Julius Stinde
Die Familie Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt
Julius Stinde

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Eine Pfingsttour.

Ich war noch nicht mit der Stadtbahn gefahren, die Kinder auch nicht, und deshalb sagte ich zu meinem Karl, es könnte doch wohl nichts Reizvolleres geben, als am ersten Pfingsttage einen Ausflug mit theilweiser Benutzung der Stadtbahn zu machen. Dies käme billiger als alles Andere, sei belehrend und interessant, zumal das Getobe vom Volk erst am zweiten Feiertag stattfände.

Mein Karl war damit einverstanden. Ich schickte Betti nach Bergfeldtens, ob sie auch mitmachten, aber als Betti wiederkam, hatte sie nur halbe Antworten bekommen und sah so windschief aus den Augen, daß mir irgend etwas sengerich roch; ich wußte nur noch nicht was. Hab's aber nachher erfahren.

»Warum haben Bergfeldts nicht fest zugesagt?« fragte ich. »Sie meinten, Stadtbahn sei zu ordinär!« – »Auch wenn wir damit fahren?« entgegnete ich scharf und fragte dann weiter: »Fährt denn Dein Emil mit uns?« – Sie schwieg. – »Oder fährst Du etwa mit Bergfeldts?« Abermaliges Schweigen.

»Ich denke doch, daß der Bräutigam an solchem Tage seine Braut nicht allein läßt,« bemerkte ich. – »Ich habe Emil nicht gesprochen!« erwiderte Betti. – »Dann frage ihn morgen früh.« – »Vielleicht!« antwortete sie – »Was heißt das, vielleicht?« rief ich, »habt Ihr Euch erzürnt? – Seid Ihr böse miteinander?« – »Nein,« erwiderte Betti ganz leise. – »Nun, also was denn? Was giebt's? Heraus mit der Sprache!« – »Nichts,« flüsterte sie, und dann brach sie in lautes Weinen aus und wollte reell ohnmächtig werden.

Ich that Alles, was man in solchen Fällen thut, ich holte Eau de Cologne, ich machte ihr das Zeug auf, es war ihr ein bischen knapp, denn sie hatte sehr zugenommen, und kajolirte mit ihr herum, bis sie wieder zu sich kam. – »Nun sag' mir doch, was ist denn passirt?« fragte ich, »Deiner Mutter kannst Du doch wohl Alles vertrauen?« – »O nein,« rief sie aus. »Nein, nein, frage mich nicht, es ist zu schrecklich!«

Mir stiegen allerlei furchtbare Vermuthungen auf, aber ich lächelte, während mir das Herz zerspringen wollte.

»Es wird das Beste sein, Ihr macht bald Hochzeit,« sagte ich endlich. »Nicht wahr, zum Herbst heirathet Ihr?«

Den Blick, den das Kind mir nun zuwarf, vergesse ich in meinem Leben nicht. Die Betti hat ja so hübsche Rehaugen, aber sie sah mich damit an, als wäre sie bis auf den Tod verwundet, so jammervoll und so wehleidig; es schnitt mir wie mit einem Messer in die Seele. – »Nie!«, sagte sie, »nie!« – »Nanu?« rief ich. »Er wird Dich heirathen, so wahr ich Wilhelmine heiße.« – »Aber ich nehme ihn nicht,« entgegnete Betti. – »Nun wird's immer schöner. Und warum nicht?« – »Weil ich ihn hasse, ihn verabscheue; o – o – er –.« Und nun bekam sie Zufälle, daß ich sie zu Bette bringen mußte. Was eigentlich vorgefallen war, konnte ich nicht aus ihr herauskriegen, denn sie ist von Natur etwas bockig, und was sie nicht sagen will, das sagt sie nicht. Sie schwieg auf alle Fragen, und ich blieb so klug wie zuvor.

Mit meinem Karl sprach ich nicht über meine Sorgen; ich dachte, wenn ich erst weiß, was los ist, soll er's schon erfahren. Um so eifriger betrieb ich die Vorbereitungen zu der Pfingstfahrt, zumal Betti am andern Morgen ganz so war wie gewöhnlich. Nur die Mundwinkel hingen tiefer und unter den Augen schien sie mir reichlich blau. –

Wir Damen hatten uns natürlich einfach, aber doch gefällig gekleidet. Emmi sah in ihrem neuen Cretonkleid reizend aus, daß ich wohl wünschte, Dr. Wrenzchen wäre ihr zufällig begegnet. Betti ging egal mit Emmi, und ich hatte mich in Taubengrau mit rothen Fuchsias drauf geworfen, was jetzt erste Mode ist. Mein Karl sah nobel aus wie immer.

Wir waren überein gekommen, erst zu Hause gemüthlich zu essen und den Nachmittag zur Ausfahrt zu benutzen, denn so den ganzen Tag mit neuen Kleidern unterwegs zu sein, das halte ich nicht für ökonomisch, und so kam es, daß wir denn gegen drei Uhr auf dem Bahnhof Alexanderplatz in ein ziemlich leeres Kopee stiegen und davonsausten.

»Siehst Du, mein süßer Karl,« sagte ich, »am ersten Feiertage findet man schon Platz; schöner können wir es gar nicht wünschen.« – Ehe mein Karl antworten konnte, hielten wir schon auf dem Bahnhof »Börse«. – »Die Leute, welche ihren Feiertag genießen wollen, fahren bereits früh aus,« entgegnete mein Karl, »halb Berlin wird draußen im Freien sein.«

Ich wollte ihm meine entgegengesetzte Meinung ausdrücken, da fuhren wir schon in den Bahnhof Friedrichstraße ein. Und so dampften wir aus Berlin heraus am Zoologischen Garten vorbei nach dem Stadtbahnhof Charlottenburg, und von da gingen wir zu Fuß unter dem Viadukt durch, über die Haide nach dem Halensee.

»Kinder,« sprach ich, »seht doch, was Alles hier auf der Haide blüht« und wollte mir ein bescheidenes Blümchen pflücken, wie das auf Landpartien so Stil ist, aber ich kam doch zur Ansicht, daß, wenn die Natur zu dicht bei der Stadt liegt, sie nicht mehr unverfälscht bleibt, weil die Menschen überall ihre Spuren zurücklassen: ein einziges Butterbrodpapier, eine einzige Eierschale nimmt dem ganzen Tableau seinen unschuldigen Ausdruck. Es giebt eben zu viel schlechterzogene Menschen, namentlich im Freien.

Unser Ziel war das Wirthshaus am Halensee, denn aufrichtig gesagt, Bernau und Biesenthal habe ich satt, die Festverpflegung ist da zu grimmig und grüner sind die Bäume dort auch nicht, wogegen am Halensee nicht nur bestes Bier auf Eis liegt, sondern Ozonquellen ersten Ranges sein sollen. Außerdem kannten wir den Wirth persönlich, der mir schon im Winter sagte, wenn ich hinauskäme, sollte ich extra ausgesuchten Protektionsspargel bekommen. Er hatte dies zwar, wie wir erfuhren, vielen von seinen Bekannten versprochen, aber es giebt ja dicken Spargel genug auf der Welt, und das ist ein großes Glück für die Restaurateure, wie für das Publikum.

Es waren viele Leute draußen, aber wir erhielten einen netten Tisch mit entzückender Aussicht auf den See, auf dem die Gondeln nur so herumlavirten. Hin und wieder fuhr ein Bahnzug am Horizont durch die Natur, während der Vordergrund, wie die Poeten sagen, anmutig mit weißbeschürzten Kellnern und festlich geschmückter, anständiger Gesellschaft belebt wurde.

Wir bestellten gleich Spargel im Voraus, zähmten uns ein Glas 'Echtes' und promenirten dann in dem Park. Es war wirklich amüsant und ich kann wohl sagen, unsere gewählte Toilette fiel gebührend auf. Auch die Kegelbahn besuchten wir und dort fanden wir zu unserem freudigen Erstaunen gute Bekannte, nämlich Herrn Kleines, Herrn Theophile, einen Hamburger Doktor, der uns vorgestellt wurde und sich als sehr gebildet erwies, und noch einige Andere. Und wer saß, als wir kamen, an dem Anschreibepult? – Dr. Wrenzchen! – ich begrüßte ihn herzlich, aber er kam nicht heran, sondern nickte nur ängstlich lächelnd mit dem Kopfe. Alle Anderen waren so artig, uns zu bekomplimentiren, aber er blieb sitzen, als wäre er festgenagelt, was ich natürlich sehr rücksichtslos fand. Nun luden sie meinen Karl ein, mitzukegeln, aber er lehnte ab, weil ja schon eine gerade Anzahl Spieler vorhanden sei, worauf der Doktor ihm gerne seinen Antheil einräumen wollte. »Ach,« sagte ich, »wenn Sie doch nicht mitwerfen, lieber Doktor, dann fahren Sie uns ein bischen im Boot, ich weiß, Sie segeln gerne.« – Er wurde ganz verlegen und machte allerlei Ausflüchte, und seine Kameraden, namentlich ein Herr King, lachten sehr verschmitzt, daß mir nichts übrig blieb, als meinen Karl, der schleißlich nicht übel Lust zum Kegeln zeigte, etwas energisch unterzuhaken und fortzuziehen.

»Du siehst, daß man uns dort nicht haben will,« sagte ich erbost. »Der Doktor setzt die einfachsten Anstandsregeln bei Seite, er steht nicht einmal auf, wo er doch die schöne Kalbskeule bei uns verzehrt hat, und Herr Kleines wollte schon Lachkrämpfe kriegen, als ich den Doktor ironisch zum Gondeln aufforderte. Die heutige Jugend ist Pöbel, das ist meine Meinung.«

Mit einem Worte, ich war sehr erzürnt. – »Tob' Dich nur aus, Mine,« sagte mein Engels-Karl, »sonst bekommt es Dir nicht gut.« Ach, wo giebt es einen Mann, der so zartfühlend ist, wie mein Karl? Ich wollte jedoch noch einige Bemerkungen machen, die gerade nicht von Zuckerkante waren, als mir das Wort im Munde stecken blieb, wie eine zu heiße Kartoffel. Denn vor dem Parkthor hielt eine Equipage und in der Equipage saß die Bergfeldten! Die Bergfeldten in blauer Seide, bramsig in die Kissen zurückgelehnt, wie eine reife Katharinenpflaume, und neben ihr eine ältere magere Dame. Auf dem Rücksitze saß Herr Bergfeldt mit einem jungen Mädchen, das, der langen Nase nach zu schließen, die Tochter der Mageren vorstellte. Emil hatte auf dem Bock Platz genommen und sah so kühn in die Welt hinaus, als hätte er das große Loos gewonnen.

»Die fahren Equipage und wir Stadtbahn Dritter,« rief ich, aber weiter kam ich nicht, denn die Betti war weiß wie der Tod geworden – »Betti!... Kind!« rief ich. »Was ist Dir? – Karl, hole den Doktor! Schleife ihn an der Kravatte von der Kegelbahn, Du siehst, er ist nothwendig!« – Mein Karl stürzte ab. – »Betti, Du erschreckst mich, was fehlt Dir, mein liebes Kind? Ich will ja Alles verzeihen.« – – – – »Es ist schon vorüber,« sagte Betti. »Ich weiß nun genug. Sei unbesorgt, liebe Mutter. Du siehst, ich bin wieder ganz munter.« – »Wir wollen nach Hause,« sagte ich. – »Nein, wir bleiben,« entgegnete sie fest. »Er soll nicht sagen, daß ich um seinetwillen mich auch nur eine Minute gegrämt hätte.« – »Wer?« – »Er, den ich jetzt hasse ... Emil!« –

Mein Karl kam retour, aber ohne den Doktor. »Wenn es dunkler geworden wäre, wollte er erscheinen,« sagte mein Karl. – »Er braucht sich unsertwegen nicht zu inkommodiren,« erwiderte ich spitz. »Übrigens ist er auch nicht mehr vonnöthen. Und daß ich es Dir nur kurz sage, Betti ist mit Emil auseinander, und das kann uns nur recht sein; ich hatte so wie so nie Etwas mit dieser poweren Familie im Sinn. Unsere Betti an einen so habenichtsigen Zukunfts-Referendarius wegplempern! Das fehlte gerade. Morgen schreibst Du an Bergfeldt, daß wir die Verlobung aufheben, oder besser, ich bringe es ihr bei, daß ihr die Ohren summsen wie ein Telegraphendraht.«

»Und was sagst Du dazu, Betti?« fragte mein Karl, indem er ihren Arm nahm und sie an sich zog. – »Möge Emil mit der jungen Dame glücklich werden, der er seine Neigung zugewendet hat, und sie ... mit ihm!« antwortete sie.

»Also wegen einer Anderen!« rief ich. »Wegen der langen dürren Person, die im Wagen saß? Wegen so einer Mamsell, so einem Knochenspinde. Na warte!«

Ich glaube nicht, daß man meine Stimmung hätte huldreich nennen können, aber doch war ich gewissermaßen froh, einmal weil ich wußte, warum Betti sich in der letzten Zeit gegrämt hatte, und zweitens, weil es nun mit Bergfeldts gründlich aus sein würde. – Wir blieben noch, um unseren Spargel zu essen, nachher kam auch Herr Kleines, der die Kinder sichtlich durch seine Erzählungen aufheiterte, aber wir gingen doch früher, als wir ursprünglich wollten. Spargel mit Ärger gegessen, liegen wie Blei im Magen und wenn sie noch so delikat sind. – – – –

Zu Hause fand mein Karl einen Brief von Herrn Bergfeldt vor. Vier Seiten lang. Drei Seiten nur Hin- und Hergeziehe und zuletzt die Bemerkung, sein Sohn müßte nach einer wohlhabenderen Partie aussehen und die biete sich ihm. Die Verlobung mit Betti sei auch nur ein unbesonnener Jugendstreich. Unsere Betti könnnte ja viel bessere Partien machen, als ihren Emil. – »Das hat sie ihm diktirt!« rief ich.

Wie lange ich sehr im Zorn war, weiß ich nicht, aber es war für Bergfeldts vortheilhaft, daß sich Keiner von der ganzen Sippe sehen ließ, denn es lag etwas wie ein Unglück in der Luft. Betti war am gefaßtesten! Sie erzählte, wie sie allmälig eine Umänderung Emil's im Benehmen gegen sie bemerkt habe, wie die Bergfeldten von den schlechten Aussichten der Juristen und reichen Partien gesprochen und wie sie längst schon gefühlt, daß es aus sei. Und nun, da sie Gewißheit habe, sei sie ruhiger und zufriedener als je zuvor. – Das besänftigte mich wieder.

Als ich mit meinem Karl allein war, besprachen wir uns ernst. Auch er hielt dafür, daß die Lösung der Verlobung das Beste sei.

»Wäre es nach mir gegangen, so hätten Betti und Emil sich nie verlobt,« rief ich, – »daran sind nur Onkel Fritz und Dein weiches Herz Schuld. Und dieser Doktor,« fügte ich hinzu, »kann auch bleiben, wo er ist. Eine solche Unhöflichkeit ist mir noch nicht passirt. Kommt nicht zu mir, nicht einmal zu dem kranken Kinde.«

»Er konnte nicht, Wilhelmine, mit dem besten Willen nicht.«

»O, wenn er nur hätte wollen.«

»Er konnte wirklich nicht.«

»Warum nicht?«

»Er hatte die Hose beim Kegeln zerplatzt. Im Übrigen legt er Dir und den Töchtern die devotesten Huldigungen zu Füßen.«

Es freute mich, daß der Doktor durch triftige Gründe verhindert gewesen war, aber warum nimmt er sich einen Schneider, der zu eng arbeitet? Das muß anders werden. – Den nächsten Tag kam er jedoch bei uns heran, um sozusagen eine Entschuldigungsvisite von Stapel zu lassen, was ich gebührend aufnahm. Gleichzeitig gebrauchte ich die Gelegenheit, ihm zu sagen, daß meine Nerven sich in Zerrüttung befänden. Er empfahl mir, spazieren zu gehen, da er mich für ein Rezept noch nicht herunter genug schätzte.

Das that ich auch, aber das Mittel war wohl nicht richtig gewählt, denn nach und nach überkam mich eine Unruhe, die nicht weichen wollte. Im Schlafe und im Wachen sah ich nämlich Kinder vor meinen Augen, viele kleine Kinder, daß sie gar nicht zu zählen waren. Hiergegen verordnete er mir Marienbader, der ihm stets vollendete Dienste leiste. »Doktor,« fragte ich, »sehen Sie denn auch zuweilen bei Tag und bei Nacht Kinder?« – »Nein,« sagte er. – »Na,« sagte ich darauf, »dann bleiben Sie mir nur mit Ihrem Marienbader vom Leibe!« – Hierauf empfahl er mir wieder fleißige Spaziergänge und ging einen Kunden weiter.

Als er fort war, legte ich mir die Frage vor: Was ist doch eigentlich die Medizin? – Viel ist sie nicht, denn wenn man den Ärzten nicht Alles selbst sagt, wissen sie auch nichts. Dr. Wrenzchen hätte doch sofort ahnen müssen, daß es nämlich gerade die Spaziergänge waren, denen ich mein Leiden verdankte.

Es ist ja ganz einerlei, wohin man geht: vor den Thoren und in der Stadt, überall, wo nur ein größerer Platz ist, da grimmelt und wimmelt es von Kindern. Im Thiergarten, im Friedrichshain, im Humboldtshain, auf dem Mariannenplatz bei Bethanien und ganz besonders auf den Belle-Alliance-Platz, da sieht es aus, als käme es auf eine Hand voll Kinder mehr oder weniger gar nicht an. Von allen Sorten, von jedem Alter, von jeder Größe, von jeder Farbe sind da, die Hunderte und die Tausende. Viele werden ja noch auf dem Arm getragen, und manche liegen zu zweit und auch zu dritt im Korbwägelchen, aber die meisten sind doch schon so weit, daß sie laufen können. Und das krabbelt und wühlt und schwankt und wankt daher, wie kleine Kähne, die man zu voll geladen hat, und das fällt und steht wieder auf, das lacht und schreit und weint und quarrt, das stößt sich und das haut sich, das ißt und trinkt und weiß nichts vom hellichten Tage.

Wenn man nun die bloßbeinige Gesellschaft sieht, die Schlafenden, welche schon müde von der Luft sind, die Spielenden, welche in den Sandhaufen buddeln und Alles um sich her im Eifer der thörichten Arbeit vergessen, die Laufenden und die sich Haschenden, die Masse von unschuldigen, kleinen Erdenwürmern, dann kann es Einem heiß überlaufen und plötzlich ist es, als wenn Jemand fragt: »Was soll aus all' diesen Kindern werden?«

Über die Jungens will ich mir keine Sorge weiter machen, die lernen das Ihrige, werden Soldat und müssen zusehen, wie sie durchkommen, denn als Rentiers werden doch wohl nur die wenigsten geboren. – Aber die kleinen Mädchen ... da hapert's.

Früher, als ich jünger war, da wußten wir nicht anders, als daß wir Mädchen verheirathet würden, wenn es an der Zeit sei, und nur, wenn Eine einsah, daß sie doch wohl leer ausgehen würde, dann belernte sie sich als Gouvernante oder so etwas Ähnliches, und war dies nicht, dann gab es immer noch so viel Angehörige und verwandte Familien, daß sie sich um ihr Sterbekleid keine Sorge zu machen brauchte. Die Tanten hatte man immer gern und sie waren auch nützlich, wenn irgendwo die Familie gerade größer wurde, oder wenn Jemand krank lag oder die Frau gestorben war, und wo sie sonst überall verwendet werden konnten. – Jetzt aber werden nicht mehr Familien gegründet, als eben nothwendig sind, der Familienzusammenhang wird immer dünner, und Alleinstehende giebt es immer mehr. Daher kommt es auch, daß die jungen Mädchen heutzutage schon frühzeitig Gouvernante und dergleichen lernen, als wäre es ausgemacht, daß sie nie heirathen würden.

Früher gab es doch noch Klöster, wo sie Nonnen werden konnten, (obgleich mir dies ja nie eingefallen wäre), wenn man anfing, in der Welt mit ihnen herumzustoßen; jetzt lernen sie von Klein auf solche Herumstoßgeschäfte, wie Lehrerin, Malerin, Holzschnitzerin und so etwas. Musik ist ja derart im Preise gesunken, daß es nicht werth ist, damit anzufangen, und die Erfahrungen, welche ich in dieser Beziehung mit Emmi machte, können mich nur in meiner Abneigung bestärken. Das Klavier ist ein Hausthier, das mit seinen weißen und schwarzen Zähnen viel zu viel Zeit frißt und obendrein Geld verschlingt, statt daß es Nutzen schafft.

Betti will nun auch etwas werden, entweder Gouvernante oder Malerin, sie weiß nur noch nicht, wozu sie die meiste Neigung hat, sie will es machen, wie so viele junge Mädchen, die arbeiten, arbeiten, arbeiten, damit sie ihr Leben haben, oder damit ihr Leben irgendwo nach aussieht.

»Betti,« sagte ich, »Was willst Du malen oder Kinder erziehen, es giebt genug für Dich in unserm Hausstand zu thun!« – Da sagte sie blos »Hausstand?« mit einem verächtlichen Ton, und zog die Oberlippe hoch, daß ich sofort schwieg, denn in solchem Fall ist alles Reden für die Katze. Das Nasenrümpfen, das Lippenziehen über Geringes und das Hochhinauswollen taugt nicht; warum kann man nicht zufrieden sein mit dem, was man hat?

Die Zufriedenheit ist eine so herrliche Erfindung, daß man die Leute nicht begreift, die Nichts von ihr halten und ohne Ruhe dem Glück nachjagen. Aber mit dem Glück ist es, wie mit dem Bier, es sieht machmal wunderschön aus, allein wenn man es kostet, ist es sauer, und wenn man meint, es liefe aus purer Forsche über den Rand, so ist es schlecht eingeschenkt und eitel Schaum.

Wer weiß, was das Schicksal all dem kleinen spielenden Volk einschenkt, wenn es hinaus muß in den Kampf um's Dasein, wie sie das Leben jetzt nennen, und der ja auch Mode bei den Mädchen geworden ist? Wenn ich die vielen Kinder sehe, dann denke ich auch an meine beiden: es geht mir durch und durch, und ich möchte laut aufschreien. Wenn's nicht noch einen Herrgott im Himmel gäbe ... es wäre zu gräßlich auf dieser Welt.


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