Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Vom Realstil

1901

Der Realstil an seinem richtigen Platze, wenn er mit Überzeugung und Gewissen gehandhabt wird, ist nicht etwa eine modische Verirrung, über welche man verächtlich hinwegsehen dürfte, sondern eine ernsthafte Ausdrucksform des künstlerischen Geistes, welche geprüft und versucht sein will. Wobei man finden wird, daß es gar nicht so leicht ist, die Natur zu photographieren. Sein Leitstern ist, wie Sie wissen, die rücksichtslose Wirklichkeitswahrheit. Wirklichkeitswahrheit aber, wenn sie auch nicht der poetischen Wahrheit ebenbürtig ist, hat immerhin ihren Wert, Lehrwert, Studienwert, ja, unter Umständen Heilswert. Sie liefert Dokumente, Skizzen und Modelle und kann bei chronischer literarischer Krankheit eines Zeitalters heilsam wirken, indem sie den Ernst in die Literatur zurückführt. Denn alle Wahrheit ist ernst. Mit seinem Ernst schlägt der echte Realstil die Verirrungen ins Süßliche oder Matte, Konventionelle oder Pseudo-Ideale siegreich aus dem Felde. Denn Wahrheit, selbst die bloße Wirklichkeitswahrheit, ist immer eines Mannes Gedanken wert, während Hirngespinste mittelmäßiger Köpfe, also z. B. konventionelle Lyrik oder schablonenmäßige Romane und Dramen nicht denkenswert sind. Der Durchschnittsrealist ist dem Durchschnittsidealisten weit überlegen.

Jedes Buch, das im echten Realstil, ich meine mit ehrlicher, selbstvergessener Wirklichkeitstreue geschrieben ist, kann man lesen. Ich gestehe sogar, daß ich persönlich im Gebiete der prosaischen Erzählung nichts anderes lesen mag.

Ich sage: der prosaischen Erzählung. Denn naturgemäß beschränkt sich der Realstil, weil er Wirklichkeitsstil ist, auf die Prosa und kann in der Poesie nur episodisch verwertet werden.

Nun zum Realismus oder Naturalismus.

Wer im Realstil schreibt, ist deswegen noch kein Realist, so wenig wie einer, weil er Gemüse ißt, darum schon Vegetarianer ist. Sondern Vegetarianer ist, wer nichts als Gemüse zu essen erlaubt; Realist, wer keinen andern Stil als den realistischen anerkennt, wer ihn als Universalmittel der gesamten Literatur aufdrängen möchte. Hiermit beginnt der Unsinn.

Den Realstil in Konkurrenz mit der Poesie setzen oder gar mit ihm die Poesie verdrängen zu wollen als eine Art Panrealismus ist eine Ungeheuerlichkeit, deren sich bloß Beschränktheit oder Unehrlichkeit oder beides vereinigt schuldig machen kann. Nationale Beschränktheit oder persönliche. National, mit dem Nihilismus verwandt, bei Russen und Skandinaviern, persönlich bei den Goncourt und Zola und ihren Trommlern. Wo wir Beschränktheit haben, haben wir natürlich auch den Fanatismus.

Grauenhaftere Pedanten hat die Welt nicht gesehen, als die Naturalisten.

Im deutschen Panrealismus haben wir weniger ein Gebilde der Beschränktheit als der Streberei vor uns. Es gibt in Deutschland kaum einen echten Realisten (und es kann auch nach Goethe und Schiller keine solchen geben), was sich schon dadurch verrät, daß sie alle früher oder später von ihrem fanatisch gepredigten Evangelium abfallen. Der deutsche Realismus war nie eine Überzeugung, sondern nur eine Maske, unter welcher sich alles mögliche Gift, vor allem das Gift gegen Schiller und die hohe, ideale Poesie sammelte und verbarg. Gegenwärtig ist er verendet. Er war den Leuten zu lästig und zu schwierig.

Wenn der Realismus mit Recht und mit Erfolg den falschen Idealismus bekämpft, so unterliegt er schmählich, sobald er sich an den echten Idealismus, also die Poesie selbst, wagt. Wie himmelhoch der echte Idealismus dem Realismus überlegen ist, zeigt am besten die Tatsache, daß von jeher die besten realistischen Werke von Idealisten geschrieben wurden.

Kein Drama eines Realisten erreicht an realistischer Kraft und Größe »Kabale und Liebe« des Idealisten Schiller.

Kein Roman eines Realisten erreicht die realistische Meisterschaft der »Madame Bovary« des Idealisten Flaubert.

Also der Idealist muß dem Realisten zeigen, wie man realistisch schreibt.

Umgekehrt, wenn ein Realist sich auf das idealistische Gebiet wagt, so setzt es erbärmliche Pfuschereien ab. Er platscht in den nächsten Pfuhl des Aberglaubens, wird bigott oder spiritistisch oder sonstwie närrisch.

Die Kunstformen des Idealismus wagt er nicht einmal probe- und vergleichsweise zu versuchen, so sicher fühlt er das schmähliche Mißlingen voraus.

Immerhin ist zu bemerken, daß da, wo der Realismus auf nationaler Grundlage ruht, also bei Russen und Skandinaviern, wenn auch nicht Meisterwerke der Weltliteratur, doch eine Fülle von skizzenhaften Beobachtungen und Expektorationen hohen Dokumentenwertes entstehen. Dort, bei den Garschin und Gorki und Hamsun muß man den echten Realstil suchen.

Dagegen bei den pedantischen Realisten der Theorie innerhalb der alten westeuropäischen Literaturnationen ist wenig zu holen.

Ich resümiere: Es sollte jeder Schriftsteller sich gelegentlich auch im realistischen Stil versuchen, um zu erfahren, was daran ist. Die Nation aber, wenn sie über das Verhältnis von Idealismus und Realismus ins reine kommen will, wird besser daran tun, wenn sie sich bei denen erkundigt, die beides können, als bei jenen, die keins von beiden können.


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