Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Von der Charakteristik

Charakteristik heißt jetzt das Losungswort. Nach ihr schaut der literarisch gebildete Leser zuerst aus; sie nimmt der Kritiker zum Prüfstein über den Wert eines Werkes, sie wird dem Dichter zur Pflicht gemacht, und zwar so strenge, daß die Voraussetzung für selbstverständlich gilt, jeder Dichter müsse in jedem Werke jede Figur charakterisieren. Oder etwa nicht?

Gut. Nun halten Sie einmal folgende zwei Tatsachenreihen einander gegenüber:

Zur Linken. In hundert Städten Deutschlands schildern Hunderte von Schriftstellern alljährlich Hunderte von Charakteren, die einen besser, die andern schlechter; selten verfehlen sie einen Charakter gänzlich, meistens gelingt es leidlich und in einer überraschend großen Zahl von Fällen sogar glänzend. In allen unseren Literaturberichten finden wir auffallend oft das Lob, daß, wenn nicht alle, doch dieser oder jener Charakter »meisterhaft durchgeführt« sei; »prächtige Gestalten«, »herrliche unvergeßliche Figuren« wachsen in unseren Erzählungen so zahlreich wie Löwenzahn auf der Wiese. Selbst wenn der Kritiker ein Werk verdammt, muß er meistens für die gelungene Schilderung irgendeines Charakters eine Ausnahme machen. Sehen wir dann nach fünf Jahren nach, wo alle diese Millionen meisterhaft geschilderter Charaktere geblieben sind, so finden wir sie samt dem Werk, darin sie standen und dem Verfasser, der sie geschaffen, im Orkus der Vergessenheit. Angesichts dieser Tatsache urteilt meine Logik: was ein Werk nicht vor dem Untergang schützt, also die meisterhafte Charakteristik, kann nicht eine Hauptsache, nichts für die Poesie Wesentliches sein. Denn wesentliche Vorzüge retten trotz aller übrigen Fehler.

Zur Rechten. Die Poesie ganzer Völker und Zeitalter weiß nichts von dem Streben nach Charakteristik. Jeder Dorfschriftsteller charakterisiert besser als Sophokles und Homer, als Corneille und Racine. Dem Nibelungenlied meinte ein Jordan die Charaktere nachbessern zu müssen. Und die Männercharaktere bei Goethe und Keller? oder die Frauengestalten bei Schiller? Das macht ja jeder Benz besser. Dennoch ist Benz kein Großer, aber Sophokles und Homer, Schiller und Goethe, Corneille und Racine sind es. Meine Logik sagt: was man ohne Schaden vernachlässigen oder gar verfehlen kann, ist keine Hauptsache, ist nichts Wesentliches.

Schluß. Die Charakteristik ist weder eine zentrale noch eine obligatorische Aufgabe der Poesie, sondern eine Nebenaufgabe an einem Seitenplatz. Ihr Platz ist die Prosa, also die Wirklichkeitserzählung und das realistische Drama, ferner der Humor, die Komik, die Satire, in der hohen Poesie die Schilderung untergeordneter Figuren. Unsere geschäftige Charakterfabrik aber ist eine Dilettantenmühle.


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