Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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19

Das Eiserne Tor war ein Gebäudekomplex in jenem Teil von Rotherhithe, dem man am besten aus dem Wege ging.

Seinen Namen führte es von einem mächtigen, verwitterten eisernen Portal, das zwischen zwei hohen Giebelhäusern in ein Gewirr von Höfen und Baulichkeiten führte, die eng aneinandergedrängt waren und trotz ihrer Ungleichheit ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden schienen.

Der ausgedehnte Block glich einem Fuchsbau mit unzähligen Ausschlupfen, denn wer das Eiserne Tor passiert hatte und sich hier auskannte, konnte bereits nach wenigen Minuten ganz unvermutet in einer entlegenen Gasse wieder auftauchen.

Daß ein so idealer Schlupfwinkel der Polizei schon viel zu schaffen gemacht hatte, war kein Wunder, aber alle Versuche, das Nest für alle Zeiten gründlich auszuräuchern, waren bisher fehlgeschlagen. Denn wenn man auch den ganzen riesigen Komplex mit einem Heer von Schutzmannschaften umstellt hätte, so blieben immer noch so viele unterirdische Kanäle, daß das verfolgte Wild sich in aller Gemächlichkeit in Sicherheit bringen konnte. Heute aufgescheucht, hatte es sich morgen schon wieder eingenistet, und Scotland Yard wußte, daß hier einige der gefährlichsten schweren Jungen hausten, aber man wußte auch, daß sie nicht zu fassen waren, solange sie nicht die Unvorsichtigkeit begingen, sich aus diesem Bau hervorzuwagen.

Inmitten eines der großen Höfe stand ein kleines, einstöckiges Haus. An der linken Seite war ein primitiver Holzschuppen angebaut, und einige Kraftwagen verschiedenster Typen sowie eine einfache Holztafel zeigten an, daß hier Tonio Perelli seine Autoreparaturwerkstatt hatte.

Perelli hatte das ganze Haus für einen Spottpreis gemietet, bewohnte jedoch nur zwei Stuben im Erdgeschoß, die dürftig eingerichtet, aber peinlich saubergehalten waren. Er hatte keine Bedienung, sondern schien den ganzen Haushalt selbst zu besorgen, und die einzigen, die das Haus betraten, waren einige Leute, die sich von Zeit zu Zeit einstellten, um die eingebrachten Wagen in Arbeit zu nehmen. Im übrigen kümmerten sich die Bewohner des Eisernen Tores um den verschlossenen Italiener und sein Treiben nicht weiter, da jeder von ihnen mit sich selbst genug zu tun hatte.

Es mochte bereits gegen Mitternacht sein, als Perelli plötzlich mit gespannter Aufmerksamkeit das Schaltbrett betrachtete, das ihm gegenüber an der Wand hing. Eine der kleinen Glühbirnen war sekundenlang aufgeflammt, und während eine gedämpfte Klingel zu rattern begann, erschien auf der Tafel ein farbiges Lichtsignal, das sich nach kurzen Intervallen noch zweimal wiederholte.

Der Mann legte rasch seine Pfeife beiseite, sprang zu dem Brett, wo er auf einige Taster drückte, und eilte dann in den dunklen Hof, um lautlos in dem Schuppen zu verschwinden.

Wenige Augenblicke später stieg er beim Schein einer Taschenlampe eine schmale Steintreppe hinab und bog in einen langen, niedrigen Gang ein, an dessen rückwärtigem Ende sich rechts zwei massive, mit starken Eisenbändern beschlagene Türen befanden.

Der Mann leuchtete hier eine Weile, dann setzte er seinen Weg fort, bis er an die Mauer stieß, die den Gang abschloß. Er nahm ein flaches Metallstück aus der Tasche und steckte es in eine Fuge zwischen den bloßen Steinblöcken. Wenige Sekunden später begann die Mauer sich zu drehen, so daß er bequem durchschlüpfen konnte.

Er befand sich in einem kaum zwei Quadratmeter großen Raum, der zur Rechten ebenfalls eine der schweren Türen hatte, und nachdem Perelli wie vorher mit dem Metallkontakt das Lichtsignal gegeben hatte, fand er sofort Einlaß.

Obwohl der Italiener bereits daran gewöhnt war, mußte er doch für einige Sekunden die Lider schließen, um durch das Licht, das ihm mit einem Mal entgegenstrahlte, nicht geblendet zu werden.

Das Gewölbe unter dem verfallenen Häuserblock des Eisernen Tors glich einem phantastischen Prunkraum, und jedes der kostbaren Möbelstücke sprach von einem üppigen Geschmack.

Perelli blieb an der Tür stehen, und alles in seiner Haltung und in seinem ganzen Wesen verriet bedingungslose Unterwürfigkeit.

Minutenlang ruhten seine dunklen Augen ergeben auf der Gestalt im langen, schwarzen Seidenmantel, die lässig in einem der tiefen Klubsessel ruhte. Kopf und Gesicht waren von einer Kapuze verhüllt, und sogar die auffallend schlanken Hände waren in Handschuhen verborgen.

Es verging einige Zeit, ehe die scharfe Stimme des Geheimnisvollen die Stille des Raumes unterbrach. »Es wird in den nächsten Tagen viel Arbeit geben, Tonio. Ist alles bereit?«

»Alles, Herr«, versicherte der Mann, und sein muskulöser Körper straffte sich.

»Wieviel Leute stehen dir zur Verfügung?«

»Elf. Sechs bei den Telefonen und fünf für den Außendienst.«

Der Verhüllte dachte einen Augenblick nach.

»Du kannst die Verbindungen mit Doktor Shipley und Flesh auflassen. Sie können uns nicht mehr viel nützen. Dafür ist Vanes Landhaus in Newchurch sofort anzuschließen. Die Leitung muß bereits morgen funktionieren. Und an dem Draht von Scotland Yard und von der ›Queen Victoria‹ ist verschärfter Dienst zu halten. Sind die Leute unbedingt verläßlich?«

»Es sind unsere besten, Sir.«

Der ›Herr‹ machte mit der feinen, schmalen Rechten eine verächtliche Bewegung. »Wo ist Sam?«

»Drüben.« Der Italiener deutete nach der rechten Wand. »Ich habe ihm den Bart abgenommen, wie Sie befohlen haben, und er darf das Eiserne Tor nicht verlassen.«

Der andere nickte. »Er ist morgen in das Haus in Newchurch zu bringen und noch zwei der Tüchtigsten, die du hast. Unterweise sie in den Signalen und in allem übrigen.«

Der Verhüllte erhob sich plötzlich mit einer elastischen Bewegung, reckte seine mittelgroße, geschmeidige Gestalt und ging mit eigenartigen, weit ausgreifenden Schritten einige Male auf und ab.

Die Mauern des Gewölbes waren mit schweren, kostbaren Stoffen verhangen, und der Widerschein der vielen farbigen Lampen schuf phantastische Lichteffekte.

Nach einer Weile machte der ›Herr‹ an der rechten Wand halt, schob die Stoffverkleidung etwas zur Seite, hinter der ein Sehschlitz zum Vorschein kam, durch den er die anstoßenden Räumlichkeiten überblicken konnte.

In dem ersten Gewölbe, das mit seinem Gewirr von Drähten und Apparaten einer Telefonzentrale glich, saßen drei Männer mit Kopfhörern unbeweglich an kleinen Tischen, sichtlich jeden Augenblick bereit, ein Gespräch auf den vor ihnen liegenden Blocks festzuhalten. Im nächsten Raum, der nur durch einen massiven Steinbogen abgetrennt war, standen einige Feldbetten und ein primitiver Tisch mit einigen Stühlen, auf denen mehrere Gestalten lungerten, die der Geheimnisvolle scharfen Auges musterte.

»Von den zwei Leuten, die dir bleiben, übernimmt der eine Burns, der augenblicklich im Polizeihospital liegt, der andere Webster«, wandte er sich wieder an Perelli, indem er das Guckloch und die Verkleidung schloß. »Sie sollen vorläufig nichts unternehmen, aber ich muß über jeden Schritt der beiden unterrichtet werden. Sage ihnen, daß es um ihre Köpfe geht und daß sie meinen Arm weit mehr zu fürchten haben als den Strick. – Du selbst mußt Tag und Nacht auf dem Posten bleiben, Tonio«, fuhr er nach einer Pause fort, »denn es können ernste Dinge geschehen. Ist die Kammer unter der Treppe vorbereitet?«

Die Frage ließ den Italiener mit einem raschen, forschenden Blick aufschauen. »Ja, Herr«, erwiderte er, und in seinen Augen lag ein unruhiges Flimmern.

»Dann lade sie morgen und schließe die Leitung an. Den roten Draht, merke dir dies wohl. Und nimm genau die Menge, die ich dir angegeben habe. Es darf nur die Treppe und der Gang bis zu den Türen verschüttet werden. Das genügt, um die Falle zu schließen, wenn ein allzu Neugieriger die Nase hereinstecken sollte.«

»Glauben Sie, daß das notwendig sein wird, Herr? Steht es so schlimm?«

Es klang zögernd und unterwürfig, aber der Verhüllte nahm die Frage sehr übel. Er schnellte jäh herum, und seine Bewegungen bekamen plötzlich etwas Katzenartiges, als er nahe an Perelli herantrat.

»Schlimm?« wiederholte er. »Was ist das für ein Wort, Tonio? Bekommst du's mit der Angst zu tun? Du mußt es nur sagen, und ich lasse dich gehen . . .«

Der Italiener fühlte die drohende Schärfe, die in den harmlosen Worten lag. Aber er verzog keine Miene und richtete seine dunklen Augen fest und freimütig auf den andern.

»So war es nicht gemeint, Herr. Wenn Sie es befehlen, so sprenge ich mich selbst mit in die Luft, denn ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin. Wären Sie nicht gewesen, so hätte ich schon vor einem Jahr am Galgen gehangen . . .«

»Es ist gut, daß du dich daran erinnerst«, sagte der Geheimnisvolle. »Und es soll dein Schaden nicht sein, wenn du aushältst.«

»Herr, darauf kommt es mir nicht an«, wehrte Perelli lebhaft ab. »Nur möchte ich wissen, was vorgeht, damit ich mich danach richten kann. Und vielleicht finde ich auch einen Ausweg, denn ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Denken Sie nur daran, wie wir den Inder hier ausgehoben haben. Da habe ich gewiß bewiesen, daß ich zu brauchen bin und daß Sie sich auf mich verlassen können.«

Der ›Herr‹ drehte an den Lichtschaltern, die neben dem Schreibtisch in die Mauer eingelassen waren, und schien nur für das bunte Farbenspiel Interesse zu haben, das er auslöste.

»Vielleicht ist es wirklich gut, Tonio, wenn du es weißt«, unterbrach er das Schweigen. »Es besteht zwar noch lange kein Grund zu Befürchtungen, aber wir müssen auf der Hut sein. Die Polizei scheint sich wieder einmal für das Eiserne Tor zu interessieren und wird wohl alles gründlich durchschnüffeln.«

Perelli schnitt eine hämische Grimasse. »Sie wird nichts finden, Herr. Wenn aber einer durch Zufall auf etwas kommen sollte«, fügte er hinzu und zeigte seine Zähne, »so wird er es für sich behalten müssen.«

Der Verhüllte nickte. »Ich verlasse mich auf dich, und wenn es zum Äußersten kommt, so haben wir ja immer noch den roten Draht. Deshalb sorge ich mich auch nicht. Aber daß uns in der letzten Zeit alles fehlschlug und daß wegen jeder Sache solch ein Lärm entstand, das macht mich unsicher. Und ich hatte damit gerechnet, daß wir gerade mit dem Teppich eine sichere und ruhige Arbeit haben würden.«

»Ich nicht, Herr«, fiel der Italiener hastig ein, und in seiner Miene spiegelte sich zum ersten Male etwas wie Furcht. »Sie wissen, daß ich Sie davor gewarnt habe. Es gibt Dinge, die einem Unglück bringen, glauben Sie mir, Herr, und solch ein Ding ist der Teppich. Ich muß immer an den giftigen, höhnischen Blick dieses indischen Halunken denken, als ich ihm die Hand um den Hals legte. Er hat sicher in diesem Augenblick daran gedacht, daß ihn der verhexte Teppich rächen werde. Wenn Sie es sich überlegen, Herr, so ist wirklich alles Unglück, das wir in der letzten Zeit hatten, von dem Teppich gekommen. Erst hat es Bill getroffen, den wir eines Tages wie eine Leiche auf dem Teppich gefunden haben und schon in die Themse werfen wollten. Dabei sind wir dann fast überrascht worden, und Bill ist der Polizei und diesem Doktor Shipley in die Hände gefallen, der uns mit seiner verdammten Gescheitheit in die Karten geguckt hat. Und dann ist eine Sache nach der andern schiefgegangen. Doktor Shipley hat unsere Leute verhauen, und als wir bei ihm einbrachen, um das gewisse Papier zu holen, ist uns ein anderer in die Quere gekommen und hat es uns wieder abgenommen. Und dann haben wir trotz des Teppichs bei Milner und Stone das Nachsehen gehabt, und Doktor Shipley ist uns auch entwischt, obgleich wir ihn schon so sicher hatten. Wer weiß, was jetzt bei der Crayton-Sache noch herauskommen wird. Das geht nicht mit natürlichen Dingen zu, Herr . . .«

Der Italiener hatte sich in Erregung geredet und wischte sich nun nervös die Stirn. Er hatte es mit seiner abergläubischen Angst zu tun bekommen, und wenn die ihm im Genick saß, dann war es mit seinem Draufgängertum zu Ende.

Der ›Herr‹ hatte ihn ruhig aussprechen lassen, aber man merkte es seiner Stimme an, wie ärgerlich er war.

»Man könnte glauben, du seist ein altes furchtsames Weib, wenn man dich so reden hört«, fuhr er Perelli an. »Glaubst du wirklich an solchen Blödsinn? Wenn wir Pech hatten, so ist daran nicht der Teppich schuld, sondern die Unzuverlässigkeit unserer Leute.«

Die Hand des ›Herrn‹ fuhr mit einer kurzen, energischen Bewegung durch die Luft. »Wir werden reinen Tisch machen und für Ersatz sorgen müssen, Tonio. Auch für Flesh, denn es kann sein, daß seine Stunde schon heute oder morgen schlägt. Laß ihn nicht einen Schritt ohne Überwachung tun, und sieh jedes seiner Telefongespräche sofort durch, sobald es aufgenommen ist. Es kann viel davon abhängen. Und nochmals: Vergiß nicht den roten Draht.«

Der Verhüllte entließ Tonio mit einem Nicken und drückte auf eine der Tasten, die sich in allen möglichen Farben kreisförmig von der Wandverkleidung abhoben. Die schwere Tür öffnete sich etwa mannsbreit, und der Italiener verschwand stumm mit ehrerbietig gekrümmtem Rücken.

Eine Weile verharrte der ›Herr‹ mit gekreuzten Armen, dann begann er mit kurzen, elastischen Schritten, die von seinem bisherigen Gang ganz verschieden waren, hin und her zu gehen. Er besah sich an verschiedenen Stellen prüfend die Wände und blieb schließlich an der Mauer gegenüber der Tür stehen. Auf einen Druck öffnete sich ein in der Mauer verborgenes geräumiges Geheimfach, das mit allen möglichen Papieren angefüllt war, und der Verhüllte entnahm ihm zunächst ein Bündel Banknoten, das er sorgfältig abzählte, und dann ein schadhaftes, dickes Kuvert von blauer Farbe, worauf er die Dinge zu sich steckte und das Fach wieder schloß.

Dann bückte er sich, tastete eine Weile am unteren Ende der Mauer herum und zog ein dünnes, rotumsponnenes Kabel hervor, das er an der Wand emporführte und etwa in Kopfhöhe sorgfältig zwischen der Stoffbekleidung verbarg. Den roten Druckkontakt am Ende des Drahtes versenkte er ebenfalls in eine der Stoffalten, die er bedachtsam auswählte.

Als er damit fertig war, griff er wiederholt nach dem Knopf, als ob er sich dadurch ein für allemal einprägen wolle, wo dieser zu finden sei.

Hierauf löschte er die Lichter bis auf eine winzige Birne, und seine Gestalt verschmolz mit der dunklen Öffnung, die sich in der Wand gegenüber der Tür aufgetan hatte.

Aber noch einmal erschien die Hand und tastete prüfend nach der Falte, die den roten Kontakt barg.

Etwa zehn Minuten später erschien eine mittelgroße, schlanke Gestalt unter dem dunklen Torbogen eines der schmutzigsten Häuser, die das Eiserne Tor umsäumten, und spähte minutenlang in das menschenleere Gäßchen. Es war kein Laut zu hören, und der kalte Nebel war dicht wie eine Wand.

Rasch und sicher, als ob er den Weg schon unzählige Male gegangen wäre, eilte Oberst Roy Gregory die Häuser entlang und war bereits nach wenigen Schritten verschwunden.


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