Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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18

Crayton befand sich in übelster Laune. Wenn ihm die Vermögensverwaltung von Milner entging, so bedeutete dies, daß ihm und andern ein Strich durch ein sehr fein eingefädeltes und überaus einträgliches Geschäft gemacht wurde und daß er also seine Haut diesmal für nichts und wieder nichts zu Markte getragen hatte.

Und das mit der Haut war leider nicht nur eine Redensart, sondern Crayton hatte wirklich ein höchst unangenehmes Gefühl am Halse, seit Burns die anzügliche Bemerkung über das Eiserne Tor hingeworfen hatte.

Der Oberinspektor mußte also von dieser heiklen Sache etwas wissen, und es hieß nun jedenfalls äußerst vorsichtig sein. Wenn er sich nicht überrumpeln ließ, konnte ihm zwar nichts nachgewiesen werden; aber wenn die Polizei einmal einen Fall aufrührte, ergaben sich oft Zufälle, an denen selbst der Vorsichtigste und Gewiegteste im wahrsten Sinne des Wortes hängenbleiben konnte.

Crayton beschloß, sich mit jemandem zu beraten, denn schließlich ging ja die unangenehme Geschichte nicht nur ihn allein an.

Er fuhr vom Bahnhof nach Somerstown und rief von seinem Büro, das aus zwei düsteren Räumen bestand, Flesh an.

Er erreichte ihn erst nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen in seiner Privatwohnung, und Flesh war nicht gerade sehr höflich, als er sich am Apparat meldete.

»Was fällt Ihnen ein, zum Teufel? Sie wissen doch, daß mir das nicht paßt . . .«

»Mir ist es auch kein besonderes Vergnügen«, erwiderte der Anwalt im gleichen Ton. »Aber ich wollte Sie noch erreichen, bevor man Sie irgendwo hinsteckt, wo es kein Telefon gibt. Die Sache in Newchurch ist heute schiefgegangen, und Burns hat mir etwas vom Eisernen Tor angedeutet. Ich dachte, daß Sie das interessieren würde.«

Flesh antwortete erst nach einer Weile, diesmal weit ruhiger und höflicher. »Wo sind Sie jetzt?«

»In meinem Büro.«

»Paßt es Ihnen, wenn ich Sie in einer Stunde aufsuche? Ich brauche etwas mehr Zeit, weil ich einen Umweg machen muß. Das empfiehlt sich jetzt auch für Sie bei Ihren Gängen. Verstehen Sie mich?«

Der Rat war Crayton nicht gerade angenehm. »Glauben Sie wirklich, daß das notwendig ist?« fragte er aufgeregt. »Haben Sie etwas bemerkt?«

»Wenn ich es nicht für notwendig hielte, würde ich nicht davon sprechen«, lautete die schroffe Erwiderung. »Also erwarten Sie mich, und sorgen Sie dafür, daß wir allein sind.«

Der Anwalt hatte gehofft, in dem Gespräch mit Flesh eine gewisse Beruhigung zu finden, aber was er eben gehört hatte, ließ ihn nur noch besorgter werden. Wenn er recht verstanden hatte, so war Flesh unter Überwachung gestellt, und in diesem Fall hatte gewiß auch er damit zu rechnen, daß die Polizei seinen Schritten ihre Aufmerksamkeit schenken würde.

Crayton fühlte sich bei diesem Gedanken sehr ungemütlich, und er benützte die nächste Stunde dazu, um vor allem einmal gründlich darüber nachzudenken, ob er sich irgendeine Blöße gegeben hatte und welches gefährliche Material sich in seinen Händen befand. Er war, soviel er sich erinnerte, seit Wochen an keinem verfänglichen Ort gewesen, jedenfalls nicht im Eisernen Tor, auch hatte er keinen Verkehr gepflogen, der ihn kompromittieren konnte. Die einzigen verfänglichen Schriftstücke lagen in der Akte Milner, die er sofort einer gründlichen Durchsicht unterzog. Er nahm einige Papiere heraus, überflog sie nochmals und warf sie dann ins Kaminfeuer.

Craytons Büro befand sich in einem großen, langgestreckten, vierstöckigen Steinkasten, mit seiner notdürftig getünchten Fassade und seinen endlosen Fensterreihen eine typische Mietskaserne, die schon von außen einen nicht sehr einladenden Anblick bot.

Flesh kam mit hochgeschlagenem Rockkragen und tief in die Stirn gedrückten Hut eilig aus einer Seitengasse, überquerte mit wenigen Schritten die Fahrbahn und verschwand dann in dem dunklen Hauseingang. Er bedurfte keines Wegweisers, denn er war schon einige Male hier gewesen, wenn er Craytons zur Regelung irgendeiner geschäftlichen Angelegenheit bedurft hatte, die er seinem offiziellen Anwalt nicht anvertrauen konnte.

Er stieg rasch die Treppe hinauf, wandte sich im ersten Stock nach links, bog dann in den Hoftrakt ein und klopfte dort an eine wurmstichige Tür, an der ein einfaches, halbverrostetes Blechschild verkündete, daß hier der Anwalt Ernest Crayton amtierte.

Etwa zur gleichen Zeit betrat Oberst Roy Gregory, der mit den gemächlichen Schlenderschritten eines Spaziergängers die Straße heruntergekommen war, das Haus und fand sich mit derselben Sicherheit wie Flesh zurecht. Er nahm aber seinen Weg bis in das zweite Stockwerk, und wandte sich erst dort nach links, bis er im Hoftrakt verschwand.

Der Anwalt hatte die Haustür sorgfältig hinter seinem Gast versperrt und auch die Tür seines Arbeitszimmers verschlossen, um vor jeder Überraschung sicher zu sein.

»So, jetzt können wir frei von der Leber weg reden«, meinte er und bot Flesh einen Stuhl an, den er vorher fürsorglich mit seinem Taschentuch abgewischt hatte.

Aber Flesh machte keine Miene, sich zu setzen, und er fand es nicht einmal notwendig, den Hut abzunehmen. Er ging in dem kleinen Raum, der sein Licht aus dem düsteren Hof erhielt, langsam auf und ab, und unter jedem seiner Schritte knarrten die alten Dielen.

»Also legen Sie endlich los«, fuhr er Crayton plötzlich an. »Ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig in dieser stinkenden Bude zu verweilen.«

Crayton fühlte sich nicht im mindesten beleidigt, sondern beeilte sich, über die Vorgänge am Vormittag in möglichst knapper Form zu berichten. Auch der Episode im Eisenbahnwagen tat er Erwähnung, allerdings unter Verschweigen einiger Details, die ihm nicht wesentlich erschienen.

Als er den Namen Reffold nannte, zog Flesh die Brauen hoch, aber dies war auch das einzige Zeichen des Interesses, das er während der ausführlichen Mitteilungen des Anwalts verriet. Als Crayton zu Ende war, trat eine Pause ein; erst nach einer geraumen Weile fragte Flesh: »Wie steht also nun die Sache mit dem Wechsel? Können wir sie wagen?«

»Die ist ungefährlich«, versicherte Crayton eifrig und überzeugt. »Dafür kann ich bürgen. Schließlich war ich ja sein Anwalt und habe als solcher ein gewichtiges Wort.« Er zwinkerte dem andern zu und grinste vielsagend.

Flesh schien Craytons Ansicht nicht zu teilen. Er starrte eine Weile mit verkniffenen Lippen vor sich hin, dann aber traf den Anwalt ein Blick, der ihm in die Beine fuhr. »Ich werde Ihnen etwas sagen: Machen wir uns nichts vor! Die Sache fängt an, verdammt kritisch zu werden. Ein Fehlschlag nach dem andern in der letzten Zeit. Die Geschichte im Kastanienhaus war geradezu wie verhext. Die Steine weg, das Geld weg, mit dem Wechsel kaum etwas zu machen und dazu noch das Malheur mit Doktor Shipley. Wenn es einmal so beginnt, ist das bedenklich.«

Er sah den Anwalt durchdringend an und überlegte nochmals, ob er diesen Mann gegenüber mit offenen Karten spielen sollte. »Man muß auf alles gefaßt sein. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, und Sie werden verstehen, daß ich nicht gern mit in der Falle sitzen möchte, wenn sie zuklappt. Dazu brauche ich Ihre Hilfe. Wenn Sie klug sind, werden Sie mit sich reden lassen. Es geht um Ihren Hals genauso wie um meinen.«

Crayton gefiel diese Einleitung nicht, denn die drohende Gefahr hatte ihn gewitzigt, und er war entschlossen, sich in nichts mehr einzulassen. Was er bisher auf dem Kerbholz hatte, waren schließlich Dinge, aus denen er sich bei seiner genauen Kenntnis der einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches herauswinden konnte, wenn es dazu kam; aber andere Dinge wollte er nicht zu verantworten haben. Und Fleshs Worte klangen bedenklich.

Er zuckte daher ratlos mit den Schultern und schnitt ein sehr einfältiges Gesicht. »Ich wüßte wirklich nicht, wie ich Ihnen nützlich sein könnte. Überhaupt halte ich es für das beste, wenn wir uns so ruhig wie möglich verhalten, denn mit der Polizei auf den Fersen –.«

Flesh sah ihn wütend an. »Behalten Sie Ihre albernen Ratschläge für sich. Was ich brauche, ist etwas anderes.«

Er blieb plötzlich dicht vor dem Anwalt stehen und dämpfte seine Stimme zu einem halblauten Flüstern. »Wer ist ›der Herr‹, und wie komme ich an ihn heran? Wissen Sie etwas über ihn? Es soll Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie mir einen Wink geben. Hätte ich noch einige Wochen Zeit, so würde ich wohl selbst dahinterkommen. Aber nun drängt die Sache. Wie ich Sie kenne, sind Sie nicht der Mann, der sich nicht auch darum gekümmert hätte, wer an den Drähten zieht, an denen wir tanzen. Schon deshalb, weil so etwas Ihnen viel Geld einbringen könnte . . .«

»Oder einen raschen Tod«, flüsterte Crayton entsetzt. »Reden Sie mir nicht von dieser Sache. Sie sollten doch wissen, wie gefährlich das ist.« Er war förmlich in sich zusammengekrochen, und sein scheuer Blick verriet die Angst, die er empfand.

Flesh machte eine verächtliche Geste. »Weil ihr alle Feiglinge seid. Mich schreckt man mit solchen Dingen nicht. Ich muß wissen, wer der Geheimnisvolle ist, weil ich mit ihm ins reine kommen möchte, bevor uns der Boden unter den Füßen zu heiß wird. Und ich nehme an, daß Sie mir manches sagen könnten, was mich auf meiner Spur weiterbringen würde. Also legen Sie los. Zweitausend Pfund, wenn es nur eine Andeutung ist, fünftausend Pfund, wenn ich dadurch wirklich zum Ziel gelange. Das ist ein schönes Stück Geld, und ich an Ihrer Stelle würde mir's nicht lange überlegen. Denn schließlich ist meine Sache auch die Ihre. Wenn Sie in der Hand des ›Herrn‹ bleiben, bringt er Sie eines Tages doch an den Galgen, oder Sie verschwinden, wie alle andern verschwunden sind, die er nicht mehr brauchen konnte. Denken Sie nur an Stone, der ihm doch sicher viel Geld eingebracht hat und eigentlich unentbehrlich schien.«

Was Flesh sagte, machte auf Crayton Eindruck, und er würde sich die fünftausend Pfund gern verdient haben, wenn er sicher gewesen wäre, daß jener schließlich die Oberhand behielt und er selbst mit heiler Haut davonkam. Er traute diesem energischen und verschlagenen Manne viel zu, aber ob er der geheimnisvollen Persönlichkeit gewachsen war, die es verstand, jeden, der etwas auf dem Kerbholz hatte, in ihren Dienst zu zwingen, dessen war Crayton nicht sicher. Er hatte in dem einen Jahr, seit er durch eine etwas unsaubere Mündelgeschichte unter die Botmäßigkeit des ›Herrn‹ geraten war, schon zuviel von dessen unheimlichen Überwachungssystem kennengelernt, um ein leichtsinniges Spiel zu wagen, aber er wollte die Chance, die ihm eben geboten wurde, auch nicht ohne weiteres ausschlagen.

»Lassen Sie mir noch einige Stunden Zeit«, bat er daher, als Flesh ungeduldig zu werden begann. »So etwas will überlegt: sein. Und es ist möglich, daß ich Ihnen dann noch mehr sagen kann als jetzt«, fügte er wichtigtuend hinzu.

Flesh nickte. »Ich erwarte Sie also um zehn Uhr abends bei mir. Kommen Sie aber über die Hintertreppe. Nur eines möchte ich schon jetzt wissen: Ist es viel oder wenig, was Sie mir mitteilen können?«

Der Anwalt dachte an die fünftausend Pfund und rieb sich unwillkürlich die Hände.

»Ich glaube, viel«, flüsterte er schmunzelnd. »Wenn ich damals, als ich vom Eisernen Tor der Spur nachging, etwas mehr Glück gehabt hätte, könnte ich Ihnen wohl alles sagen. So aber fehlt noch das Letzte.«

Flesh war von dieser Mitteilung so befriedigt, daß er Crayton zum Abschied zwei Finger seiner Rechten reichte.

»Das soll dann meine Sorge sein«, sagte er mit Nachdruck.

Als der Anwalt seinen Gast entlassen hatte, schloß er sich wiederum in seinem Arbeitszimmer ein. Er verspürte plötzlich eine Unruhe, der er nicht Herr zu werden vermochte. Seine Augen suchten jeden Winkel des kahlen Raumes ab und glitten sogar über die rissige Wandtäfelung und die geschwärzte Decke, ob von dort nicht eine Gefahr drohe. Aber erst als er auch noch in den beiden großen Wandschränken Nachschau gehalten hatte, fühlte er sich einigermaßen sicher und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder.

Nachdem er eine Weile vergeblich versucht hatte, sich zu sammeln, mußte er feststellen, daß seine Nerven durch die Aufregungen der letzten Stunden doch sehr gelitten hatten. Er verspürte plötzlich ein derartiges Flimmern vor den Augen, daß er sie immer wieder für eine Weile schließen mußte, und in seinem Kopf begann es fieberhaft zu hämmern. Er schenkte sich ein Glas Kognak ein, um diesen eigenartigen Anfall zu bekämpfen, aber kaum hatte er das Glas geleert, da hatte er das Gefühl, als ob sich ihm ein eiserner Reifen um Brust und Hals legte und ihn immer enger einschnürte.

Er begann krampfhaft nach Atem zu ringen, und seine Augen weiteten sich mit einem Ausdruck wahnsinnigen Entsetzens:

Durch den flimmernden Schleier, der sich vor sein Gesicht legte, erblickte Crayton ein breites, grellfarbiges Band, das sich unter einem der Wandschränke schlangengleich hervorschob und dessen stechend rote, grüne, gelbe und blaue Flecken ineinanderzufließen begannen, dann in flammenden Kreisen immer rascher durcheinanderwirbelten, um schließlich als scheußliche Fratze auf und nieder zu tanzen und nach seiner Kehle zu fassen.

Minutenlang währte dieser höllische Wirbel – dann hatte Ernest Crayton den entsetzlichen Traum, der nach seinem Leben griff, ausgeträumt . . .

Nach einer Weile ging ein leises Schleifen durch den totenstillen Raum, und langsam kroch das buntschillernde breite Band unter den Wandschrank zurück.

Wenige Minuten später verließ Oberst Roy Gregory eilig das Haus.

Ein Zeitungsverkäufer, der gegenüber die Abendblätter ausrief, sah unauffällig auf seine Uhr und machte sich dann eine kurze Notiz.

 

Burns erhielt die Meldung auf der Polizeistation in Newchurch telefonisch von einem der Sergeanten, die er mit der Überwachung des Anwalts betraut hatte, aber er schien nicht allzu überrascht zu sein.

Ebenso gleichgültig nahm er die Mitteilung auf, daß Flesh den Anwalt am vorhergehenden Nachmittag besucht hatte und daß auch Oberst Gregory um dieselbe Zeit im Hause gewesen war.

Erst nachdem er eine seiner schwarzen Zigarren angezündet und nachdenklich daran gekaut hatte, rief er Webster in der ›Queen Victoria‹ an.

»Machen Sie sich fertig. Ich hole Sie in einer Viertelstunde mit einem Auto ab. Wir haben in London zu tun.«

Webster, der eben mit Mrs. Benett bei einer jener kleinen Mahlzeiten saß, die er zwischen die Hauptmahlzeiten einzuschieben pflegte, war wütend. Er liebte es nicht, wenn man ihn unausgesetzt hin und her schob, wie Burns dies tat, und wenn er dann obendrein nicht einmal erfuhr, welchen Zweck dies hatte. Wie beispielsweise am gestrigen Tage, an dem Burns ihn mit in den Wald geschleift hatte, wo er stundenlang zusehen mußte, wie man die Trümmer einer niedergebrannten Baracke aufräumte und schließlich sorgfältig einige menschliche Knochen sammelte, die wahrscheinlich die sterblichen Überreste eines betrunkenen Landstreichers waren.

Burns hatte bei diesem Fund sehr interessiert getan, aber als Webster ihn gefragt hatte, was dies zu bedeuten habe, hatte der Oberinspektor nur mit den Schultern gezuckt und es nicht der Mühe wert gefunden, auch nur ein Wort zu erwidern.

Der Inspektor haßte diese Geheimnistuerei, und wenn es nicht wegen des ›Oberinspektors‹ gewesen wäre, den ihm Burns in Aussicht gestellt hatte, würde er für die ganze Sache schon längst gedankt haben.

Er setzte sich ziemlich verärgert wieder vor sein Frühstück und beantwortete Mrs. Benetts stumme Frage mit einem bezeichnenden Achselzucken.

»Natürlich wieder der leidige Dienst, Mrs. Benett«, seufzte er verdrießlich, »Unsereiner hat ja Tag und Nacht keine Minute Ruhe, und wenn man sich einmal recht behaglich fühlt« – er warf Mrs. Jane einen galanten Blick zu, der diese verschämt erröten ließ – »kann man sicher damit rechnen, daß man wegen irgendeiner Bagatelle in Atem gesetzt wird.«

»Also nichts Wichtiges?« fragte Mrs. Benett interessiert, und ihre Miene verriet, wie sehr sie den armen, geplagten Inspektor bedauerte.

Webster verzog den Mund. »Eine Sache in London«, sagte er. »Wird wahrscheinlich wieder nicht der Rede wert sein.«

Mrs. Bennett schien dies auch anzunehmen, denn sie verlor kein Wort mehr darüber, weil ja Reffold mit Dingen, die in London vorgingen, kaum etwas zu tun hatte.

Im übrigen bereitete ihr Harry Reffold genügend Sorgen, denn erstens wußte sie von Webster, daß die Polizei ihn keine Minute mehr aus den Augen ließ, und zweitens verriet ihr Gast in den letzten Tagen eine derartige Unrast, daß sie befürchten mußte, er habe seine eisernen Nerven plötzlich eingebüßt. Er lief mehrmals am Tage aus dem Haus, um nach Stunden abgehetzt und müde zurückzukehren und sich in seinem Zimmern einzuschließen oder im Eßzimmer vor sich hinzuträumen, ohne die besonderen Leckerbissen, die sie ihm servieren ließ, auch nur eines Blickes zu würdigen.

Alles das wollte Mrs. Jane nicht gefallen, am allerwenigsten aber der Umstand, daß er für sie nicht mehr das entzückende Lächeln hatte, das wie ein zündender Funke in ihr Herz gedrungen war. Mrs. Benett war darüber etwas gekränkt, denn sie gab sich wirklich alle Mühe, um ihm dienlich zu sein. Sie hatte den Inspektor so in Behaglichkeit und Liebenswürdigkeit eingesponnen, daß dieser wie ein beglückter Kater schnurrte und überhaupt nichts mehr dachte und tat, ohne sich bei der klugen und charmanten Mrs. Benett Rat zu holen, seitdem sie ihn auch noch bei der Überwachung Reffolds so eifrig unterstützte.

Mrs. Jane ihrerseits fand, daß Mr. Webster ein vollendeter Gentleman war, der vor allem wußte, was man einer Dame schuldig war, und ganz besonders gefiel ihr, daß er einen ausgesprochenen Sinn für die Annehmlichkeiten der Häuslichkeit und ein dankbares Verständnis für eine gute Küche besaß.

Wenn er sie nicht gerade über Reffold ausfragte, konnte ihr Webster stundenlang davon vorschwärmen, wie gemütlich er sich das Leben einzurichten gedenke, wenn er erst einmal in Pension sein werde, und Mrs. Benett ließ es sich nicht nehmen, ihm in dieser Hinsicht mit verschiedenen praktischen Ratschlägen an die Hand zu gehen.

Kurz, er war ein Mann, mit dem man nicht nur über unangenehme Kriminalsachen, sondern auch über Dinge sprechen konnte, die einer Frau näherliegen, und Mrs. Benett ertappte sich oft bei dem Gedanken, wie ganz anders sich wohl ihr Leben gestaltet haben würde, wenn sie seinerzeit statt des Halunken George Thompson den sehr ehrenwerten Patrick Webster kennengelernt hätte.

Jetzt allerdings vermochte auch ein so ausgezeichneter Mann bei ihr nur das Gefühl aufrichtiger Sympathie auszulösen, denn mit Mr. Harry Reffold konnte er natürlich keinen Vergleich aushalten.

Mrs. Jane seufzte bei diesem Gedanken tief und schmachtend, und dasselbe tat Webster, der bereits längst an der Seite des schweigsamen Burns nach London raste.

Sie hatten schon den äußeren Gürtel passiert, und noch immer wußte er nicht, warum er Mrs. Benett und ihre Fleischtöpfe hatte verlassen müssen, denn der Oberinspektor saß mit geschlossenen Augen da und hatte die wiederholt vorgebrachten Fragen überhört.

Erst als sie eine Unebenheit etwas zu scharf nahmen und wie Kautschukballen in die Höhe flogen, schlug Burns die Augen auf, blickte um sich, als ob er eben aus einem Traume erwache, und sagte so ganz nebenbei:

»Am meisten leid bei der Geschichte tut mir Jackson . . .«

Webster wußte mit dieser Bemerkung nichts anzufangen, denn Mr. Jackson war der Henker, und er konnte sich nicht denken, was diesem Unangenehmes widerfahren sein mochte.

Aber Burns schien darum zu wissen, denn er war sehr nachdenklich und machte ein höchst melancholisches Gesicht.

»Er kommt dabei um ein schönes Stück Geld«, meinte er nach einer weiteren Weile unvermittelt, »denn ich bin überzeugt, daß er alle drei über kurz oder lang unter die Hände bekommen hätte. Aber die Bande stört ihm das Geschäft und räumt selbst unter sich auf. Erst Stone, dann der Mann im Wildhüterhaus und nun Crayton. Die Kerle scheinen es verdammt eilig zu haben, Ballast über Bord zu werfen, und das ist für uns ein gutes Zeichen.«

»Möchten Sie sich nicht etwas deutlicher ausdrücken?« knurrte Webster, dem die Geduld riß. »Sagen Sie mir doch, zum Teufel, kurz und bündig, was eigentlich los ist.«

Burns sah den Inspektor verwundert an. »Das könnten Sie doch schon erraten haben. Man hat gestern Crayton um die Ecke gebracht. Ganz auf dieselbe nette und saubere Weise wie Milner und Stone. Eine schöne Bescherung, was?«

Diese Mitteilung überraschte Webster so sehr, daß sein Gesicht einen unbeschreiblichen Ausdruck annahm. Aber allmählich faßte er sich und begann nun intensiver darüber nachzudenken, wie das neue Geschehnis mit der Theorie, die er sich schon längst gebildet hatte, in Einklang zu bringen sei. Diese unumstößliche Theorie bestand darin, daß der Hauptbeteiligte an dem Verbrechen im Kastanienhaus niemand anders als Harry Reffold sei, und da ihm dieser gestern auf unerklärliche Weise für einige Stunden entwischt war, gab es für den Inspektor auch in diesem neuen Falle bezüglich der Täterschaft nicht den geringsten Zweifel.

Er sagte dies Burns auch ganz unumwunden. »Und anstatt erst wieder lange herumzuschnüffeln, sollten wir den Burschen endlich beim Kragen nehmen«, schloß er mißvergnügt und anzüglich.

Als sie das Büro Craytons erreichten, vor dem sich die aufgeregten Mietparteien mit Kind und Kegel versammelt hatten, ließ Burns von einem der wachhabenden Polizisten erst einmal Platz schaffen und besah sich den dunklen Gang dieses Traktes. Neben der Glastür befanden sich rechts weitere drei, links zwei Türen, und der Oberinspektor beauftragte einen Sergeanten, sofort die Bestimmung und die Bewohner dieser Räumlichkeiten festzustellen. Dann trat er durch die Glastür in den kleinen Vorraum, der mit allerlei Gerümpel und Aktenstößen angefüllt war, und von hier in das Schreibzimmer, von dem links eine Tür in das Arbeitszimmer Craytons führte.

Er sah sich in dem Raum flüchtig um und wandte sich dann an Webster. »Sie können sich mittlerweile den Schreiber vornehmen. Ich glaube zwar nicht, daß er viel zu sagen haben wird, aber vielleicht kann er uns wenigstens den einen oder anderen Fingerzeig geben. Und dann wäre es mir lieb, wenn Sie für alle Fälle Doktor Shipley herbitten würden.«

Burns öffnete vorsichtig die Tür zum nächsten Zimmer, und Webster, der ihm über die Schulter blickte, konnte die reglose Gestalt Craytons wahrnehmen, die noch immer so, wie man sie gefunden hatte, im Sessel vor dem Schreibtisch lag.

Aber der Oberinspektor wollte offenbar bei seiner Untersuchung allein bleiben, denn er drückte Webster die Tür vor der Nase zu. Nun, Webster war nicht böse darüber. Wenn das wieder so ein Fall war wie jener im Kastanienhaus, so war ja sicherlich nichts zu finden, und er freute sich schon darauf, wie Burns, von dessen Fähigkeiten man soviel Aufhebens machte, mit langem Gesicht wieder erscheinen würde.

Er mußte aber auf diesen Augenblick ziemlich lange warten, denn Burns schien die Sache äußerst gründlich zu nehmen. Er selbst hatte schon längst mit Dr. Shipley gesprochen und dann den Schreiber ins Verhör genommen, aber der Oberinspektor ließ sich noch immer nicht blicken.

Webster hörte aus dem Nebenzimmer nur hie und da ein Geräusch, als ob Schränke und Laden geöffnet und schwere Möbel gerückt würden.

Endlich erschien Burns wieder in der Tür, und sein gerötetes Gesicht sowie seine zerknitterten und bestaubten Kleider verrieten, daß er schwere Arbeit geleistet hatte.

»Nun«, fragte Webster und stellte sich breitspurig vor ihm auf, »glauben Sie, daß wir diesmal mehr Glück haben werden?«

Der Oberinspektor fuhr sich mit seinem großgemusterten Taschentuch über das erhitzte Gesicht und schüttelte wortlos den Kopf. Er schien über etwas nachzugrübeln, und erst nach einer Weile ging er in den Vorraum und rief nach dem Sergeanten, den er mit der Feststellung der Personalien der benachbarten Mietparteien beauftragt hatte.

In diesem Augenblick betrat Dr. Shipley das Kontor und betrachtete überrascht und verwundert die seltsame Gruppe.

Aber schon in der nächsten Sekunde hatte er die Situation erfaßt und war mit einem Satz bei dem Detektiv, den er forschend musterte. Gleich darauf manipulierte er auch schon in seiner Taschenapotheke und fragte nur hastig über die Schulter: »Wann ist das geschehen?«

»Gerade eben«, erwiderte Webster und sprach so leise, als ob ihm die Kehle zusammengepreßt würde. »Er hat da drinnen alles untersucht und, als er herauskam, den Mann dort verhört. Und dann ist er plötzlich umgefallen, wie ein Stück Holz.«

Der Arzt war bereits dabei, dem Bewußtlosen eine Injektion zu verabreichen.

»Rufen Sie das Polizeikrankenhaus an, daß man Burns sofort abholt.«

Während Webster am Apparat sprach, ging Dr. Shipley ins Nebenzimmer, kehrte aber schon nach kurzer Zeit wieder zurück. »Es ist tatsächlich wieder dieselbe niederträchtige Geschichte«, sagte er, während er nervös auf und ab ging. »Ich will nur hoffen, daß ich diesmal noch zur rechten Zeit gekommen bin.«

»Werden Sie ihn bald wieder auf den Damm bringen?« Der Inspektor erwartete die Antwort mit Ungeduld.

Dr. Shipley zuckte mit den Achseln. »Wenn alles gut geht, in vierundzwanzig Stunden. Er dürfte zwar etwas mitgenommen sein, aber wie ich Burns kenne, wird er sich aus ein bißchen Schwindelgefühl nicht sonderlich viel machen.«

Er trat zu dem Kranken, den der Sergeant mit Hilfe der Polizisten mittlerweile auf den Fußboden gebettet hatte, fühlte ihm den Puls und nickte dann befriedigt.

Auf einmal aber wandte er sich in einem plötzlichen Entschluß an Webster, und um seinen Mund lagen zwei harte Falten.

»Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß wir in dieser Sache weiterkommen«, sagte er, »und ich kann Sie vielleicht auf eine Spur bringen: Ich habe den Mann wiedergesehen, der mich zurückgebracht hat.«

Der Inspektor machte ein Gesicht, als ob der Blitz neben ihm eingeschlagen hätte. »Wo?« keuchte er. »Kennen Sie ihn . . .?«

Der Arzt schüttelte mit dem Kopfe. »Ich sah ihn in einem Restaurant . . .«

Er brach plötzlich zögernd ab, aber Webster war vor Aufregung außer Rand und Band.

»Wie sieht er aus?« drängte er. »Wenn Sie mir eine halbwegs vernünftige Beschreibung geben können, garantiere ich Ihnen, daß wir ihn binnen weniger Stunden haben werden.«

Dr. Shipley wich den ungeduldigen Augen des Inspektors aus und mußte noch einmal gegen die innere Stimme ankämpfen, die ihn schweigen ließ. Aber er fühlte sich in seinem Vertrauen zu sehr getäuscht und in seinen Gefühlen zu sehr verletzt, um weitere Rücksicht zu nehmen.

»Das alles wird nicht notwendig sein«, meinte er nach einer Pause, und Webster wunderte sich, wie gepreßt seine Stimme klang, »wenn Sie sich mit Mrs. Carringhton ins Einvernehmen setzen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte der Inspektor betroffen.

»Daß Ihnen die Dame wohl genaue Auskunft über den Unbekannten geben kann, da sie gestern mit ihm gespeist hat.«

Dr. Shipley hatte versucht, seine Mitteilung in möglichst gleichgültigem Ton vorzubringen, aber es war ihm nicht gelungen, und Webster sah ihn verblüfft an.

»Warum haben Sie sie denn nicht selbst gefragt? Ich dächte, das hätte Sie doch interessieren müssen . . .«

Der Inspektor verstummte und zog die buschigen Brauen hoch. Er begann zu ahnen, was in dem andern vorging, und war darüber ehrlich bestürzt. Dann aber kam ihm zum Bewußtsein, daß es ihm nun vielleicht als erstem vorbehalten war, etwas Licht in das Dunkel zu bringen, und er klopfte Shipley beruhigend auf die Schulter.

»Also – ich werde die Sache in die Hand nehmen. Kann mir denken, daß Ihnen die Geschichte verdammt unangenehm ist. Darauf, daß Mrs. Carringhton mit im Spiel sein könnte, wäre ich allerdings nie gekommen . . .«

Dr. Shipley verspürte plötzlich eine unbändige Wut auf sich und alle Welt.

»Wie kommen Sie auf diese alberne Idee?« fuhr er den Inspektor an. »Ich habe Ihnen nur gesagt, daß ich Mrs. Carringhton in der Gesellschaft des Unbekannten gesehen habe – das ist noch lange kein Verbrechen. Und im übrigen handelt es sich um den Mann, der mich befreit hat, nicht um jenen, von dem ich überfallen wurde.«

Der Inspektor war völlig niedergedonnert, und er war froh, daß die Ankunft der Ambulanz, die Burns ins Krankenhaus bringen sollte, der ungemütlichen Situation ein Ende bereitete. Erst als Dr. Shipley sich anschickte, der Bahre, auf der man den Kranken forttrug, zu folgen, nahm Webster wieder einen Anlauf.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie jetzt nach Hause begleite?« fragte er schüchtern und vorsichtig. »Sie werden doch sicher auch wünschen, daß wir bald genauer wissen, woran wir sind . . .«

»Ich wünsche nur, mit der Geschichte nichts weiter zu tun zu haben«, erwiderte Shipley schroff. »Gehen Sie also hübsch allein, denn ich bringe Burns ins Krankenhaus und werde dort wahrscheinlich längere Zeit zurückgehalten werden.«

Als Webster allein war, kratzte er sich eine Weile unschlüssig den Schädel, dann reckte er sich energisch auf, und seine Miene verriet nichts Gutes.

 

John war außerordentlich erstaunt, den Inspektor mit einer so düsteren und strengen Amtsmiene vor sich zu sehen, wie er sie an ihm noch nie beobachtet hatte.

»Doktor Shipley ist leider nicht zu Hause«, sagte er.

»Weiß ich«, erwiderte Webster barsch. »Melden Sie mich Mrs. Carringhton.«

John ging mit gekränkter Würde ab, und als er zurückkehrte, um den Beamten in den ersten Stock zu geleiten, war seine Miene zu arroganter Höflichkeit gefroren.

»Mrs. Carringhton«, sagte Webster und sah an den hübschen, freundlich lächelnden Augen krampfhaft vorbei, »es tut mir sehr leid, aber ich muß Sie dienstlich belästigen. Es handelt sich vorläufig um eine Auskunft . . .«

Er schöpfte etwas Atem, und Mrs. Cicely, die plötzlich sehr verlegen geworden war, machte automatisch eine einladende Handbewegung, die er aber übersah.

»Jawohl . . . nämlich . . . es würde uns daran liegen, Näheres über eine Persönlichkeit zu erfahren, die uns sehr interessiert und die Sie kennen: Ich meine den Herrn, in dessen Gesellschaft Sie gestern gefrühstückt haben.«

Der Inspektor beobachtete scharf, welchen Eindruck seine Worte auf Mrs. Carringhton machen würden. Er war sehr befriedigt, als er bemerkte, wie diese immer mehr die Fassung verlor. Sie ließ sich auch sehr lange Zeit zum Überlegen, und erst als Webster ein nachdrückliches Räuspern hören ließ, bequemte sie sich zu antworten.

»Wenn Sie mich fragen, muß ich Ihnen natürlich Auskunft geben, obwohl ich dieses förmliche Verhör etwas seltsam finde. Aber Sie müssen ja wohl Ihre Gründe dafür haben, Mr. Webster. Der betreffende Herr war Mr. Harry Reffold . . .«

Mrs. Carringhton sah überrascht auf den Beamten, der sie mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde anstarrte, und trotz ihrer augenblicklichen Stimmung konnte sie sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Harry Reffold . . .« stotterte Webster. »So . . . Also der . . .« Sein Gesicht nahm plötzlich einen entschlossenen Ausdruck an. »Ich möchte nur wünschen, daß Ihnen diese Bekanntschaft nicht allzugroße Ungelegenheiten bereitet.«

Mrs. Carringhton blickte dem Inspektor, der sich eilig verabschiedete, betroffen nach. Einen Augenblick schien es, als ob sie ihn zurückrufen wollte, und noch lange, nachdem er gegangen war, stand sie mit den Händen vor den Augen, bis sie zu einem Entschluß gekommen war.

Betty, die auf das schrille Glockenzeichen hereinstürzte, glaubte nicht recht zu hören, als sie den Befehl ihrer Herrin vernahm. »Packen Sie so rasch wie möglich. Wir werden noch heute das Haus verlassen. Aber ich wünsche nicht, daß Sie darüber sprechen. Auch zu John nicht.«

Das Mädchen sah einige Augenblicke sehr verständnislos drein, aber Mrs. Carringhton machte eine höchst ungeduldige Bewegung, und Betty beeilte sich ihrem Auftrag nachzukommen.

Inspektor Webster ging den Mauern von Scotland Yard am liebsten aus dem Wege, aber heute konnte er es kaum erwarten, diesen gefährlichen Boden zu betreten. Als er sich beim Stellvertreter des Chefs melden ließ, tat er dies im Bewußtsein, daß ein großer Augenblick seiner Karriere gekommen sei.

Der Kommissar empfing ihn mit lebhaftem Interesse.

»Was Neues im Milner-Fall?«

»Jawohl Sir«, antwortete Webster wichtig und gab dann einen Bericht über die letzten Ereignisse. Der Beamte hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Verdammt noch einmal«, fuhr er auf, als er von Burns' Erkrankung erfuhr, »die Sache wird ja immer schöner. Wenn das so weitergeht . . .«

»Es wird nicht mehr lange so weitergehen«, fiel ihm Webster gewichtig ins Wort. »Ich bitte um einen Haftbefehl gegen Harry Reffold in Newchurch, ›Queen Victoria‹.«

»Ah . . .« Der Kommissar hob überrascht den Kopf. »Nun, ich würde Ihnen diesen Erfolg wünschen, Inspektor. Wie sagten Sie? Harry Reffold? Sind Sie Ihrer Sache sicher?«

»Todsicher, Sir.«

»Schön. Ich werde sofort dem Chef berichten. Gedulden Sie sich einen Augenblick. Vielleicht will er selbst mit Ihnen sprechen.«

Webster mußte sich eine ziemliche Weile gedulden, aber das machte ihm nichts aus, denn es waren recht angenehme Gedanken, mit denen er sich die Zeit vertrieb, und neben dem ›Oberinspektor‹, der ihm nun nicht mehr entgehen konnte, spielte hierbei auch Mrs. Benett eine besondere Rolle.

Endlich kehrte der Kommissar zurück. Webster empfing ihn mit einem erwartungsvollen Blick.

Aber der Beamte hatte einen roten Kopf, und der Inspektor war über das, was er zu hören bekam, äußerst bestürzt.

»Was, zum Teufel, haben Sie denn angestellt? Ich kenne mich in der Sache nicht aus. Der Chef hat zuerst unbändig aufgelacht, dann aber geriet er außer sich. Und er läßt Ihnen sagen, daß Sie bis zur Genesung Burns' nichts unternehmen sollen. Haben Sie verstanden?«

Webster nickte, gab aber doch noch nicht alle Hoffnung auf.

»Und was ist mit dem Haftbefehl?« fragte er hartnäckig.

»Mit dem Haftbefehl?« Der Kommissar sah ihn eigentümlich an. »Nun, wenn Sie's durchaus wissen wollen: Ihr Pensionsgesuch unterschreibt der Chef sofort, falls Sie dies wünschen – den Haftbefehl nicht. Das sind seine eigenen Worte.«

Inspektor Webster verließ Scotland Yard mit dem feierlichen Gelöbnis, nie wieder einen Fuß in diese verfluchten Mauern zu setzen, wenn es nicht unbedingt sein mußte.

Was aber Harry Reffold betraf, so sollte ihm dieser trotz der stupiden Blindheit von Scotland Yard nicht entwischen.

 

Dr. Shipley hatte mehrere Stunden am Krankenlager Burns' verbracht und die Genugtuung gehabt, den Patienten in einer Verfassung verlassen zu können, die seine baldige Wiederherstellung verbürgte.

Burns hatte bereits zusammenhängende Angaben machen können und es unterlag keinem Zweifel, daß er bei der Durchsuchung des Arbeitszimmers Craytons irgendwie mit dem gefährlichen Giftstoff in Berührung gekommen war.

Nach den Mitteilungen Burns' war ihm besonders eine Spalte aufgefallen, die er an der linken getäfelten Wand knapp an der Fußbodenleiste entdeckt hatte und von der er vermutete, daß sie eine Verbindung mit dem anstoßenden Raum bilde. Bei der Sondierung war er zwar jenseits auf Mauerwerk gestoßen, aber es war möglich, daß die Öffnung in dem anstoßenden Zimmer wieder geschlossen worden war. Die Aussagen Dan Peels bestätigten diesen Verdacht. Man hatte den Mann durch eine eigenartige Beschäftigung, die man ihm gab, offenbar von seiner Wohnung fernhalten wollen, um dadurch Gelegenheit zu haben, Crayton beständig überwachen und gegebenenfalls auf möglichst unauffällige Weise beseitigen zu können.

Trotz seiner Hinfälligkeit brannte Burns bereits vor Begierde, den Fall wieder aufzunehmen, und Shipley fand es angezeigt, ihm ein Schlafmittel zu verschreiben, damit er vor meiner ununterbrochen arbeitenden Phantasie Ruhe fände.

Es war bereits spät am Abend, als der Arzt aus seinem Klub heimkehrte. Er wurde von John mit einer geradezu steinernen Miene empfangen.

Dr. Shipley fühlte sich bei diesem Gesicht seines Dieners plötzlich nicht recht wohl, aber erst nachdem er ihm Mantel und Hut abgenommen hatte, bequemte sich John, auf die stumme Frage seines Herrn zu antworten.

»Madam ist vor zwei Stunden mit Miss Betty abgereist, Sir. Sie hat mir einen Brief übergeben, den ich auf den Schreibtisch gelegt habe.«

Dr. Shipley wandte sich rasch und wortlos ab, um in sein Zimmer zu gehen. Ehe ihm John folgen konnte, hörte er, wie die Tür heftig zufiel und der Riegel vorgeschoben wurde.


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