Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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8

Es gibt Zufälle, die über Schicksale, über Sein oder Nichtsein, bestimmen können.

Ein solcher Zufall war es, daß Ann Learner Harry Reffold so ungnädig und rasch verabschiedete und daß dieser eben aus dem Hause trat, als der Mann mit dem Bart, der noch immer auf seinem Karren saß und aus einer Stummelpfeife qualmte, seinen kurzen Hals sehr aufmerksam nach der Seite reckte.

Als Harry interessiert der Richtung seiner Blicke folgte, gewahrte er unter der Menge plötzlich Thompson, der dem anderen offenbar eine wichtige Mitteilung zukommen ließ. Es geschah dies ganz unauffällig, denn Thompson kehrte dem Bärtigen den Rücken zu und lüftete nur zuweilen den Hut, hob bald den einen, bald den anderen Arm, spreizte bald an dieser, bald an jener Hand einige Finger und machte so den Eindruck eines sehr nervösen Herrn, den das sensationelle Ereignis völlig aus dem Häuschen gebracht hatte.

Aber Harry kannte sich in diesen Dingen aus und wenn er die Zeichen auch nicht verstand, so wußte er doch, daß sie etwas Besonderes zu bedeuten hatten.

Vor allem war es ihm höchst erwünscht, zu erfahren, daß zwischen dem Manne, den er in der verflossenen Nacht so unsanft behandelt hatte, und dem sehr ehrenwerten Mr. George Thompson eine Verbindung bestand.

Er setzte sich denn auch sofort auf diese Spur, als der Vierschrötige nach einer Weile aufstand und mit der Miene eines Menschen, der die Geschichte endlich satt hat, gemächlich davonstapfte.

Der Verfolgte schien den Weg durch ganz Newchurch nehmen zu wollen, denn er war bereits bei den letzten Häusern angelangt, und wenn er hier nicht eintrat, so konnte es unter Umständen eine lange Wanderung werden, da die nächsten Wohnstätten gute zwei Meilen entfernt waren.

Reffold machte jedenfalls halt und schlug dann einen Seitenpfad zwischen den Gärten ein, von wo aus er den Mann im Auge behalten konnte, ohne Gefahr zu laufen, selbst gesehen zu werden. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich sehr bald als angebracht, denn der Bärtige drehte sich mit einem Male blitzschnell um und kam den Weg so eilig und flink zurückgerannt, daß Harry Mühe hatte, ihm auf den Fersen zu bleiben. Nach einiger Zeit mäßigte der andere zwar sein Tempo etwas, aber es ging noch immer in einem Schnellschritt dahin, den man dem schwerfälligen und kurzbeinigen Burschen niemals zugetraut hätte. Er schien offenbar größte Eile zu haben, um den Umweg, den er hatte machen müssen, einzubringen, und Reffold wurde immer neugieriger wo die eilige Reise wohl enden würde.

Nach etwa zehn Minuten war er darüber allerdings nicht mehr im Zweifel, denn der Mann wandte sich demselben Stadtteil zu, den am Tage vorher Thompson aufgesucht hatte, und bog dann in die enge schmutzige Gasse ein, um in dem gleichen Hause zu verschwinden.

Die Gasse machte einen noch verkommeneren Eindruck als in den gestrigen Abendstunden und schien völlig ausgestorben zu sein. In Harrys Ohren gellte plötzlich ein warnendes Hupensignal, und obwohl er schleunigst zur Seite sprang, hätte der Kotflügel des dunkelgrünen Autos, das in diesem Augenblick in die stille Gasse einbog, ihn doch um ein Haar gestreift.

Reffold sah für den Bruchteil einer Sekunde am Fenster des Wagens ein Gesicht, das ihm bekannt schien, dann schoß das Auto die Gasse hinauf und hielt vor dem letzten Gebäude.

Der Schlag neben dem Fahrer flog auf, aus dem Haustor sprang mit einem Satz der Bärtige, zwängte sich neben den riesigen Chauffeur, und schon glitt der Wagen weiter auf die Landstraße, die unmittelbar hinter dem alten Gebäude gegen Bedfont führte.

Harry hatte unwillkürlich alle seine Sinne angespannt. Er wußte, daß es ein Fordwagen war, daß dieser Wagen auf Goodyear-Reifen lief und daß sich in der spiegelglatten Lackierung der Rückwand eine etwa handtellergroße, dunklere Stelle befand. Er kannte ferner den Weg, den das Auto genommen hatte, und auch die Nummer hatte er sich gemerkt. Aber die anderen Merkmale schienen ihm weit zuverlässiger, denn er hätte darauf schwören mögen, daß die Nummer falsch war.

Daß Reffold dies alles wußte, verdankte er dem Zufall, und dieser Zufall sollte Dr. Shipley sehr nützlich, einem anderen aber verdammt unangenehm werden . . .

 

Dr. Shipley pflegte an Sonntagen seine Morgenruhe etwas länger auszudehnen. John wunderte sich daher, daß er heute um dieselbe Stunde wie an den Wochentagen zum Ankleiden gerufen wurde, und der erste Blick auf seinen Herrn sagte ihm, daß dieser äußerst schlechter Laune war.

Tatsächlich hatte Shipley wieder eine Nacht hinter sich, die er zum größten Teil mit Rauchen und Grübeln verbracht hatte, um schließlich in einem nervösen Halbschlummer von den unangenehmsten Träumen gequält zu werden.

Das ging nun schon seit jenem letzten Abend so, den er mit Mrs. Carringhton verbracht hatte, und er mußte sich zu seinem Schrecken und zu seiner Beschämung gestehen, daß die mysteriöse Geschichte jenes Abends für ihn Folgen gezeitigt hatte, die er nie für möglich gehalten hätte. Er mochte sich noch so oft sagen, daß Mrs. Carringhton zwar seine Hausdame, sonst aber eine völlig unabhängige Frau sei, deren Tun und Lassen ihn nichts angehe; im nächsten Augenblicke war er schon wieder dabei, sich mit allerhand quälenden Fragen über ihre Persönlichkeit und ihre Verhältnisse den Kopf zu zerbrechen. Er machte sich nun den Vorwurf, daß er Mrs. Carringhton in sein Haus genommen hatte, ohne nähere Erkundigungen über sie einzuziehen; aber eigentlich hatte ja Lady Crowford alles arrangiert, und eine bessere Empfehlung konnte es wohl nicht geben. Schließlich beruhten ja seine Bedenken doch nur auf Vermutungen und gewagten Schlüssen, und wer weiß, ob sich nicht eine ganz harmlose Erklärung ergeben hätte, wenn Mrs. Carringhton nicht so verschlossen gewesen wäre.

Der Fall, der eigentlich das ganze Unheil angerichtet hatte, war über all diesen Überlegungen völlig in den Hintergrund getreten, obwohl Shipley sich in den ersten Tagen eifrigst mit ihm beschäftigt hatte. Die Analyse, die er mit der aus den Fasern gewonnenen Lösung angestellt und von einem der namhaftesten Chemiker hatte nachprüfen lassen, hatte ergeben, daß es sich hierbei tatsächlich um einen unbekannten vegetabilischen Giftstoff handelte. Als Dr. Shipley dann an Versuchstieren zu experimentieren begann, konnte er die ungeheure Bösartigkeit dieses Giftes feststellen und die überraschendsten und unterschiedlichsten Symptome beobachten, je nachdem, ob er das Präparat äußerlich oder durch direkte Einführung ins Blut anwandte. In beiden Fällen wurden Nervenzentren und Muskulatur völlig gelähmt, und nur darin ergab sich ein Unterschied, daß bei der Einspritzung der tödliche Ausgang mit blitzartiger Schnelligkeit eintrat, während bei der äußerlichen Infektion einige Stunden bis zur tödlichen Wirkung verstrichen.

Dr. Shipley stellte dann Versuche mit dem Gegenmittel an, das ihm auf der Polizeistation in Bermondsey ein glücklicher Instinkt eingegeben hatte, und er war überaus befriedigt, als er mit ihm auch jetzt die glänzendsten Erfolge erzielte. Sogar bei der direkten Einführung des Giftes in die Blutbahn konnte er noch nach Sekunden die Wirkung aufheben, und es war überraschend, wie schnell dabei nicht nur alle Symptome der Erkrankung schwanden, sondern die Versuchstiere auch ihre volle Beweglichkeit wiedererlangten. Und durch einen Zufall machte Dr. Shipley noch eine weitere Entdeckung über die Wirkung dieses sonderbaren Giftes. Er hatte bei einem seiner Experimente eben die kleine Glasröhre mit dem Präparat geöffnet, als John eintrat, um ihm eine Mitteilung zu machen. Während er zuhörte, brachte er das Röhrchen zufällig in die Nähe der Atmungsorgane des Versuchstierchens, und als er sich diesem wieder zuwandte, gewahrte er, daß das Tier mit dem Erstickungstode rang.

Dr. Shipley stellte nun systematische Versuche in dieser Richtung an und fand hierbei, daß das Präparat tatsächlich auch in Gasform von stärkster Wirkung war.

Es handelte sich hier also um ein geradezu teuflisches Gift, von dem sich in den Körpern nachher auch nicht die geringste Spur nachweisen ließ.

Was den seltsamen Fall in Bermondsey betraf, so schloß Dr. Shipley, daß der Mann mit dem Giftstoff irgendwie in äußere Berührung gekommen war, und es wäre nun doppelt interessant gewesen, Näheres darüber zu erfahren. Aber er hatte über die ganze Sache nichts mehr gehört, und auch die aufregenden Episoden jenes Abends hatten sich nicht wiederholt, so daß er sich immer wieder sagte, die Warnung von Mrs. Carringhton wäre besser unausgesprochen geblieben.

John war eben dabei, das Frühstück zu servieren, als er durch das Schrillen des Telefons abgerufen wurde, und Dr. Shipley machte sich daran, selbst seinen Tee einzugießen. Er verspürte nicht den mindesten Appetit und hatte kaum einige Bissen zu sich genommen, als John bereits wieder zurückkehrte.

»Mr. Webster wünscht Sie dringend zu sprechen, Sir« meldete er. »Es war wieder einmal die längste Zeit unmöglich, etwas zu verstehen, aber nun geht es schon wieder.«

Dr. Shipley war überrascht und erhob sich eilig, denn der Inspektor pflegte ihn nur in dringenden Fällen anzurufen.

Als er die Muschel anlegte und Webster einen guten Morgen wünschte, schlug dessen gewaltige Stimme in kurzen, aufgeregten Sätzen an sein Ohr.

»Doktor Shipley . . .? Ja . . .? Gut, daß ich Sie erreicht habe. Anscheinend eine große Sache in Newchurch. Näheres weiß ich nicht. Ausdrücklicher Befehl von Scotland Yard, daß ich mit hinaus soll. Und ich soll Sie dringend bitten mitzukommen. Der Chef legt darauf ganz besonderen Wert. Ich schicke Ihnen gegen elf ein Auto, und Sie holen mich dann in meinem Büro ab. Oberinspektor Burns von Scotland Yard nehmen wir am Victoria-Embankment auf. Also machen Sie sich fertig. Sie kommen doch hoffentlich mit?«

»Gern, Inspektor. In einer Viertelstunde bin ich bereit. Auf Wiedersehen . . .«

Shipley war erfreut, für den Tag, vor dessen Langeweile er sich gefürchtet hatte, eine solche Ablenkung zu finden, und ging ins Eßzimmer zurück, wo er sein Frühstück beendete und sich hierauf eine Zigarre anzündete. Dann beauftragte er John, ihm sein Taschenbesteck sowie Hut und Mantel bereitzulegen. Dabei teilte er ihm mit, wohin er sich begebe, und etwa zwanzig Minuten später trat er aus dem Haus, um die Ankunft des angemeldeten Autos zu erwarten.

Es war eine dunkelgrüne Ford-Limousine, die wenige Augenblicke darauf in rasendem Tempo vorfuhr. Der riesige Chauffeur griff höflich an die Kappe und öffnete auch schon den Wagenschlag.

Shipley schwang sich hinein, und das Auto flog die Straße entlang und um die nächste Ecke.

John hielt sich noch in der Halle auf, als Mrs. Carringhton erschien und anscheinend so ganz nebenbei fragte: »Wohin ist Dr. Shipley gefahren? Wurde er zu einem Patienten gerufen?«

John beeilte sich, zu berichten, was er wußte, aber Madam hörte wohl nur mit halbem Ohr zu. Sie wollte auch bereits wieder fortgehen, als es plötzlich sehr heftig schellte und John zur Tür eilte, um zu öffnen.

Ein Mann in Ledermantel und Lederkappe stand draußen.

»Ich komme von Inspektor Webster, um Dr. Shipley abzuholen.«

John sah den Mann überrascht an und warf dann einen fragenden Blick auf Mrs. Carringhton, die näher getreten war und nun plötzlich ein Bild höchster Erregung bot.

»Dr. Shipley ist bereits mit einem anderen Wagen abgeholt worden . . .«, berichtete John etwas betreten.

»Das verstehe ich nicht.«

Der Chauffeur schüttelte den Kopf und wandte sich unschlüssig zum Gehen.

In diesem Augenblick geschah etwas, was John geradezu zu einem Steinbild werden ließ: Mrs. Carringhton stürzte an ihm vorbei und ergriff den Mann heftig am Arm.

»Bringen Sie mich zu Inspektor Webster . . .«

Und wie sie war, eilte sie die Stufen hinab und warf sich in den harrenden Wagen, der gleich darauf mit größter Schnelligkeit davonraste.

Der korrekte John stand fassungslos in der offenen Tür, und es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam.

 

Als der Wagen mit Dr. Shipley einige Straßen passiert hatte und eben in eine parallel zur Themse führende Gasse einbog, die zu beiden Seiten von riesigen Lagerhäusern umsäumt war, setzte plötzlich der Motor aus.

Der Chauffeur manipulierte ärgerlich an den Hebeln und Tasten und sprang dann aus dem Auto, um nach dem Schaden zu sehen. Schließlich öffnete er den Schlag zum Innern und bückte sich, um seine Werkzeuge hervorzuholen.

In der nächsten Sekunde warf sich ein mächtiger Körper auf Dr. Shipley, und gleichzeitig verspürte dieser einen ihm nur allzubekannten scharfen, süßlichen Geruch.

Ehe er auch nur ein Glied zu rühren oder einen Laut auszustoßen vermochte, fühlte er seine Sinne schwinden.


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