Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Fleiß und Eingebung

Zur Psychologie des dichterischen Schaffens

Die Unentbehrlichkeit energischer Arbeit nach der Eingebung braucht nicht mehr bewiesen zu werden, da nur Kinder und Kindeskinder heutzutage noch glauben, Kunstwerke kämen einem fertig in die Feder geflogen. Ich möchte jedoch hier darauf aufmerksam machen, daß der Fleiß auch als Vorarbeiter und Bahnbrecher der Inspiration eine wichtige Rolle spielt, daß der alte Rat, die Stimmung oder die Eingebung abzuwarten, besser durch den entgegengesetzten, die Stimmung und Eingebung zu ertrotzen oder anzulocken, verdrängt werde.

Ich muß freilich sofort gewichtige Vorbehalte zur Verhütung von Mißdeutungen aussprechen. Hervorragendes Dichtertalent bildet natürlich die unerläßliche Voraussetzung, denn wo solches fehlt, weiß ich überhaupt bloß eine einzige zweckmäßige Schaffensregel: aufzuhören. Ferner bezieht sich der Wert des Fleißes als einer Vorarbeit gewiß nicht auf den Entwurf eines Werkes, da gerade hier die Eingebung und der Grad ihres Wertes alles entscheiden, so daß nicht einmal die bewunderungswürdigste Kunst bezügliche Mängel oder Lücken zu ersetzen vermag. Wer ohne genügenden Phantasiezwang an die Arbeit schreitet, ist mit dem betreffenden Werk rettungslos verloren. Die Ureingebung stammt, wie jedermann weiß, aus Seelengegenden, die den Kräften des Verstandes, des Willens und des Geistes weit überlegen sind, und Vorarbeiten gibt es nur mittelbare und passive: vom Leben tüchtig geschüttelt zu werden. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, indem ich die erste Eingebung, wie gewaltig sie auch sei, für unzulänglich halte, wie es denn die Jugend hauptsächlich darin versieht, daß sie unmittelbar nach einem begeisterten Entwurf an die Arbeit schreitet. Vielmehr sind, ehe ein Plan für arbeitsreif kann erachtet werden, noch eine ganze Menge ergänzender Konzeptionen untergeordneten Ranges notwendig und zwar, grundsätzlich gesprochen, für jede Szene eine besondere, bis eine fortlaufende Kette von Bildern unabwendbar vor der Phantasie bestehen bleibt; dann erst ist das Werk vor den Anfang angelangt; dann aber pflegt es auch den Patienten derart zu beunruhigen, daß es ihn zur Arbeit zwingt, ob er möge oder nicht. Weil nun jene Untereingebungen sich ebensowenig befehlen lassen, wie die oberste Konzeption, – jeder gewaltsame Versuch führt zu einer unheilvollen Fälschung – sieht sich der Dichter öfters, ja meistens gezwungen, seine wertvollen Pläne jahrzehntelang in den unbewußten Gründen der Seele träumen und keimen zu lassen, bis sich verwandte Untereingebungen in genügender Zahl und Fülle von selbst angesetzt haben. Wer zu früh beginnt, beraubt bei aller Kunst den Stoff seiner schönsten Erträgnisse. Darum bildet die Sorge um die Erkenntnis des Reifezustandes eines Planes eine der größten Nöte des Künstlers.

Nachdem jedoch einmal die Arbeit in Angriff genommen worden ist, hat der ganze Mensch mit angespanntester Tätigkeit seiner gesamten Geisteskräfte, den Verstand voran, sich mit dem Werke zu befassen und vor dem Schlusse nicht zu ruhen. Ich halte Unterbrechungen, behagliches Versuchen oder längeres Wählen während der Ausarbeitung nicht für ersprießlich. Hier gebührt, wie ich glaube, dem Fleiß ein höheres Recht, als man ihm einzuräumen pflegt. Bei weitläufig veranlagten Plänen nämlich wird selbst bei der besten Vorbereitung, trotz aller Kühnheit des Willens und aller Echtheit der Begeisterung, trotz zahlreichen Augenblickseinfällen sich über kurz oder lang plötzlich ein schlimmer Haken ergeben, sei es, daß eine bisher unbemerkte Schwierigkeit aus einer Falte des Stoffes an den Tag kriecht, sei es, daß Körper und Stimmung nach monatelanger Anspannung den Dienst versagen, sei es, daß man durch unabweisbare Ansprüche des äußeren Lebens abgehalten und aus dem Zusammenhang gerissen wurde, wonach sich der frühere Schaffenshochmut nicht in dem nämlichen Grade wieder einstellen will. In solchen Fällen nun nachzugeben und die Rückkehr von Lust und Stimmung abzuwarten, halte ich für nicht richtig, obschon dieses Verfahren von berühmten Dichtern geübt und empfohlen worden ist. Das Verfahren ist allerdings vorsichtig und sicher, allein es ist nicht groß; hätten die Musiker des vorigen Jahrhunderts und die Maler des 15. Jahrhunderts nach diesem Grundsatze gehandelt, so würden wir um die Hälfte ihrer Werke verkürzt worden sein. Ließe sich nicht eine ähnliche schnelle Treffsicherheit in der Ausarbeitung ebenfalls beim Dichter denken? Ich wage es zu glauben und zu hoffen. Wenn mich aber meine Hoffnung nicht täuscht, dann kann einmal unter günstigen Umständen die Welt das Schauspiel von Dichtern erleben, welche die Fruchtbarkeit der großen Maler und Musiker erreichen, das heißt das bisherige Maß dichterischer Produktion um das Dreifache übertreffen, denn was die fortlaufende Reihe der Werke unterbricht, ist weder der Mangel an vorrätigen Inspirationen ersten Ranges (große Künstler haben stets das Magazingewehr voller Patronen), noch die nötige Reifefrist (es geht wie bei den Orangen: sie reifen zwar langsam, aber es befinden sich immer einige reife im Busch), sondern einesteils das Ringen um die Kunstform, andernteils das Zaudern und Wählen in der Ausarbeit. Das erstere kann einem durch rechtzeitige Geburt in einem bevorzugten Zeitalter erspart werden, wo man feste Kunstformen bereits vorfindet, das zweite ist Sache der Energie, welche freilich nicht den hygienischen Regeln Niemeyers entspricht.

Meine Meinung lautet mithin: Nach Beginn der Arbeit dürfe man weder auf die jeweilige Stimmung Rücksicht nehmen, noch vor irgendeiner Schwierigkeit abbiegen, noch überhaupt sich irgendeine Pause gestatten, sondern die Vollendung kurzer Hand erzwingen. Ist dies jedoch möglich und, wenn möglich, nützlich? Die Kürze soll mich nicht hindern, diese Frage deutlich zu beantworten. Die Eingebung, obwohl sie stets überraschend und ungerufen eintrifft, ist gleichwohl von dem Gedanken nicht so unabhängig, wie man gewöhnlich annimmt; im Gegenteil dient die Denkarbeit dazu, die Phantasie mit befruchtenden Elementen zu füllen, aus welchen sich eines unvorhergesehenen Augenblicks das Visionsbild entladet wie der Blitz aus der schwangeren Atmosphäre. Die Arbeit ist also eine Blitzanleiterin oder, um ein Bild zu gebrauchen, ein Pflug, der allerlei gute schlummernde Dinge aufrührt, welche unter der Einwirkung der ewig tätigen Phantasie im Flug aufleuchten. Die Tatsache, daß während oder unmittelbar nach einer kräftigen Arbeit die schöpferische Phantasie in größerem Maße sich gegenwärtig und willig zeigt, als im träumerischen Ruhezustande, wird schwerlich ein Künstler bestreiten; ferner lehrt die Erfahrung, daß neue Eingebungen um so reicher zuströmen, je kräftiger ein Künstler die alten Eingebungen erledigte, je fleißiger er sein Lebtag arbeitete, folglich muß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arbeit und Eingebung walten.

Nun wird zwar ohne jeden Zweifel die Eingebung nicht an der Stelle erfolgen, wo ich sie begehre und brauche, und der Versuch, mit dem Willen und dem fleißigen Denken eine Schwierigkeit erfreulich zu überwinden oder eine bestimmte Lücke der Phantasie schön auszufüllen, wird ganz gewiß mißlingen. Dennoch werde ich gegebenenfalls die Arbeit mit ganzer Kraft leisten, weil sich während derselben Visionen einstellen werden, die einem andern Teil des Werkes zugute kommen, an welchen ich augenblicklich gar nicht denke. Ich glaube nämlich folgendes Gesetz der Visionsphänomene bestimmen zu können. Niemals taucht eine Vision an demjenigen Punkt auf, nach welchem der Schaffende die Aufmerksamkeit gerichtet hat, wohl aber rückwärts und vorwärts auf der Bahn des Werkes, und zwar in einer Menge, welche der Energie der Arbeit proportional ist. Ich nenne das für meinen Hausgebrauch das Gesetz der ricochetierenden Phantasie. Die Arbeit breitet Fangnetze aus, in welchen eines schönen Morgens die Visionen zappeln. Aus diesem Grunde unternehme ich unbedenklich bei der wüstesten Stimmung die Arbeit. Denn was ist Stimmung? Nervensache; die künstlerische Phantasie aber ist nicht Nervensache, sondern eine heilige Sache. Eine schöne und wahre Legende läßt den Dichter von der Muse ungerufen besuchen. Allein noch schöner und wahrer ist es, wenn der Dichter den Besuch erwidert und sich nicht davon abschrecken läßt, daß er die Muse einmal nicht zu Hause trifft. Oder, prosaisch gesprochen: in einem guten Stoff liegt die Kunststimmung stets enthalten; wer mithin die Nervenstimmung überwindet, findet jene sicher, sobald er sich wieder in den Stoff eingelebt hat.

Vollends darin würde sich einer schwer irren, wenn er einen Rat der Eingebung in solchen Schwierigkeiten erwartete und abwartete, welche die Komposition betreffen, wenn er also z. B. vor scheinbar unentwirrbaren Verwickelungen oder vor der Nötigung einer Auswahl zwischen anscheinend gleichwertigen Motiven das Werk bis auf weiteres beiseite legte. Diese Dinge liegen nämlich außerhalb des Bereichs des Unbewußten. Es gibt keine komplizierten Visionen. Visionen sind stets einfach, absolut, sie können nicht entwirren, sondern und trennen, wählen, ordnen und sammeln, sie können weder Beziehungen erfinden, noch Erläuterungen hinzufügen; sie erstrecken sich niemals über die Grenzen einer einzigen räumlich klar umrissenen Szene hinaus und vermögen zeitlich oder räumlich Getrenntes nicht zusammenzufassen, ja, wenn wir genau beobachten, erscheinen sogar Personen und Sachgruppen innerhalb eines Zeit- und Ortrahmens nur dann der Vision zugänglich, wenn dieselben leicht übersichtlich vereinigt sind. Es muß demnach mittels der Gedanken- und Willensarbeit das kompositorische Hindernis zuvor insoweit überwunden werden, daß allereinfachste räumliche und zeitliche Verhältnisse vorliegen, ehe man von der Eingebung ein poetisches Bild erwarten darf. Freilich, während man das erstere tut, wird meistens schon die Phantasie in die frischgeschaffene Klarheit so begierig herbeigesprungen kommen, wie ein Kaninchen in eine duftende Salatkiste.

Soweit meine bescheidenen, persönlichen Erfahrungen. Da ich jedoch nicht über private Naturgesetze verfüge, vermute ich, es werde anderswo ähnlich zugehen.


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