eine große, hagere Frau, die ihren bescheidenen Gatten um einen ganzen Kopf, aber auch stattlichere Männer immer noch um einige Zentimeter überragte. Sie trug stets ein Hörrohr in der Linken und einen Stock in der Rechten.

Jetzt saß sie beim Lunch, dem sie alle Ehre antat, aber so ganz schien sie doch nicht bei der Sache zu sein, denn von Zeit zu Zeit legte sie das Besteck nieder, sah nach der unförmigen Armbanduhr an ihrem knochigen Handgelenk und begann dann ungeduldig mit dem Stock zu klopfen.

Das war dann ein übles Zeichen, und Mrs. Carringhton, die ihr Gesellschaft leistete, begann unruhig zu werden.

»Möchtest du aufbrechen, Tante Laura?« fragte sie eifrig und machte Anstalten, sich zu erheben.

Lady Laura schüttelte energisch ihren Kopf und leerte kritisch prüfend das dritte Glas Sherry. Es gab Augenblicke, da sie ohne Hörrohr ausgezeichnet hörte, während sie wiederum zuweilen absolut nichts verstand, auch wenn man noch so laut in das Rohr sprach.

In diesem Augenblick geschah etwas, was Mrs. Cecily zuerst erbleichen, dann erröten und schließlich in einen Zustand förmlicher Erstarrung geraten ließ.

Mr. Bow selbst gab sich die Ehre, den Fremden, der nach Lady Laura Crowford gefragt hatte, in den Speisesaal zu geleiten.

Dr. Shipley hatte kaum die Schwelle übertreten, als sein Fuß plötzlich stockte, denn der Kopf von Lady Laura war stoßartig herumgefahren, und es war Shipley, als ob die graugrünen Augen über der kühnen Nase einfach durch ihn hindurch blickten.

Er hatte dabei ein etwas unheimliches Gefühl und fand es angezeigt, Lady Laura schon auf diese Entfernung durch eine respektvolle Verbeugung zu begrüßen.

Aber Lady Laura sah ihn einfach nicht, und sie sah ihn auch noch nicht, als er nach einigen weiteren Schritten die Begrüßung noch respektvoller wiederholte.

Erst als er bereits am Tisch stand und sich zum dritten Male verneigte, hielt sie ihm zwei Finger der Linken hin, während sie mit den anderen das Hörrohr krampfhaft umklammerte.

»Ach, Doktor Shipley«, sagte sie dabei gedehnt und nichts weniger als freundlich, »da schau an. Na, setzen Sie sich meinetwegen und lassen Sie hören, was ich für Sie machen kann.«

Dr. Shipley fand die Situation äußerst unerquicklich. Vor allem mußte er sich nun wieder einige Male vergeblich vor Mrs. Cicely verbeugen, bevor diese in tödlichster Verlegenheit die Augen aufschlug und es bemerkte, und dann wußte er nicht, was er auf die Frage von Lady Laura antworten sollte. Er hatte sie gestern telegrafisch um eine Unterredung gebieten, und sie hatte ihm geantwortet: »Bin morgen zwei Uhr Palace-Hotel Drayton.« Daß er sie aber in Gesellschaft von Mrs. Cicely antreffen würde, hatte er nicht erwartet.

»Ich wollte wieder einmal nach Ihrem Befinden sehen, Mylady«, erwiderte er ausweichend und begann nervös mit dem Geschirr auf dem Tisch herumzuschieben.

Lady Laura ließ rasch das Hörrohr sinken, klopfte ihm damit sanft auf die Hände und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Lassen Sie das, Doktor. Wenn ich will, daß der Tisch in Ordnung gebracht wird, werde ich den Kellner rufen. Und sagen Sie mir nicht, daß Sie nach meinem Befinden sehen wollten. Das paßt mir nicht. Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, sonst bekomme ich wieder meine Zustände, und dann werden Sie nichts zu lachen haben.«

Dr. Shipley hatte eigentlich nicht so recht verstanden, was ihm Lady Laura gesagt hatte, denn er mußte immer wieder Mrs. Cicely betrachten und sich den Kopf zerbrechen, wie er mit ihr möglichst glatt und harmlos ins Gespräch kommen könnte.

»Sie haben sich glänzend erholt, Mrs. Carringhton«, sagte er endlich. »Das ist mir eine große Beruhigung, denn . . .« – er geriet aus dem Konzept, da Mrs. Cicely die Augen aufschlug und ihn ansah – »jawohl . . . nämlich . . . ich habe mir die schwersten Vorwürfe gemacht, daß Sie derartigen Aufregungen ausgesetzt waren.«

»Oh«, erwiderte Mrs. Cicely sanft und lächelte dabei ein wenig, »es war ja nicht so schlimm. Nur . . .«

Sie kam aber nicht dazu, weiterzusprechen, denn Lady Laura, die rasch das Hörrohr ins Ohr gesteckt und hurtig nach links und rechts gedreht hatte, ergriff bereits wieder das Wort.

»Hat er dir auch erzählt, daß er gekommen ist, um nach deinem Befinden zu sehen?« trompetete sie. »Sehr aufmerksam von ihm, nicht? – Na, Doktor, das werde ich Ihnen nicht vergessen«, versicherte sie Shipley und trommelte ihm mit dem Hörrohr bekräftigend auf den Arm. »Dafür schicke ich Ihnen eine neue Hausdame, wenn ich erst Zeit habe, mich darum zu kümmern. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, Cicely unter die Haube zu bringen. Sie müssen deshalb kein so verdattertes Gesicht machen, Doktor, denn so etwas geht bei mir rasch. In drei Wochen habe ich Cicely verheiratet, und eine Woche darauf haben Sie Ihre neue Hausdame. Ich habe schon andere Dinge fertiggebracht.«

Lady Laura verstummte mit einem Mal, und ihre Augen funkelten nach der Entreetür, in der eben, groß, frisch und wohlgemut, Harry Reffold erschienen war.

Der Anblick schien für sie etwas ungemein Aufreizendes zu haben, denn ihre Nase hob sich wie ein Schnabel, der zum Stoß ansetzt, und man merkte, wie ihre Hände Hörrohr und Stock kampfbereit umklammerten.

»Oh, dieser Schlingel«, zischte sie empört, »dieser Landstreicher . . . Na, warte, mein Junge . . .«

Sie kniff die Lippen zusammen und begann mit dem Stock einen Wirbel zu schlagen, daß es im ganzen Saal widerhallte und Harry erstaunt herumfuhr.

Lady Laura sah ihm höhnisch in das entsetzte Gesicht. »Eine Überraschung, was, Verehrtester? Und keine angenehme, he?«

»Nein«, schrie Harry und zeigte lachend seine Zähne, »angenehme Überraschungen sehen anders aus.«

»Werd Er nicht unverschämt«, ereiferte sich Lady Laura, die plötzlich ausgezeichnet zu hören schien. »Setz Er sich gefälligst da her . . .«

Reffold winkte höflich, aber auch sehr energisch ab.

»Danke, Tante Laura. Heute nicht. Vielleicht ein andermal.« Er nickte ihr liebenswürdig zu und verschwand.

»Daß dich der . . .«, stieß Lady Laura empört hervor und erhob sich mit einem Ungestüm, daß Geschirr und Gläser bedenklich klirrten. »So haben wir nicht gewettet, mein Junge . . .«

Sie schoß mit Riesenschritten hinter Reffold drein, und während ihr Stock kräftig auf den Boden stieß, schwang ihr Hörrohr kriegerisch durch die Luft.

»Fahr los!« rief Reffold dem erstaunten Bob zu, indem er die Hotelstufen hinabflog. »Wir müssen unser Steak anderswo essen – hier würde es uns versalzen werden.«

Lady Laura schwang ihren Stock drohend hinter der dichten Staubwolke, die der Wagen zurückließ, und sie schien an dieser Beschäftigung solches Vergnügen zu finden, daß sie sie auch noch fortsetzte, als die Staubwolke sich schon längst verzogen hatte.

»Wer war der Herr?« fragte im Speisesaal Dr. Shipley mit etwas gepreßter Stimme, indem er näher an Mrs. Cicely heranrückte und ihr in die Augen zu schauen versuchte.

Mrs. Cicely blickte aber nicht auf, sondern lächelte nur. »Der einzige Mensch, mit dem Tante Laura nicht fertig wird «, antwortete sie. »Sie haben es ja eben gesehen.«

Shipley begann nervös an den Lippen zu nagen und rückte noch näher an Mrs. Cicely heran.

»Mrs. Carringhton«, sagte er nach einer kleinen Pause, »was ich eben von Lady Crowford gehört habe« – er begann heftig zu schlucken – »macht mich sehr unglücklich . . .«

»Mich auch«, hauchte Mrs. Cicely.

»Sie auch? Wieso?«

»Weil Lady Laura es sicher tun wird, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hat«, seufzte Mrs. Cicely, und Shipley kam es vor, als ob sie ihn dabei schalkhaft anlächelte.

Er rückte rasch noch näher an sie heran und ergriff stürmisch ihre Hand.

»Mrs. Cicely«, flüsterte er strahlend, »glauben Sie, daß . . . wenn ich . . .«

»Wenn Sie mir telegrafiert hätten, daß Sie mit Cicely so beisammensitzen wollen, dann hätte ich Sie nicht ins Palace-Hotel in Drayton bestellt«, krächzte Lady Laura von der Tür her und schüttelte höchst mißbilligend ihren Kopf. »Das schickt sich nicht, wenn auch keine Gäste hier sind. Auf Holway Castle können Sie es meinetwegen tun, wenn Sie so darauf erpicht sind. Also kommen Sie mit, aber machen Sie sich im Wagen nicht zu breit, denn ich brauche Platz für meine Beine.«


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